Theorie Bis zu seinem Suizid war Mark Fisher einer der einflussreichsten Kapitalismuskritiker. Sein Denken ist bis heute hochaktuell. Das zeigte er auch in seinem letzten Seminar in London – das nun in Schriftform vorliegt
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Der Montagmorgen ist bekanntlich ein Sinnbild der alltäglichen Mattheit im – äh – spätkapitalistischen Zeitalter. Umso passender war die Wahl des Montagmorgens für das letzte Seminar des ikonischen britischen Kulturtheoretikers Mark Fisher 2016/17 am Goldsmith College der University of London. „Postcapitalist Desire“ hieß es und setzte sich keine geringere Aufgabe, als die Krise der Linken zu erfassen: Einerseits besteht der Wunsch, den Kapitalismus zu überwinden, andererseits wird die Unterdrückung selbst begehrt. Der kürzlich im Brumaire Verlag erstmals auf Deutsch erschienene Band Sehnsucht nach dem Kapitalismus bringt diese Doppeldeutigkeit auf den Punkt.
Tragischerweise bricht das Seminar unvollendet in der Mitte ab. Als s
der Mitte ab. Als sich die Studierenden nach den Winterferien im Seminarraum einfinden, erfahren sie, dass ihr Lehrer sich kurz zuvor das Leben genommen hat. Seit seiner Jugend litt Fisher an Depressionen, wollte sie allerdings nicht allein als „Gespenster seines Lebens“verstehen. Vielmehr erkannte er in der Krankheit das Gespenst einer ganzen Gegenwart, die im „rasenden Stillstand“ feststecke und das Leiden daran als individuelles Schicksal verkläre.Melancholie der LinkenGefangen in Unruhe ist die kapitalistische Gesellschaft nicht nur, weil sie manche enorm reich und andere bettelarm oder deprimiert macht. Sondern auch, weil sie den Menschen die Fantasie darüber raubt, wie ein gerechteres Miteinander aussehen könnte. „There is no alternative“, predigte die britische Premierministerin Margaret Thatcher in den 1980ern. Gerhard Schröder tat es ihr hierzulande später gleich. Unter Perspektivlosigkeit leidet neben der einzelnen Psyche aber auch linke Politik. Es habe sich eine „linke Melancholie“ ausgebreitet, so Fisher. Kein Wunder: Während die Predigt der Alternativlosigkeit ihr die Zukunft versperre, habe die Erfahrung des totalitären Staatssozialismus ihr auch die Vergangenheit als Vorbild verwehrt. Deshalb verliere sich die Linke allzu oft in Wundenschau. Oder in der Selbstzerfleischung. 2013 verließ Fisher, der sich nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Schriftsteller und Blogger einen Namen gemacht hat, die sozialen Medien mit dem resignierten Essay Raus aus dem Vampirschloss. Der Text klagt einen „inquisitorischen Moralismus“ innerhalb der Linken an. Anstatt sich solidarisch gegen die Zukunftslosigkeit zur Wehr zu setzen, würden linke Gruppen all ihre Kräfte im Kampf gegeneinander verausgaben. Eine weise Voraussicht auf das folgende Jahrzehnt medialer Grabenkämpfe.Über weite Strecken ist das Seminar ein geduldiges Gespräch des Lehrers Fisher mit seinen Studierenden über komplizierte Texte. Manchmal gibt er ganz uneitel zu: „Tut mir leid, jetzt habe ich eine sehr große Klammer aufgemacht und weiß nicht mehr, wo ich war.“ Seine Fähigkeit, auf humorvolle Art Theorie, Geschichtsschreibung, Popkultur, Psychoanalyse und politische Fragen zusammenzubringen, hält das Seminar lebendig. Erratisch wird es aber nicht, denn die 1960er und 1970er bilden den Fixpunkt aller Überlegungen: im Sinne ihres großen Potenzials wie ihres Scheiterns.Hatte Fisher die Hippies früher noch abschätzig als naiv-hedonistische „Mittelschichtsfiguren“ verlacht, lässt das Seminar mehr Zwischentöne zu. Zwar hält er fest: Die Gegenkultur ist gescheitert, schließlich dachte sie, allein „peace, love and drugs“ würden soziale Probleme lösen. Dem Neoliberalismus der folgenden Jahrzehnte fiel es daher leicht, ihren Widerstand zu neutralisieren: Arbeit wurde kreativer und flexibler, Selbstachtsamkeit avancierte zum Rezept für das gestresste Leben. An den Verhältnissen änderte sich: nichts.Doch trotz oder gerade wegen ihres Scheiterns liegt das Potenzial dieser Zeit noch brach: Schließlich sei hier der Versuch gewagt worden, „die Arbeiterinnenschaft und die gegenkulturelle Libido gemeinsam zu organisieren“. Meint einerseits, dass feministische, antirassistische und studentische Proteste sich für einen Moment mit denen der Gewerkschaften zusammenfanden. Andererseits, dass unterschiedliche Politikstile aufeinandertrafen. Genau diese explosive Mischung wollte Fisher zu einem „Acid Communism“ ausarbeiten. Sein Traum war, die psychedelische Kultur der Hippies, die mit einem Leben jenseits von Kleinfamilie und Nine-to-five-Jobleben experimentierten, mit der politischen Vehemenz der Arbeiterbewegung zu kombinieren. Denn: Anders zu leben wird erst möglich, wenn Besitz und somit Freiheitsräume gleicher verteilt sind. Schließlich seien die Hippies, so Fisher, nicht nur daran gescheitert, dass der Markt ihre Ideen zu kultigen Lebensratgebern verwässerte, sondern auch daran, dass nach den freien Studienjahren die harte Realität der Lohnarbeit ihre Träume davonblies.Hippies und der KlassenkampfAndersherum betont Fisher, dass eine allzu starre Idee von Klassenkampf von der hippiesken Offenheit profitieren könnte. Das meint nicht nur andere Arten, zusammenzuleben. Sondern auch, eigene blinde Flecken zu erkennen: dass man nicht nur Unterdrückter, sondern zugleich auch Unterdrücker sein kann. Ein weißer Arbeiter profitiert davon, dass seine Frau den Haushalt schmeißt oder der migrantische Kollege weniger Rechte hat. An solcher Ungleichheit festzuhalten, mache ihn anfällig dafür, von rechten Erhaltungsprojekten des Status quo vereinnahmt zu werden.Während die „neue Linke“ also über Klassenblindheit stolpere, verheddere sich die „alte Linke“ in ihren Privilegien. Fishers Blick auf die gescheiterte Revolution der 68er vermisst ein Dilemma der Linken, das heute bedauerlicherweise so aktuell ist wie 2016: Während die Marginalisierten sich gegenseitig im Stich lassen, lachen sich die Mächtigen ins Fäustchen, Allianzen rücken so in weite Ferne.Heute sehen wir das etwa da, wo ein weiblicheres Gesicht der Führungsetage oder ein Schwarzes Gesicht der Adidas-Kampagne als Meilensteine der Emanzipation gefeiert werden. Oder dort, wo der Arbeiterklasse der Kampf um das Fleischbrötchen, das generische Maskulinum und die Entrechtung von Migranten als Verteidigung des „kleinen Mannes“ gegen die Elite verkauft wird. „Teile und herrsche“, so kann man festhalten, funktioniert so gut wie eh und je. Das zeigt sich vor allem daran, dass der Gegensatz zwischen Arbeitskampf und jenen Kämpfen, die als Identitätspolitik verschrien werden, auch in der linken Öffentlichkeit hoch- und runtergebetet wird. Fisher öffnet uns die Augen dafür, dass genau das die Misere ist. Und doch: Die größte Macht der Machtlosen liegt immer noch in der Bündelung ihrer Kräfte.Oder, um es mit Fisher provokant zu formulieren: Die größte Angst der Elite ist, dass „die Arbeiterklasse zu Hippies wird“, sprich: andere Beziehungen und mehr vom Leben will. Und andersherum, dass die Hippies – oder heute: die sogenannten Identitätspolitischen – sich für materielle Belange interessieren. Wo konkrete Ansatzpunkte dieser Allianz schlummern, erfährt man, wenn man der rhetorischen Panik von Arbeitgebern und Politikern folgt. Die hört man nämlich derzeit am schrillsten heraus, wenn es die Arbeitsmoral zu verteidigen gilt. Diesem Pfad zu folgen, könnte sich als wirksam erweisen. Für politische Fortschritte, allemal aber als Therapie gegen die Montagsmüdigkeit.Placeholder infobox-1