Gerade hat der Bundespräsident wieder einmal die “Verrohung der Gesellschaft” beklagt, die in seiner engstirningen Weltsicht natürlich ein Ergebnis von Rechtsextremismus ist. Indes, wer sich eingehend mit der Frage beschäftigt, wo der derzeit in voller Blüte stehende Anti-Humanismus, die in bestimmten Kreisen “schicke” Menschenfeindlichkeit, ihren Ursprung nehmen, der kommt nicht bei Rechtsextremisten, sondern an Hochschulen und speziell in Fächern an, die ihre eigene Existenz dem Humanismus zu verdanken haben.
Im folgenden Text wird spekulativ, aber u.E. plausibel, eine Zusammenhangskette zwischen einer Reihe von derzeit weit – und weit über Hochschulen hinaus in die Politik hinein – verbreiteten Phänomenen, nämlich Weltflucht, Anti-Humanismus, Dekonstruktion, Willkür und Macht dargestellt, die in der systematischen Durchsetzung von Falschem und Unvernünftigem gipfelt.
1. Weltflucht und Anti-Humanismus
Die Strömungen in den humanistischen Fächern und den “-gien” der vergangenen Jahrzehnte bis zum aktuellen Zeitpunkt sind, so mein Eindruck, immer stärker geprägt von Ansichten und Bedürfnissen, die bei allen Unterschieden im Detail einem übergreifenden psychologischen Motiv verpflichtet sind, nämlich dem der Weltflucht, der Flucht vor einer Welt, in der man sich mit anderen Menschen arrangieren muss, vielleicht sogar auf der Basis des besseren Argumentes, vor einer Welt, in der (u.a. deshalb) Vieles nicht so ist, wie es einem selbst angenehm wäre, in der der ggf. vorgestellten eigenen Grandiosität nicht hinreichend Rechnung getragen wird, in der das Pochen auf eigene Rechte immer Gefahr läuft, ungehört im Universum zu verhallen oder – schlimmer – mit der Forderung nach der Erfüllung von Pflichten quittiert zu werden, einer Welt, in der der Unterschied zwischen Leistung und (bloßer) Bemühung für jeden sichtbare praktische Folgen hat, in der der Anspruch auf Gleichheit in allen Belangen mit denjenigen, dies es in irgendeiner Hinsicht vermeintlich besser haben als man selbst, vom Verweis auf Gerechtigkeit gefährdet wird u.v.m.
Diese Beobachtung basiert nicht auf psychologischen Reihenuntersuchungen von Vertretern diverser humanistischer Fächer (die sicherlich ein lohnendes Unterfangen wären), sondern auf der schlichten Tatsache, dass Vertreter dieser Fächer immer seltener nach Erklärungen für in der Realität beobachtbare Phänomene suchen oder versuchen, sie (unabhängig von ihren eigenen Vorurteilen und subjektiven Meinungen und das heißt in aller Regel: bestimmten Regeln der interpretativen Analyse, z.B. nach Mayring, folgend) zu verstehen.
Statt dessen beschäftigen sie sich immer häufiger mit der Frage, was oder wie eine “gute” Gesellschaft zu sein hätte – der Soziologentag des Jahres 2000, der in Köln veranstaltet wurde, stand unter dem Motto “Gute Gesellschaft? Zur Konstruktion [!] sozialer Ordnungen”; zur m.E. treffenden Kritik an diesem Soziologentag siehe Saake 2001 – und wie sich Menschen, die in ihr leben (sollen/müssen) zu verhalten haben würden, und wie die von ihnen als “gut” bewertete Gesellschaft und die von ihnen als “gut” bewerteten Verhaltensweisen hergestellt werden könnten, z.B. durch “nudging” oder durch Sprachumerziehung, lernen Universitätsabsolventen doch anscheinend solchen Unsinn wie den, dass “[d]ie Sprache […] als Generator von gesellschaftlichen Strukturen [fungiert]” und versuchen, diesen Unsinn über den Diplomica-Verlag zu verbreiten.
Für wen die Welt nicht so ist, wie sie nach seinem Geschmack oder zu seinem Wohlbefinden sein sollte, und wer unterstellt, dass das, was für einen selbst “gut” ist, auch für Andere “gut” sei (die Anderen nur nicht wüssten, was für sie “gut” sei), und wer sich außer Stande fühlt, sich in dieser Welt einen Lebensbereich einzurichten, in dem er das führen kann, was er ein für sich persönlich gutes Leben nennen würde, der koppelt sich von der Welt, so, wie sie ist, nach Kräften ab, nimmt sie als Feindesland wahr, aus dem er sich in seinen “safe space” der Echo-Kammer zurückzieht, die er gemeinsam mit anderen Weltflüchtigen bewohnt. Der Rückzug bzw. die Flucht in eine alternative Welt werden seine Probleme mit der real existierenden Welt allmählich weiter verschärfen, in jedem Fall verändert sein Rückzug/seine Flucht nichts an der Realität, der er sich nicht gewachsen fühlt. Manche mögen daraus irgendwann die Konsequenz ziehen, dass es nunmehr höchste Zeit sei, Resilienz in jeder Hinsicht zu entwickeln. Die meisten dürften jedoch darüber wahnsinnig werden, zum Zyniker oder zum Opportunisten oder zum Aktivisten für die Erschaffung einer “richtigen”, einer “guten” Welt, einer Welt, wie sie nach Meinung der Weltflüchtingen eigentlich sein sollte und die sich ihrer Meinung nach andere Menschen ebenfalls erträumen sollten, wenn sie nur so “gut”, “informiert”, “kritisch”, “sensibel” etc. wären wie sie selbst;
Narzissmus oder Hubris sind vermutlich ein wichtiger Teil der weltflüchtenden Persönlichkeitsstruktur. Wohlgemerkt reden wir hier nicht von organisch entstehenden Anpassungsleistungen an sich verändernde Umweltbedingungen, die alle Menschen in allen Gesellschaften zu allen Zeiten erbringen mussten und müssen, sondern von einem mehr oder weniger radikal anderen Weltentwurf wie er z.B. in der Idee des “great reset” formuliert wird oder in Huxleys “Schöne neue Welt” – bis hin zur Flucht in die Un-Menschlichkeit in Form des Transhumanismus.
Auffällig ist außerdem, dass mit dem psychologischen Motiv der Weltflucht eine eine mehr oder weniger unverhohlene Menschenfeindlichkeit zum Ausdruck kommt, bei Akademikern oft nicht offen als Anti-Humanismus bezeichnet, sondern ins Gewand einer posthumanistischen Philiosophie gekleidet. So führt die Weltfucht oft in eine vorgestellte transhumane Zukunft, in eine vorgestellte zukünftige globale Gesellschaft unter einer (dann im übrigen alternativlosen) Ein-Erde-Regierung, in ein vorgestelltes totalitäres Viertes Reich, einen vorgestellten neuerlichen Versuch, den Dauerversager Kommunismus doch noch als den wahren Erlöser der Menschheit zu erweisen – alles Entwürfe, denen der Mensch als Individuum, seine Willensfreiheit, seine Kreativität, seine Erkenntnisfähigkeit und (damit) Fähigkeit zur Moral als zutiefst unvollkommen, wenn nicht prinzipiell suspekt, gilt.
All diesen Entwürfen liegt die Idee zugrunde, dass Menschen in (fast?) jeder Hinsicht Mängelwesen seien, die dringend der Perfektionierung bedürften. Die einen (wie z.B. Ray Kurzweil) sehen das Mittel hierzu in der Hybridisierung von Menschen und Maschinen, im Transhumanismus, die anderen meinen, “den” Menschen perfektionieren zu können, indem sie Menschen ihrer Handlungsfähigkeit berauben bzw. vorgeben, sie von der vermeintlichen Last des Überlegens und Eigene-Entscheidungen-Treffens zu befreien (wie das World Economic Forum dies bekanntermaßen propagiert), oft unter der impliziten Annahme, dass sie (oder die Erschaffer der Künstlichen Intelligenz, die die menschlichen und nicht-menschlichen Geschicke richten soll, eine Art Auserwählte seien, die frei von den Mängeln, seien, die sie anderen Menschen konstatieren.
Für Anti-Humanisten ist der Mensch bloß eine beliebig veränderbare Konstruktion, denn für sie gibt es keine menschliche Natur und damit keine Mensch-Lichkeit:
“The main point of anti-humanism is to challenge the possibility of grounding theoretical knowledge, moral life or political practice on an a-historical concept of ‘man’, ‘subject’, ‘individual conscience’, ‘human nature’ or ‘human essence’” (Iftode 2020: 6; Hervorhebung i.O.),
d.h.
“Der Hauptpunkt des Antihumanismus ist die Infragestellung der Möglichkeit, theoretisches Wissen, moralisches Leben oder politische Praxis auf ein a-historisches Konzept von ‘Mensch’, ‘Subjekt’, ‘individuelles Gewissen’, ‘menschliche Natur’ oder ‘menschliches Wesen’ zu gründen (Iftode 2020: 6; Hervorhebung i.O.),
Anti-Humanismus ist keine neue Idee: Z.B. läßt Friedrich Nietzsche seinen “Zarathustra” sagen:
“Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde … Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, daß er ein Übergang und ein Untergang ist. Ich liebe die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn es sind die Hinübergehenden. Ich liebe die großen Verachtenden, weil sie die großen Verehrenden sind und Pfeile der Sehnsucht nach dem andern Ufer. Ich liebe die, welche nicht erst hinter den Sternen einen Grund suchen, unterzugehen und Opfer zu sein: sondern die sich der Erde opfern, daß die Erde einst des Übermenschen werde … Ich liebe den, welcher arbeitet und erfindet, dass er dem Übermenschen das Haus baue und zu ihm Erde, Tier und Pflanze vorbereite: denn so will er seinen Untergang. Ich liebe den, welcher seine Tugend liebt: denn Tugend ist Wille zum Untergang und ein Pfeil der Sehnsucht” (Nietzsche 2023[1883; 1884; 1885]: 10),
und weiter:
“Ich liebe alle die, die wie schwere Tropfen sind, einzeln fallend aus der dunklen Wolke, die über den Menschen hängt: sie verkündigen, dass der Blitz kommt, und gehn als Verkündiger zugrunde. Seht, ich bin ein Verkündiger des Blitzes, und ein schwerer Tropfen aus der Wolke: dieser Blitz heißt Übermensch – (Nietzsche 2023[1883; 1884; 1885]: 11).
Aussagen wie die zitierten von Nietzsche oder sehr ähnliche Aussagen von anderen Autoren bis hin zu Foucault (2002: 422), der der Menschheit ebenfalls die Auslöschung vorhergesagt (und gewünscht?) hat, werden von Anti-/Posthumanisten oft dahingehend verteidigt, dass es sich hierbei nicht um Angriffe auf konkrete Menschen oder die menschliche Spezies handle; sie seien Ergebnis der Bewußtwerdung der jeweiligen Autoren darüber, dass der nah bevorstehende Untergang des Mensch-Seins wie wir es kennen bevorstehe, eines Mensch-Seins, das auf bestimmten Vorstellungen vom Mensch-Sein und seiner zentralen Stellung in der Welt der Lebewesen beruhe (s. hierzu: Iftode 2020: 11).
Dieser Versuch der Rechtfertigung von Menschenverachtung wird oft eingekleidet in einen pseudo-philosophischen Wortschwall, bei dem oberflächlich besehen nicht der Mensch als solcher, sondern die europäische Tradition des Humanismus, diskreditiert werden soll, wobei durchaus keine Einigkeit darüber besteht, was genau das eigentlich bedeutet bzw. was genau diskreditiert werden soll. Zur Illustration dieses Punktes:
“humanism (n.) along with humanist used in a variety of philosophical and theological senses 16c.-18c., especially ones concerned with the (mere) humanity of Christ, or imitating Latin humanitas education befitting a cultivated man … In the sense ‘the doctrine or science of human nature, humanics (1864) has been used. From 1832 in reference to ‘intelligent study and appreciation of the classics’, especially in reference to the Renaissance. By 1847 in reference to ‘system or mode of thought in which human interests predominate’ (originally often in the writings of its enemies). As a pragmatic system of thought, defined 1907 by co-founder F. C. S. Schiller as ‘The pereception that the philosophical problems concerns human beings striving to comprehend a world of human experience by the resources of human minds’,
d.h.
“Humanismus (n.) neben Humanist verwendet in einer Vielzahl von philosophischen und theologischen Bedeutungen 16c. -18c. insbesondere diejenigen, die sich mit der (bloßen) Menschlichkeit Christi befassen oder die lateinische humanitas-Erziehung nachahmen, die einem kultivierten Menschen entspricht … Im Sinne ‘der Lehre oder Wissenschaft der menschlichen Natur’ wurde [der Begriff] Humanik (1864) verwendet. Seit 1832 mit Bezug auf ‘intelligentes Studium und Wertschätzung der Klassiker’, vor allem mit Bezug auf die Renaissance. Um 1847 mit Bezug auf ‘System oder Denkweise, in der menschliche Interessen überwiegen’ (ursprünglich [und genau wie heute wieder] oft in den Schriften seiner Gegner). Als pragmatisches Denksystem 1907 von Mitbegründer F. C. S. Schiller definiert als ‘Die Annahme, dass die philosophischen Probleme Menschen betreffen, die danach streben, eine Welt der menschlichen Erfahrung durch die Ressourcen des menschlichen Geistes zu verstehen’”.
So heißt es im Online Etymology Dictionary zum Begriff “Humanismus“.
Da der Mensch jedoch in keiner anderen Form vorkommt als in der Form jetzt lebendiger, konkreter, einzelner Exemplare der Spezies homo sapiens sapiens und mit seinen Vorstellungen vom Mensch-Sein, die evolutionär herausgebildet wurden, ist der Versuch der Rechtfertigung des Anti-/Posthumanismus als gar nicht gegen Menschen gerichtet, sondern “nur” gegen eine bestimmte Auffassung vom Mensch-Sein, offensichtlich das, was man (zurecht oder zu Unrecht mit Bezug auf die Sophisten) Sophisterei nennt; es ist Wortklauberei, haarspalterisch und irreführend. Wer reale, lebendige Menschen als prinzipiell defizitär und dringend veränderungsbedürftig – aufgrund wessen Maßstabs?!? Schwerlich dem des (noch) nicht existierenden “Übermenschen”! – angesichts einer sich ständig verändernden Welt ansieht und Schritte einleitet, um Menschen nach dem Willen selbsterklärter “Übermenschen” vermeintlich zu verbessern (oder zu beseitigen, wenn sie sich als nicht verbesserungsfähig erweisen), der darf ganz und gar zu Recht als Menschenfeind bezeichnet werden, und sei es nur, weil er das Anpassungsvermögen, die Kreativität, die Fähigkeit zum Problemlösen, die Menschen von Beginn ihrer Geschichte an unter Beweis gestellt haben, in Abrede stellt (vielleicht im Zuge eines Fehlschlusses von den eigenen Fähigkeiten auf diejenigen der anderen Exemplare der Spezies – eine plausible Vermutung aus Gründen, die weiter unten deutlich werden).
Anti-Humanisten bzw. Post-Humanisten gibt es also in verschiedenen Varianten, aber allen ist eine (mehr oder weniger starke) Menschenverachtung gemeinsam und die Ablehnung all dessen, was sie (jeweils) mit der humanistischen Tradition in Europa verbinden, darunter die Idee der Wissenschaft und die wissenschaftliche Methode, die den Kern von Wissenschaft ausmacht. Das ist keine Überraschung, zielt die klassische Idee der Wissenschaft doch darauf ab, Tatsachen über die natürliche und die soziale Welt sowie Tatsachen über die Zusammenhänge zwischen diesen Tatsachen festzustellen. Tatsachen sind durch systematische empirische Überprüfung bestätigte Aussagen über die Beschaffenheit der natürlichen und der sozialen Welt. Und wer vor der Welt flüchten möchte, sich in und vor der realen Welt, wie sie anhand von Tatsachen erkennbar ist, fürchtet, sich eine alternative Welt erträumt, der wird versuchen, Tatsachen aus dem Weg zu gehen, ihnen ihren Status als Tatsachen zu bestreiten oder Tatsachen, falls sie akzeptiert werden, für jederzeit nach Geschmack oder Ideologie veränderbar zu erklären.
Deshalb ist es wichtig, der tatsächlichen Welt samt der in ihr existierenden Menschen ihre Realität möglichst zu bestreiten. Dies geschieht unter Rückgriff auf Vorstellungen von Relativismus, Subjektivismus, Konstruktivismus, auch oder besonders mit Bezug auf die Identität von Individuen, aber vor allem durch den schlichten Angriff auf alles, was bislang hilfreich dabei gewesen ist, ein einigermaßen geregeltes menschliches Zusammenleben möglichst frei und möglichst vernünftig handelnder Menschen in relativem Wohlstand und Frieden aufzubauen und zu erhalten – inklusive der Wissenschaft (bzw. ihrem Kern, der wissenschaftlichen Methode), die einen erheblichen Beitrag dazu geleistet hat, dies zu ermöglichen, so z.B. (bislang) im Bereich der Medizin.
2. Dekonstruktion
Weil die meisten weltflüchtigen Akademiker Schwierigkeiten damit haben dürften, sich mangelnde psychologische Resilienz oder mangelnde logische Fähigkeiten, mangelndes methodisches Wissen mit Bezug auf “ihr” Fach und ggf. andere oder weitere Mängel einzugestehen, neigen sie dazu, statt ihre Mängel zu beseitigen, in die Offensive zu gehen und nach Kräften zu “dekonstruieren”, was sie als für bekämpfenswert erklärte Strohmänner zuvor selbst konstruiert haben, so z.B. die empirisch-quantitative Wissenschaft, gegen die sie u.a. vorbringen, dass ihre Vertreter so naiv gewesen seien, zu meinen, dass der Mensch die Welt in ihrer Beschaffenheit direkt erkennen könne, was in direktem Widerspruch zu der Tatsache steht, dass diese angeblich so naiven Menschen sich darum bemüht haben, eine Messtheorie zu entwickeln, in deren Zentrum die Operationalisierung von Konzepten [!] steht, um eben diese, also abstrakte Größen, “greif”bar zu machen.
Oder sie bringen gegen sie vor, dass sie hauptsächlich von weißen Männern entwickelt worden sei, was so pauschal nicht stimmt und darüber hinaus in keiner nachvollziehbaren Weise als Argument gegen die Wissenschaft benutzt werden kann, denn ob etwas etwas taugt bzw. einem sinnvollen Zweck dienlich ist, hängt nicht davon ab, wer es entwickelt hat! Sie unterstellen also irgendwelche Dinge, die nicht zutreffen, aber relativ einfach zu kritisieren sind, um mit diesem Manöver der Bekämpfung von Strohmännern weniger intelligente oder kritische (oder beides) Geister zu Multiplikatoren ihrer jeweiligen (Un-/)Heilsbotschaft zu machen (und es scheint, dass sie solche willigen Naiven immer wieder finden können).
Relativismus, Postmodernismus, Poststrukturalismus, Konstruktivismus, Posthumanismus, darunter in seinen Varianten des Transhumanismus und des feministischen Posthumanismus, sie alle zeichnen sich dadurch aus, dass sie “dekonstruieren” wollen, was ein in Teilen interessanter Prozess sein kann, aber ein hilfreicher oder nützlicher nur dann, wenn auf die bzw. aus der “Dekonstruktion” ein konstruktiver Akt folgt, bei dem an die Stelle des Verworfenen eine tragfähige Alternative gesetzt wird.
Und was Letzteres betrifft, so sind die genannten (und noch viele andere dekonstruierende) “-ismen” schmerzlich unzureichend, wie jeder selbst feststellen kann, der sich auf die Suche nach Autoren macht, die sich selbst den genannten (oder verwandten) “-ismen” zurechnen und (dennoch?!) an irgendeiner Stelle in ihrem Werk den Mut oder die Phantasie oder beides aufbringen, eigenen konstruktiven Entwürfen mehr Zeit einzuräumen als der “Dekonstruktion” der Entwürfe anderer Leute. Man findet sie so gut wie gar nicht.
Es ist kein Zufall, dass Jay David Bolter (2016) in seinem Beitrag zur International Encyclopedia of Communication Theory and Philosophy über “Posthumanism” fast in jedem Abschnitt seiner Darstellung Worte wie “reject” und “rejection”, “breakup”, “call into question”, “breakdown”, “opposes” und “opposition” u.ä.m. verwendet, aber nur sehr selten Worte, die einen konstruktiven Prozess beschreiben wie z.B. “reconfiguration” und – ich fürchte, ich kann hier kein anderes Beispiel liefern, obwohl ich nicht ausschließen möchte, dass sich nach neuerlicher Lektüre doch noch ein weiteres Wort in diesem Artikel finden würde, das Konstruktives bezeichnet. Es ist bezeichnend, dass Bolter im letzten Abschnitt seiner Darstellung formuliert:
“Posthumanist theorists propose nothing less than a complete reconfiguration of the humanities – a reconfiguration that removes [!] the liberal subject from the center of humanistic inquiry. They demand [!] new approaches as well as changes in the material studied. For example, posthumanists often suggest STS as a controlling [!] interdisciplinary approach … Above all, posthumanism opposes [!] the essentialism that it finds [!] in the traditional interpretive practices of the humanities” (Bolter 2016: 7),
d.h.
“Posthumanistische Theoretiker schlagen nicht weniger vor als eine vollständige Neukonfiguration der Geisteswissenschaften – eine Neukonfiguration, die das liberale Thema aus dem Zentrum der humanistischen Untersuchung entfernt [!]. Sie fordern [!] neue Ansätze sowie Veränderungen im untersuchten Material. Posthumanisten schlagen zum Beispiel oft STS als einen kontrollierenden [!] interdisziplinären Ansatz vor … Der Posthumanismus wendet sich vor allem gegen [!] den Essentialismus, den er in den traditionellen Deutungspraktiken der Geisteswissenschaften findet [aber sonst niemand]” (Bolter 2016: 7).
Sofern Worte mit Bezug auf Posthumanismus benutzt werden können, die auf eine konstruktive Aktivität verweisen, wie “suggest” im oben stehenden Zitat, beziehen sie sich nicht auf Eigenleistungen des Posthumanismus bzw. seiner Vertreter, sondern auf höchst vage Forderungen nach “neuen Ansätzen” und “Veränderungen”, die etwas vermeiden sollen, in jedem Fall aber von anderen zu leisten sind; sie selbst leisten sie jedenfalls nicht.
Man beschränkt sich also in der Regel auf die “Dekonstruktion” der Entwürfe anderer Leute, wobei sich die “Dekonstruktionen” in der Regel als Akadmisch-Sprech für den Versuch einer Verunglimpfung der Arbeit anderer Leute erweist, weil sie aus einer wilden Mischung von Fehlrezeptionen, Unterstellungen, Fehlschlüssen und oft genug aus direkten Beschimpfungen und – ohne Ausnahme, soweit ich bislang sehen konnte – auf einer nahezu lächerlichen Unterschätzung der Geisteskraft und der Argumente der Personen, die sie zu kritisieren versuchen (vermutlich aus Unverständnis derselben), zusammensetzt.
Aber “Dekonstruktion” klingt einfach so viel intellektueller als “Hit piece”. Wer gegen die Praktiken der “Dekonstruktion” einwendet, dass sie sehr, sehr weit von einer Argumentation entfernt sind, der wird sofort als jemand identifiziert, der dem verhassten – wahlweise – Humanismus, Empirismus, Objektivismus u.ä.m. verhaftet sei und daher sowieso keinen ernstzunehmenden Einwand erheben könne, ist seine Position doch gerade eine solche, die angeblich der “Dekonstruktion” bedarf. So funktioniert die Immunisierung der eigenen Position in umfassender Weise: durch die Verunmöglichung der argumentativen Auseinandersetzung. Wer argumentieren möchte, wird gerade deshalb, weil er es möchte (und am Ende sogar für möglich und fruchtbar hält), von einem Einbruch in den Wortschwall fragwürdiger Bedeutung ausgeschlossen.
3. Willkür
Vernünftige und daher vertretbare Formen des epistemischen Relativismus (d.h. des Relativismus, der die spezifische Form und die spezifischen Bedingungen menschlicher Erkenntnisfähigkeit betrifft), die im 20. Jahrhundert immer schon mit der Idee der Wissenschaft verbunden waren – auch, wenn seine Kritiker dies gerne unterschlagen und gegen einen Objektivismus zu Felde ziehen, den (zumindest im 20. Jahrhundert) kaum jemand, wenn überhaupt jemand, ernsthaft vertreten hat (s.o.), – sind seit den 1960er- und 1970er-Jahren über mehr oder meistens weniger voneinander unterscheidbare Etappen hinweg in einen absoluten Relativismus gesteigert worden.
Subjektivismus, Konstruktivismus, Postmodernismus und Posthumanismus in ihren diversen Spielarten und Ausdrucksformen, wie z.B. und vielleicht vor allem, Identitätspolitik sind allesamt Etappen auf dem Weg in einen absoluten Relativismus, in dem “anything goes”, alles geht, was jemand möchte, der die Macht hat, es durchzusetzen (zur Macht weiter unten mehr).
Oft beginnt dieser Prozess mit dem Versuch, einen bestimmten Sprachgebrauch durchzusetzen, u.a. durch Veränderung des semantischen Gehaltes von Worten. Dementsprechend konnte Orwell in seiner Dystopie “1984” die Aussage “Krieg ist Frieden” als ernstgemeinte Aussage der Systemlinge darstellen, ganz so, wie dies heute tatsächlich von einigen behauptet wird, und ganz so, wie derzeit von einigen beispielsweise versucht wird, die Bezeichnung von Männern, die kastriert oder in sonstiger Weise chirurgisch oder medikamentös in einschlägiger Weise behandelt wurden, als Frauen durchzusetzen.
Gewöhnlich wird der (Weg in den) absoluten Relativismus dadurch zu bewerben versucht, dass er als besonders moralisch präsentiert wird insofern als er als Bringer der totalen Rechte für alle dargestellt wird, insbeondere all der Rechte, die Menschen, die keine moralischen Relativisten sind und von absoluten Relativisten (oder solchen, die sich als solche inszenieren, um eigene Vorteile zu erreichen oder zu sichern), als vorurteilshaft und kleingeistig dargestellt werden, angeblich all denen vorenthalten wollen, die Geltung für alle ihre Anliegen und Bedürfnisse, aber auch Einfälle oder Launen ohne Einschränkung (z.B. im Interessse eines möglichst konfliktfreien Zusammenlebens) beanspruchen.
Tatsächlich geht es nicht allein darum, der eigenen Willkür immer und überall freien Lauf zu lassen, sondern darüber hinaus – und ich vermute: vor allem; s. dazu unten – darum, dass andere Leute sich dem, was diese Willkür ihnen vorgibt, unterwerfen. Man würde meinen, dass derjenige, der sich selbst das Recht zugesteht, nach seinen willkürlichen Eingebungen zu funktionieren, Anderen dasselbe Recht zugestehen muss, aber für den absoluten Relativisten entfällt diese Überlegung, eben weil er Werte wie Reziprozität oder gleiche Rechte für alle Menschen nicht (aner-)kennt. Er kennt die Hierarchie des Durchsetzbaren: Die allen anderen Willkürlichkeiten überlegene Willkür ist diejenige, die durchgesetzt werden kann – das genügt, nichts sonst muss für den jeweiligen willkürlich gewählten Inhalt sprechen, ja, es kann sogar sehr Vieles gegen ihn sprechen.
Um beim Beispiel sogenannter Trans-Frauen zu bleiben: der Verweis auf Übereinstimmung mit biologischen Tatsachen trifft für den absoluten Relativisten deshalb nicht, weil er die Existenz biologischer Tatsachen (oder ihre weitgehende Unveränderlichkeit durch menschliche Willkür) schlichtweg bestreitet – oder nicht bestreitet, aber er sich Tatsachen einfach nicht verpflichtet fühlt. Der Verweis auf das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit trifft für ihn nicht, weil er keinen moralischen Maßstab akzeptiert, anhand dessen man Grundrechte überhaupt als solche definieren und anerkennen sollte.
Oder er kann (in einem logischen Widerspruch, aber was bedeutet Logik für den absolsuten Relativisten? – nichts) darauf verweisen, dass jemand selbst den Wunsch nach Verletzung seiner körperlichen Integrität geäußert habe und nun – willkürlich – doch ein “Grundrecht” für diese Person behaupten, auf dessen Grundlage sein Wunsch nach Verletzung seiner körperlichen Integrität zu erfüllen sei. Und dabei spielt es keine Rolle, ob sein Wunsch durch Manipulation von außen zustandegekommen ist oder nicht, denn es gibt für den absoluten Relativisten keinen Maßstab, anhand dessen Wünsche bewertet werden könnten, z.B. als vernünftige oder unvernünftige, geschweige denn ihr Zustandekommen.
Aber was treibt den absoluten Relativisten dann zu seinem Handeln an? Der Relativismus, den er an den Tag legt, kann nicht tatsächlich absolut sein, denn wäre er es, wäre ihm alles gleich, wirklich alles, das Zerstörerische wie das Konstruktive, aber wie wir in der Realität beobachten können, haben die Politiken, die derzeit durchgesetzt werden, weit mehrheitlich einen zerstörerischen Charakter, und zwar sowohl auf der Ebene des einzelnen Menschen – wie z.B. das Spiel mit der Gesundheit von Menschen durch experimentelle Impfstoffe zeigt – als auch auf der Ebene ganzer Gesellschaften, die u.a. durch Identitätspolitik und Denunziationsanreize gespalten werden. Es scheint, dass solche Politiken durch Relativismus nur teilweise zu erklären sind; hinzu kommt anscheinend ein gutes Quentchen Anti-Humanismus.
Auch die Wissenschaft hat zunehmend zerstörerischen Charakter angenommen, auch und besonders in den Bereichen der sogenannten Humanties und der “-gien” oder Geistes- und Sozialwissenschaften, denen es doch gerade um menschliches Tun bzw. die Produkte menschlichen Tuns geht. Betrachten wir beispielsweise die empirische Sozialforschung: Sofern sie überhaupt noch für betreibenswert – oder treffender: imitierenswert – gehalten wird, dient sie nicht mehr dazu, soziale Tatsachen festzustellen, sondern – im Zuge eines grandiosen Selbstwiderspruches – dazu, den subjektiven “Standort” anderer Leute angeblich objektiv oder sagen wir: relativ objektiv dingfest zu machen und diesen Standort oder gleich umstandslos die Person, die diesen Standort angeblich einnimmt, zu diskreditieren oder zu beschimpfen. Die Feststellung von Tatsachen und von Zusammenhängen zwischen ihnen ist dem “Meinungskampf” gewichen, bei dem “gut” oder “richtig” ist, was durchgesetzt werden soll – mit allen Mitteln, auch solchen Mitteln, die dem, der dem absoluten Relativismus bislang nicht zum Opfer gefallen ist, moralisch höchst fragwürdig sind wie z.B. Manipulation durch Propaganda, die Verbreitung von faktisch Falschem zu Täuschungszwecken, das “nudging” oder die Zersetzung, wie sie in der DDR gepflegt wurde und im derzeitigen Deutschland wieder gepflegt wird.
Mit all diesem Mitteln und weiteren soll durchgesetzt werden, was nicht besser begründbar ist als durch die eigene Willkür. Wäre es besser begründbar – nämlich durch Argumente, die bessere und vor allem im Prinzip überzeugendere Gründe darstellen als die persönlichen Gefühle oder Erfahrungen oder der persönliche Geschmack sind – begründbar, könnte man jederzeit das Mittel der vernünftigen Diskussion wählen, um andere Menschen von den guten Gründen, die für die eigenen Anschauungen oder Wünsche sprechen, zu überzeugen.
Aber genau das können und wollen die Weltflüchtigen, von denen hier die Rede ist, nicht. Sie wollen ihren persönlichen Gefühlen, Vorlieben, Erfahrungen öffentlichen Ausdruck und Geltung verschaffen und sie möglichst für andere Menschen als vorbildlich und am liebsten als verbindlich durchsetzen. Wie kann man das bewerkstelligen, wenn man keine Argumente hat, mit denen man überzeugen könnte, bzw. in sozialen Beziehungen keine legitime Herrschaft im Sinne von Max Weber ausüben kann? Man versucht, die mangelnde legitime Herrschaft durch Macht zu ersetzen, definiert bei Max Weber (1922: 28, §16) als
“… jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf die Chance beruht”,
also auch, wenn die “Chance” darauf beruht, Wahlfälschung zu begehen oder jemanden eines Gedankenverbrechens oder Falsch-Redens zu bezichtigen und gegen ihn polizeilich ermitteln zu lassen, oder ihm sein Konto zu sperren, wenn er dem politischen Gegener zugeordnet wird, oder ihm bestimmte Informationen willentlich vorzuenthalten oder falsche Informationen zu geben – wie mit Bezug auf die angebliche Impfung gegen Covid-19 reichlich geschehen – oder ihn wie auch immer sonst zu manipulieren oder zu erpressen.
4. Macht und die Durchsetzung von Falschem und Unvernünftigem
Der letzte oder einzige Wert für Antihumanisten oder Relativisten ist deshalb nicht die eigene Willkür, sondern Macht, weil Macht ihnen die Durchsetzung des willkürlich Gewählten, erst zu ermöglichen verspricht. In der Realität haben die meisten von ihnen diese Macht nicht, aber hier gilt das Stellvertreterprinzip: man fühlt eine sozusagen abgeleitete Selbstwirksamkeit, wenn man Personen in Machtpositionen, die (ungefähr) dieselben Menschen als “Gegner” ausgemacht haben wie man selbst, das Wort redet oder ihre (Un-/)Taten zu rechtfertigen oder zu entschuldigen versucht. Man ist nicht mächtig, aber man ist mit denen, die mächtig sind oder die man für mächtig hält, und mit Mächtigen vereint gegen diejenigen, die man sich ausgesucht hat, nicht zu mögen (vielleicht nur deshalb, weil es diejenigen sind, die die Mächtigen nicht mögen).
Nun hat Macht neben der per definitionem gegebenen unangnehmen Eigenschaft, den eigenen Willen gegen “Widerstreben” durchsetzen zu können, eine weitere sehr unangenehme, weil für das menschliche Zusammenleben höchst destruktive, Eigenschaft: es ist die Eigenschaft von Macht, besonders dann und besonders stark empfunden werden zu können – man kann sagen: einen Machtrausch auszulösen –, wenn man Falsches oder Absurdes durchsetzt.
Das ist zugegebenermaßen (m.W.) wieder kein psychologisch gesicherter Befund, aber dies zu vermuten, liegt in der Logik von Macht im Unterschied zu legitimer Herrschaft oder Einfluss durch Überzeugungskraft: Gerade oder vielleicht sogar allein die Durchsetzung von Falschem und Absurdem verhilft zur Erfahrung eines Machtgefühls (bis hin zum Machtrasuch), weil die Durchsetzung von Falschem und Absurdem (so gut wie) gänzlich dem Willen des Durchsetzenden zugeschrieben werden muss, während es für die Durchsetzung von Richtigem und Vernünftigem neben dem Willen des Durchsetzenden andere Gründe geben könnte, gute Gründe, die außerhalb des Willens des Durchsetzenden angesiedelt sind und statt dessen in der Person dessen, der sich so verhält, wie der Mächtige es ebenfalls will.
So könnten Leute das, was durchgesetzt werden soll, einfach für richtig halten und daher gar kein “Widerstreben” zeigen; das, was durchgesetzt werden soll, könnte einem relevanten Teil der Leute ja nützlich oder vernünftig erscheinen. Oder umgekehrt formuliert: Wollte man sich seine Macht dadurch demonstrieren, dass man etwas bei anderen Menschen durchsetzen möchte, was richtig oder vernünftig ist, könnte man niemals sicher sein, dass die Durchsetzung tatsächlich aufgrund der eigenen Macht erfolgt ist; die Anderen könnten sich dann aus freien Stücken dafür entschieden haben, einfach, weil sie es selbst für richtig oder gut befunden haben.
Wer seine tatsächliche oder abgeleitete Macht genießen möchte, wer seine Macht spüren möchte, gar einen Machtrausch erleben möchte, (oder im Fall abgeleiteter Macht: durchgesetzt sehen möchte,) muss sicherstellen, dass diejenigen, gegen die er etwas durchsetzen möchte, ein hinreichend großes Widerstreben fühlen und idealerweise nicht nur fühlen, sondern auch zeigen. Denn: Ohne erkennbares Widerstreben gegen das Durchzusetzende kein Machtgefühl beim Durchsetzenden!
Wenn man Vernünftiges durchsetzen möchte, das einer großen Menge von Menschen argumentativ vermittelbar ist oder tatsächlich gar keiner Durchsetzung bedarf, weil sich eine große Menge von Menschen ohnehin, aus persönlichen Gründen, wie erwünscht verhalten werden/würden, so dass es kein nennenswertes Widerstreben auf Seiten der Leute gibt, dann kann man seine Macht nicht fühlen. Ggf. muss deshalb immer Extremeres, Absurderes, Unvernünftigeres durchgesetzt werden.
Darüber hinaus dürfte sich das Machtgefühl wie andere Belohnungsempfindungen auch mit der Zeit sozusagen abnutzen, wie (u.a.) die Deprivations-Sättigungshypothese von George C. Homans (1974: 29) besagt:
“The more often in the recent past a person has received a particular reward, the less valuable any further unit of that reward becomes for him”,
d.h.
“Je öfter eine Person in der jüngeren Vergangenheit eine bestimmte Belohnung erhalten hat, desto weniger wertvoll wird jede weitere Einheit dieser Belohnung für sie”.
Es steht also zu erwarten, dass mit fortschreitender Zeit immer mehr Widerstreben auf Seiten der Leute notwendig ist, damit der Durchsetzende aus seiner Macht noch dasselbe Ausmaß an Belohnungsempfinden ziehen kann wie er es zuvor getan hat. Das würde Machtexzesse erklären bzw. die Beobachtung, dass Mächtige bezüglich dessen, was sie durchsetzen wollen, sich immer weiter in Richtung eines Extrems bewegen. Sie mögen sich den “einfachen” Menschen da draußen überlegen fühlen, aber tatsächlich sind sie in doppelter Hinsicht Getriebene: Erstens sind sie Getriebene durch die “einfachen” Menschen, weil sie systematisch gegen deren Alltagsverstand, deren Sachverstand, deren Erfahrung und Urteile, an-handeln müssen; wie gesagt: damit er Macht spüren kann, muss er durchsetzen wollen, was “Widerstreben” produziert. Sie agieren also nicht, sondern reagieren bloß. Zweitens sind sie Getriebene aufgrund des nachlassenden Belohnungswertes von Machterfahrungen im Sinn der Deprivations-Sättigungshypothese; sie werden immer mehr zu Macht-Junkies und brauchen immer höhere “Dosen” von Widerstand, die ihnen das Erreichen eines Macht-“high” ermöglichen.
Auf diese Weise sind m.E. Weltflucht und Antihumanismus, Dekonstruktion, Willkür, Macht und die Durchsetzung von Falschem und Unvernünftigem zumindest in Teilen notwendig miteinander verbunden. Wenn das stimmt, wird es unverzichtbar sein, an all den genannten “Fronten” zu kämpfen, um sich aus dieser “Todesspirale” zu befreien – und letzlich ohne Einschränkungen auf sein Mensch-Sein, seine Menschlichkeit und ihre Integrität zu bestehen.
Literatur
Bolter, Jay David, 2016: Posthumanism. The International Encyclopedia of Communication Theory and Philosophy. (eds K. B. Jensen, E. W. Rothenbuhler, J. D. Pooley & R. T. Craig). doi: 10.1002/9781118766804.wbiect220
Foucault, Michel, 2002: The Order of Things: An Archaeology of the Human Sciences. London: Routledge Classics
Homans, George C., 1974: Social Behavior: Its Elementary Forms. New York: Harcourt, Brace, Jovanovich
Iftode, Cristian, 2020: The Dispute between Humanism and Anti-humanism in the 20th Century: Towards an Arch[a]eology of Posthumanism
Nietzsche, Friedrich, 2023: Also sprach Zarathustra. Berlin: Henricus Edition Deutsche Klassik
Weber, Max, 1922: Grundriss der Sozialökonomik, III. Abteilung: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck)
Saake, Irmhild, 2001: Der Kampf der Soziologie gegen die ‘böse Gesellschaft’. Bericht vom Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie vom 16. Bis 19. September 2000 in Köln. Soziale Welt 52(1): 119-126
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