Zwischen Magie und Wirklichkeit: In seinem neuen funkelnden Erzählband erweist sich Saša Stanišić einmal mehr als großartiger Sprachschöpfer.

Berlin.

Es ist wahrscheinlich das Buch mit dem skurrilsten Titel der Saison, auf jeden Fall aber dem längsten. „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“, heißt Saša Stanišićs neuestes Werk.

Hinter dem barock-ausschweifenden Titel verbirgt sich ein Band aus zwölf Erzählungen, die teilweise miteinander verbunden sind und deren Protagonisten in unterschiedlichen Konstellationen mehrfach auftreten. Im Kern aber geht es in all diesen Geschichten um die Sehnsucht nach einem neuen Leben, um den großen Menschheitstraum, sein Dasein nach Belieben anders gestalten und entwerfen zu können.

Träumerei und Magie

Saša Stanišić, Träger des Deutschen Buchpreises 2019, hat sich nach seinem großen Erfolg mit dem Roman „Herkunft“ eine Weile auf Kinderbücher konzentriert. Das Spielerisch-Leichte, Phantastische aus der Kinderwelt hat er auf elegante Weise in dieses Erwachsenenwerk übernommen. Szenen der Träumerei, der Magie, ja der Science Fiction werden gekonnt mit durchaus realistischen Elementen, etwa aus Zuwandererbiografien gemischt. Auch der Autor selbst taucht in mehrfach gebrochener Form in den Geschichten auf: als jugendlicher Migrant in Heidelberg, der sich ein anderes Leben erträumt, als Helgoland-Fahrer auf der Spur seines großen Idols Heinrich Heine oder in einer Utopie als erwachsener Trainer eines Fußballclubs.

Die erste Geschichte „Neue Heimat“ bildet den Rahmen. Vier Jungen, darunter auch der sechzehnjährige Saša, verbringen einen heißen Sommertag des Jahres 1994 im Weinberg. Alle kommen aus Zuwandererfamilien. Fatihs Mutter zum Beispiel „putzte die Villen in der Weststadt und hielt nebenbei das türkische Kulturzentrum am Laufen. Der Vater hatte in der Türkei etwas mit Büchern studiert, also fuhr er hier einen Lkw“. Wäre es nicht schön, sinniert Fatih, wenn es einen Proberaum für das Leben gäbe? Man zahlt 130 Mark und probiert zehn Minuten aus der Zukunft aus. Bei Gefallen kann man sich darin einloggen: „Damit könnte sich im Grunde jeder einen Proberaum leisten. Weil jeder, also fast jeder, zehn Minuten einer schönen Zukunft verdient hatte.“ Auch oder gerade Migrantenkinder.

Das Motiv des Proberaums für das Leben wird in unterschiedlichen Varianten vom Autor weitergesponnen. Da ist zum Beispiel Dilek, eine Türkin, die als Putzfrau im Haushalt einer versnobten Wienerin arbeitet. Während sie die Heizung mit einer Bürste aus Ziegenhaar bearbeitet, träumt sie sich zurück in die Türkei, wo sie einst Ziegen hütete. Die große Chance, ihrer kultivierten Tante in eine bessere Zukunft in der Großstadt zu folgen, verpasste sie damals nur um Haaresbreite. Doch während sie so putzt, bleibt plötzlich die Zeit stehen und daraus ergeben sich für sie ungeahnte Möglichkeiten.

Großartige Sprachkunst

Die Witwe Gisel aus der titelgebenden Geschichte sehnt sich nach Jahren des Alleinseins nach einer neuen Bekanntschaft. Während sie das Grab ihres verstorbenen Mannes gießt, will sie mit ihrer Gießkanne ein Zeichen zu setzen: „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Aufguss nach vorne.“ Doch wo war noch mal vorne? Zum Grab hin oder vom Grab weg? Daraus entwickelt sich eine Kaskade von Gedankenspielen, amüsant und melancholisch, scharfsichtig und verträumt zugleich.

Der Erzählband ist ein weiteres Zeugnis von Stanišićs großartiger Sprachkunst. Nur wenige Autoren sind so wortschöpferisch und poetisch, so vielschichtig und mehrdeutig unterwegs wie der deutsch-bosnische Schriftsteller. Manchmal allerdings muss der Leser aufpassen, sich nicht im funkelnden Sprachlabyrinth zu verlieren.

Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Aufguss nach vorne, Luchterhand, München, 256 Seiten, 24,00 Euro, ISBN 978-3-630-87768-6 (dpa)

  • Mehr Lesekomfort auch für unterwegs
  • E-Paper und News in einer App
  • Push-Nachrichten über den Tag hinweg

Nein Danke. Weiter in dieser Ansicht.



Source link

Von Veritatis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert