Zeitgeschichte Bis heute wird von der italienischen Rechten der Mythos gepflegt, die faschistische Diktatur sei anfangs moderat und alles andere als brutal gewesen. Die Entführung und der Mord am Sozialisten Giacomo Matteotti gilt als „Betriebsunfall“
Giacomo Matteotti wollte führenden Faschisten Korruption nachweisen. Am Nachmittag des 10. Juni 1924 wurde er unweit seiner Wohnung in Rom von fünf Männern entführt, am 16. August fand man seine Leiche
Abb.: Leemage/dpa, Mondadori Portfolio/AKG-Images (links)
Fast 4.000 Straßen und Plätze in Italien sind nach ihm benannt: dem Antifaschisten Giacomo Matteotti, geboren 1885, von Faschisten am 10. Juni 1924 in Rom ermordet. Nun ist sein Name erneut Gegenstand politischer Debatten. Kurz vor dem 25. April, dem Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, nahm der öffentlich-rechtliche TV-Sender Rai 3 einen Kommentar des Publizisten Antonio Scurati aus dem Programm – Scurati hatte es gewagt, ausgehend vom Mord an Matteotti, den Geschichtsrevisionismus der Meloni-Regierung zu kritisieren. Eine unerwartet breite Öffentlichkeit erreichte Scuratis Kritik dann doch: Die zuständige Moderatorin verlas seinen Text im laufenden Programm, etliche Zeitungen im In- und Ausland druckten ihn nach – ein wichtiges Zeichen gegen die ve
verlogene Geschichtspolitik der italienischen Rechten.Der „Fall Matteotti“ widerlegt die ihnen so teure These von der moderaten, eher „väterlichen“ als brutalen Diktatur Benito Mussolinis. In Italien blieb – anders als 1933 in Deutschland – nach der Machtübertragung an die Faschisten die parlamentarische Fassade zunächst erhalten. Mussolini war seit Ende Oktober 1922 Ministerpräsident, seine Partei in der mit Nationalisten und Konservativen gebildeten Koalitionsregierung in der Minderheit. Eine im Juli 1923 beschlossene Wahlrechtsreform ebnete dann aber den Weg in den Ein-Parteien-Staat. Im April 1924 wurde erstmals nach dem neuen Modus gewählt: Zwei Drittel der Sitze fielen an die stärkste Gruppierung, die von den Faschisten dominierte rechte Einheitsliste (Listone), die auf 375 Mandate kam. Ihr standen 106 oppositionelle Parlamentarier gegenüber, darunter Antonio Gramsci für die KP – und Giacomo Matteotti, Wortführer des Partito Socialista Unitario (PSU), einer Abspaltung des Partito Socialista Italiano (PSI).Im Wahlkampf hatten faschistische Sturmtrupps linke Kandidaten verprügelt und Wähler eingeschüchtert. Bei der Stimmenauszählung kam es zu Fälschungen. Diese Vorfälle brachte Matteotti am 30. Mai 1924 im Parlament zur Sprache. Bevor das Wahlergebnis bestätigt werden könne, müsse eine genaue Untersuchung stattfinden, verlangte er. Seine Rede löste bei den Faschisten bebende Entrüstung aus. Mussolini rief, an die linken Parteien gewandt, in den Plenarsaal: „Man sollte euch alle erschießen!“ Woraufhin Matteotti sich mit bitterem Sarkasmus an seine Genossen wandte: „Jetzt könnt ihr schon mal meine Trauerfeier vorbereiten.“Mussolini in der DefensiveAm Nachmittag des 10. Juni wurde Matteotti in Rom unweit seiner Wohnung von fünf Männern überfallen und in ein Auto gezerrt, wie mehrere Augenzeugen berichteten – am 16. August fand man seine Leiche. Für die Regierung war Matteotti nicht nur wegen seiner öffentlich geäußerten Kritik an den faschistischen Gewalttaten ein gefährlicher Gegner. Er hatte Dokumente zusammengetragen, mit denen er führenden Faschisten, darunter Mussolini und dessen Bruder Arnaldo, Korruption nachweisen wollte. Dabei ging es um die illegale Überlassung von Ölbohrrechten an die US-amerikanische Sinclair Oil Company. Eine Woche nach Matteottis Verschwinden berichtete der britische Daily Herald darüber, und im Juli erschien in der Londoner Zeitschrift English Life ein Artikel zum Thema, den Matteotti noch kurz vor seiner Ermordung geschrieben hatte.Sein Verschwinden empörte große Teile der Bevölkerung in ganz Italien. Die Regierung wankte, Faschisten verbargen ihre Parteiabzeichen. Mussolinis Erklärungen waren zunächst defensiv. Selbst führende Unternehmer, die den Aufstieg des Faschismus mitfinanziert hatten, gingen auf Distanz. In der Zeitschrift des Unternehmerverbandes Confindustria klangen Warnungen an: „Solange der Faschismus ein Element der Ordnung, der Ruhe, der Möglichkeit zu ausgeglichener, gewinnbringender Arbeit ist, wird die Industrie auf Seiten der Regierung stehen. Sollte der Faschismus aber zu einem – wenn auch indirekten – Element der Unordnung werden und es zu Erschütterungen, tumultuarischen Manifestationen und unbesonnenen Streiks kommen, würde sie unsere Zustimmung nicht länger finden.“Vatikan und Monarchie stützen die FaschistenWährend die Bourgeoisie einen neuen Aufschwung der Arbeiterbewegung befürchtete, erkannten die Kommunisten die Chance, die Regierung zu stürzen. Ihre im Februar 1924 gegründete Mailänder Zeitung L’Unità erschien mit der Schlagzeile: „Nieder mit der Mörderregierung!“ Antonio Gramsci schrieb am 22. Juni in einem Brief an seine Frau Julia Schucht: „Plötzlich, als es niemand erwartete – am wenigsten die Faschisten, die mit hundertprozentiger Sicherheit glaubten, ihre Macht sei grenzenlos –, brach der Vulkan aus, und ein ungeheurer glühender Lavastrom ergoss sich über das Land und riss die ganze faschistische Brut mit sich. (…) Der Faschismus wurde in die Isolation getrieben und seine Führer von Panik ergriffen, während die Mitläufer das Weite suchten.“Freilich hielten die Hoffnungen auf einen Sturz des Faschismus nicht lange an. Die Oppositionsparteien verließen nach Matteottis Verschwinden das Parlament und bildeten den Block des „Aventin“. Statt jedoch zum politischen Generalstreik aufzurufen, verabschiedeten sie Protesterklärungen – nichts als „lautstarke Nörgelei“ und „lästiges Geschwätz“, wie Mussolini höhnte. Gestützt auf die „intransigente“ Strömung um Roberto Farinacci, erholte sich die faschistische Partei langsam wieder und ging besonders auf dem Lande zur Gegenoffensive über.Die Schwäche der Opposition überzeugte auch die vorübergehend schwankenden Unternehmer, dass es ratsam sei, die Regierung weiter zu stützen. Vatikan und Monarchie standen ohnehin hinter Mussolini, der am 3. Januar 1925 die Krise mit einer provokatorischen Rede zu lösen suchte. Vor dem Parlament übernahm er die Verantwortung für den Mord an Matteotti und erklärte: „Wenn der Faschismus eine kriminelle Vereinigung ist, dann bin ich eben der Anführer dieser kriminellen Vereinigung.“ Für die kommenden 48 Stunden kündigte er das Ende der „Rebellion“ an. Und hielt Wort: Innerhalb weniger Tage gab es nach offiziellen Angaben des Innenministeriums 655 Hausdurchsuchungen und 111 Verhaftungen „subversiver Elemente“. Politische Zirkel und „subversive Organisationen“ wurden aufgelöst.Von den Oppositionsparteien kehrten nur die Kommunisten ins Parlament zurück. Sie hatten den „Aventin“ schon im November 1924 aufgegeben, als dessen Tatenlosigkeit offenkundig geworden war. Fast zwei Jahre lang standen sie den Faschisten und ihren Verbündeten in der Abgeordnetenkammer allein gegenüber. Die Welle verschärfter Repression konnten sie nicht aufhalten. Es folgten Entlassungen in den öffentlichen Diensten, Berufsverbote für unliebsame Journalisten und Anwälte. Mussolini erhielt diktatorische Vollmachten, die politische Polizei und ein neu geschaffener Strafgerichtshof wüteten gegen Antifaschisten.Amerigo Dumini, Anführer des MordkommandosDennoch hält sich in Italien bis heute die These, der historische Faschismus sei in seinen Anfangsjahren eine moderate Diktatur gewesen. Anhänger dieser These, zu denen auch Giorgia Meloni gehört, behaupten zudem, dass der Mord an Matteotti eine Art Betriebsunfall gewesen sei. Die fünf Täter wurden 1924 schnell gefasst und Anfang 1926 vor Gericht gestellt. Zwei von ihnen kamen bald wieder auf freien Fuß, drei erhielten Gefängnisstrafen von knapp sechs Jahren. Aufgrund einer Amnestie waren sie freilich schon nach wenigen Monaten wieder entlassen.1947 wurde der Fall noch einmal vor Gericht verhandelt und endete mit drei Verurteilungen zu lebenslanger Haft, die dann auf je 30 Jahre reduziert wurden. Amerigo Dumini, der Anführer des Mordkommandos, kam 1956 wieder auf freien Fuß; er starb 1967 in Rom. In einem erst nach seinem Tod veröffentlichten Schreiben an seinen Anwalt nannte er zwar nicht namentlich Mussolini als Auftraggeber des Verbrechens, ließ jedoch keinen Zweifel am Auftrag selbst: „Es war absolut notwendig, Matteotti schnellstmöglich am Reden zu hindern, ihn für immer verschwinden zu lassen.“ Er sollte „weder lebend noch tot“ wieder auftauchen. Es habe schnell gehen müssen, weil Matteotti am 11. Juni im Parlament sprechen wollte, mutmaßlich zu den Korruptionsvorwürfen gegen die Mussolini-Brüder. Mit Matteotti verschwanden auch die belastenden Dokumente. Er hatte sie am Tag seiner Entführung bei sich getragen.Heute wird in Italien – völlig zu Recht – vor allem an den mutigen Antifaschisten Giacomo Matteotti erinnert. Federico Fornaro – Verfasser einer gerade erschienenen Biografie – würdigt Matteotti darüber hinaus als „Klassenverräter“, weil er sich, aus einer wohlhabenden Familie stammend, dem Proletariat zugewandt habe. Als überzeugter Antimilitarist war er gegen Italiens Eintritt in den Ersten Weltkrieg und verteidigte Karl Liebknechts Weigerung, Kriegskrediten zuzustimmen. Giacomo Matteotti ist der politischen Kaste bis heute unbequem, weil er nie seine Überzeugungen verriet.