Ganz hinten in meinem Kleiderschrank lagert eine selten genutzte schwarze Yogamatte. In ihrem Innern ist ein zerknittertes Poster eingerollt. Es zeigt einen jungen Mann, er trägt ein gemustertes Tuch, zum Turban gebunden, einen kurzen Vollbart und lächelt scheu. Ein Schnappschuss, vielleicht bei einem sportlichen Wettkampf aufgenommen.
Dieses Poster war mir am 22. Oktober bei der Solidaritätsbekundung für Israel vor dem Brandenburger Tor von einer Frau in die Hand gedrückt worden. „I’M HERE. WHERE IS AAMIR ABU SABILH?“ steht in schwarz-roter Schrift über dem Bild des jungen Mannes. Die Frau bat mich und all die anderen, die Poster mit Bildern weiterer Hamas-Geiseln bekommen hatten, sie auf Zuruf in die Höhe zu halten, um ein Zeichen zu se
bat mich und all die anderen, die Poster mit Bildern weiterer Hamas-Geiseln bekommen hatten, sie auf Zuruf in die Höhe zu halten, um ein Zeichen zu setzen.Wir reckten die Bilder in Richtung der Kamerateams und der Redner auf der Bühne. Unter ihnen auch Angehörige der Geiseln. Sie erzählten von ihren Schwestern, Ehefrauen und Kindern, Menschen, die auch auf unseren Postern abgebildet waren. Nicht wenige der Poster sollten später in den Abfallbehältern zwischen Brandenburger Tor und Holocaust-Mahnmal landen. Die Organisatoren zählten 25.000 Teilnehmer bei der Kundgebung, die Polizei 10.000; zu wenig, befanden Kommentatoren. Für die Ukraine hätten viel mehr demonstriert. Ein paar Dutzend junger Menschen hingegen reichten am 19. Oktober, um soziale und sonstige Medien zu elektrisieren. Sie hatten keine Zeichen gesetzt, sondern, vor dem Außenministerium sitzend, eine Parole skandiert: „Free Palestine from German guilt.“Nina* war eine von ihnen, erzählt sie mir wenige Tage später in einem Kreuzberger Café. Und rechnet mir vor, dass am 7. Oktober keinesfalls 1.400 Menschen von der Hamas getötet worden seien. „Sondern?“, frage ich, unfähig, ihren Zahlenspielen zu folgen, wie ich als kleines Mädchen beim Abendbrot unfähig war, den Ausführungen meines Vaters zur „Sechs-Millionen-Lüge“ zu folgen. Maximal 700, sagt Nina. Maximal 1,2 Millionen, hatte mein Vater ausgerechnet. Ich erzähle Nina von ihm und seinen Ausfällen, sie erzählt mir von ihren palästinensischen Freunden und deren Ausweglosigkeit. Dann sprechen wir von etwas anderem, um unsere Freundschaft zu retten.Ein paar Tage später zieht eine Anti-Israel-Demo durch meine Straße. Sollte ich das Poster aus der Yogamatte ziehen und unten am Straßenrand hochhalten, frage ich mich kurz, um es dann zu lassen. Im Haus gegenüber steht eine Frau mit Hijab und einem Kind auf dem Arm am geöffneten Fenster. Das Kind hält eine winzige Palästina-Flagge und plappert, so gut und laut es eben kann, den Ruf der Demonstrierenden, „Free, free Palestine!“, nach.Seither sind viele weitere Demos an meinem Haus vorbeigezogen, das Poster lagert im Schrank, und Nina treffe ich immer wieder einmal, auch wenn wir beide wissen, dass sich etwas zwischen uns verändert hat. I’m still here. Amer Abu Sabilas Leiche wurde, wie ich viel später las, bereits am 16. Oktober identifiziert. Der 25-jährige Beduine war bei seinem Versuch, zwei kleinen israelischen Mädchen das Leben zu retten, von der Hamas erschossen worden.