Ausstellung In London sind Bertolt Brechts Collagen zu sehen, mit denen er den Aufstieg des Faschismus zu ergründen versuchte. Viele wurden noch nie komplett gezeigt


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Ausgabe 26/2024

Hitler posiert auf dem „Arturo Ui“-Manuskript (links); Soldaten mit Gasmasken (rechts) muten wie auf einem Plattencover an

Hitler posiert auf dem „Arturo Ui“-Manuskript (links); Soldaten mit Gasmasken (rechts) muten wie auf einem Plattencover an

Abb.: Bertolt Brecht Archive/Akademie der Künste, Berlin

Sein Publikum soll das Theater nicht nur unterhalten, sondern zum politischen Denken herausfordern, befand Bertolt Brecht. Ein Stück sollte deshalb nicht glatt sein, sondern aufrütteln. In einem denkwürdigen Satz beschrieb er das ideale Theaterstück als eines, das „sozusagen mit der Schere in einzelne Stücke geschnitten werden kann, welche durchaus lebensfähig bleiben“.

Wie wörtlich er das meinte, zeigt eine aktuelle Ausstellung in London, die in Zusammenarbeit mit dem Bertolt-Brecht-Archiv in Berlin entstand. brecht: fragments ist die bisher umfangreichste Präsentation des Materials, das Brecht im Laufe seiner Karriere sammelte – von Zeitungs- und Zeitschriftenbildern über Fotokopien mittelalterlicher Gemälde bis hin zu Ab

8;lde bis hin zu Abbildungen aus dem chinesischen Theater.Die Tagebücher mit Collagen, die Brecht daraus erstellte, wurden größtenteils noch nie gezeigt. Dass sie bisher übersehen wurden, hat auch damit zu tun, wie Brechts Werk in der DDR archiviert wurde. Die Bilder waren alle einzeln katalogisiert, nicht als zusammengeklebte Werke, und Wissenschaftler, die in einem Lesesaal am Berliner Robert-Koch-Platz nach Material fragten, konnten auch davon nur Fotos in schlechter Qualität sehen.„Man hatte keine Ahnung, dass sie sich auf ein und demselben Blatt Papier befanden“, sagt Tom Kuhn, Emeritus Fellow des St. Hugh’s College in Oxford. „Ihr Kontext war völlig zerstört.“ Kuhn, der die Collagen vor etwa zehn Jahren entdeckte und einer der Kuratoren der Londoner Ausstellung ist, war davon überzeugt, dass diese Fragmente nicht Teil einer zusammenhanglosen Sammlung waren, sondern ein bedeutendes künstlerisches Projekt. „Es ist eine klare Komposition erkennbar“, sagt er. „Es sind nicht einfach nur Materialien, die einmal zu etwas anderem beitragen sollen.“Nach den Wirren des Ersten Weltkriegs erlebte die Collage in der Weimarer Republik ihre Geburtsstunde. Zwei der politischsten Vertreter dieser Kunstform, George Grosz und John Heartfield, waren Freunde von Brecht. Die Montagen des Dramatikers sind zwar weniger dynamisch, aber der Versuch, durch Gegenüberstellungen eine Bedeutung herzustellen, ist offensichtlich. Ein Eintrag in seinem Tagebuch über das William-Wordsworth-Gedicht She Was a Phantom of Delight („a Spirit still, and bright / With something of angelic light“) wird von einem Foto von Soldaten mit Gasmasken begleitet. Von heute aus betrachtet ähnelt es dem Cover einer Postpunk-Schallplatte.Ein großes Album, bekannt als BBA 1198, enthält eine Seite mit zwei Fotos: eines von Adolf Hitler, der seine Fäuste in einem Wutanfall erhebt, und eines von einem blonden Schuljungen, der dieselbe Geste macht. Die Gegenüberstellung ist verwirrend. Sie lässt den Führer wie ein ungezogenes, spielendes Kind aussehen, zeigt aber auch, wie sehr man in Nazi-Deutschland darauf aus war, seine performative Empörung zu imitieren: Der Schuljunge, so erklärt der Text, hält eine Rede über das Zeitgeschehen. Die aufgeschlagene Zeitung vor ihm ist eine Nazi-Publikation.Die Bilder zeigen deutlich, wie sehr Brecht von Gesten fasziniert war – und davon, wie sie eingesetzt und missbraucht werden. Wir sehen Menschen, die um Essen betteln, Soldaten, die ihre Lieben umarmen, bevor sie an die Front gehen. Hitler ist auch neben dem korrupten New Yorker Bürgermeister Jimmy Walker zu sehen: Beide wedeln mit dem Finger, zwei verlogene Führer, die dem Publikum selbstbewusst ihre Aufrichtigkeit versichern.Die meisten der Bilder im Raven Row wurden während Brechts Exiljahren gefunden und gesammelt. Aus Angst vor Verfolgung verließ der engagierte Sozialist Deutschland am 28. Februar 1933, einen Tag nach dem Reichstagsbrand. Als die Nazis seine Bücher verbrannten, hatten Brecht und seine Familie sich bereits auf der dänischen Insel Fünen niedergelassen, von wo aus er schließlich in die USA gelangte. In Kalifornien versuchte er, ein Hollywood-Autor zu werden. Obwohl er das Drehbuch für Fritz Langs Film Auch Henker sterben schrieb, hatte er Schwierigkeiten, in der Branche Fuß zu fassen.Brechts Fotomontagen lassen darauf schließen, dass ihn auch fern der Heimat der Aufstieg des Faschismus ständig umtrieb – insbesondere, wie er die deutsche Politik so sehr befallen konnte. Es lohnt sich, zu fragen, wie scharfsinnig seine Analyse heute ist.Brechts Dreigroschenoper zog Parallelen zwischen der Londoner Unterwelt und den kapitalistischen Unternehmungen der Bankiers der Stadt. Diese Analogie weitete er 1941 in Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui aus, in dem es um den Weg eines fiktiven hitlerähnlichen Chicagoer Gauners (der den Blumenkohlhandel aufmischt) an die Macht geht. Der Faschismus wird als kriminelles, aber auch als kapitalistisches Unternehmen dargestellt.Die Ausstellung im Raven Row enthält eine maschinengeschriebene Fassung des Stücks, die mit 24 Bildern illustriert ist, darunter eine Fotomontage, in der Nachrichtenbilder von Gangstern und Mafia-Beerdigungen Aufnahmen von Hitler und seinen Gefolgsleuten gegenübergestellt werden. Das außergewöhnlichste Bild ist so nüchtern wie simpel: eine Typoskriptseite mit einem ausgeschnittenen und aufgeklebten Hitler, der aussieht, als stünde er an einer Straßenecke in den Five Points von Lower Manhattan, die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben.Die These vom Diktator als Gangster findet sich auch wiederholt im Album BBA 1198. Eine Seite zieht Parallelen zur Romantisierung von Bonnie und Clyde durch die Medien („Bonnie Good Girl Gone Wrong, Mother Says“, lautet die von Brecht ausgeschnittene Schlagzeile). Ein anderes, aus einer Nazi-Publikation stammendes Blatt stellt Hitler und Goebbels als mildtätige Ausgestoßene dar. Diese Idee hat sich bemerkenswert gut gehalten. Würde Brecht heute diese Alben fortführen, könnte man sich vorstellen, dass sie voll wären mit den Gesten, die Donald Trump mit seinen winzigen Händen macht, mit Schlagzeilen, die seine mafiösen Äußerungen zitieren, ganz zu schweigen von Trumps Fahndungsfoto aus Atlanta. Auch die Machtposen von Wladimir Putin, mit nacktem Oberkörper auf dem Pferd, könnten Bände füllen.Aber seine Analyse des Faschismus als „nacktester, frechster, erdrückendster und betrügerischster Kapitalismus“, wie Brecht es 1935 formulierte, hat blinde Flecken. Wie Hannah Arendt – die Brechts Theaterstücke und Gedichte bewunderte – über seine politischen Analysen schrieb: Wenn man den Faschismus als bloße Fortsetzung des Klassenkampfes versteht, verharmlost man den Rassismus in seinem Kern. Die rassische Verfolgung wird in einer solchen Interpretation zu einem Ablenkungsmanöver, um die proletarische Wut zu kanalisieren, zu einer „optischen Täuschung“. Dennoch, sagt Tom Kuhn, „hielt Brecht entschlossen an seiner Interpretation des Faschismus fest, und wir können dies durchaus als Manko seiner politischen Analyse lesen. Er hat viel über Rassismus geschrieben, aber er hat die zentrale Bedeutung des Antisemitismus für den Nationalsozialismus unterschätzt.“Als Brecht nach Kriegsende nach Ost-Berlin zurückkehrte und das Berliner Ensemble gründete, geriet er in Konflikt mit der SED und den von ihr eingesetzten Kulturapparatschiks. Doch seine Kritik am Stalinismus und an der Sowjetunion blieb meist eine private Angelegenheit. Sein meistzitiertes Gedicht, das sich über die Reaktion der Partei auf den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 lustig machte, enthielt die Zeile: „Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ Es wurde erst nach seinem Tod veröffentlicht.Gerade weil Brecht in seinen Fotomontagen so viel mit so wenig aussagen konnte, sticht eine Seite im Album BBA 1198 hervor. Hier hat er fünf Fotos von Lenin und Stalin zusammengestellt, aber es gibt keine Gegenüberstellungen, keine offensichtliche Zwiesprache zwischen den Bildern. Es ist fast so, als habe sich der Erfinder des dialektischen Theaters einfach einmal eine Auszeit vom Reflektieren gegönnt.Placeholder infobox-1



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Von Veritatis

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