Parlamentswahl In Roubaix, einer der ärmsten Vorstädte Frankreichs, findet die Linkspartei La France Insoumise (LFI) mit ihren pro-palästinensischen Bewerbern viel Zuspruch


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Ausgabe 26/2024

Überwältigte einen Dieb, der gerade eine Kassiererin in Mouscron angreifen wollte: Der Linke Brahim Ben Ali

Überwältigte einen Dieb, der gerade eine Kassiererin in Mouscron angreifen wollte: Der Linke Brahim Ben Ali

„Islamogauchisme“ (Islamo-Linke), das ist ein Kampfbegriff, mit dem Rechte wie Marine Le Pen derzeit die Linksallianz angreifen, die sich für die Parlamentswahl am 30. Juni und 7. Juli (zweiter Wahlgang) zur „Neuen Volksfront“ zusammengefunden hat. Dabei wird mit „Islamogauchisme“ nichts weiter als die Realität anerkannt, dass heute die Arbeiterklasse in vielen Agglomerationen Vornamen wie Mohammed und Ahmed trägt. Vor allem die Partei La France Insoumise (LFI/Unbeugsames Frankreich) hat sich das umstrittene Etikett „Islamo-Linke“ verdient. Ihr Gründer – der ebenso begnadete wie autoritäre Barrikadenredner Jean-Luc Mélenchon – wurde bei der Präsidentenwahl 2022 von 69 Prozent der französisch

schen Muslime gewählt. Er setzte jüngst im Europawahlkampf ganz auf Solidarität mit Gaza und säuberte die LFI-Liste von Genossen, denen eines gemeinsam war: Sie hatten auch den Terror der Hamas ohne Augenzwinkern verurteilt.In Roubaix, einer der ärmsten und islamischsten Vorstädte Frankreichs, erhielt Mélenchon 2022 52,5 Prozent. LFI stellte einen Bewohner dieser Banlieue bei Lille für das EU-Parlament auf, der jedoch auf dem chancenlosen Listenplatz 20 landete, denn nur neun „Unbeugsame“ wurden gewählt. Jener Bewerber, Brahim Ben Ali, galt als „Stachel im Fleisch“ des Fahrdienstleisters Uber, reiste zur Konzernzentrale nach San Francisco und stützte sich auf Enthüllungen, wonach Emmanuel Macron als Wirtschaftsminister bis 2016 für Uber lobbyiert hatte. Ben Ali warf Uber vor, seine Fahrer unzureichend vor gewalttätigen Fahrgästen zu schützen. Eine seiner empfohlenen Lösungen: „Dashcam“, eine Kamera im Auto. Er sprach schon am 15. Oktober 2023 von einem „laufenden Genozid gegen unschuldige Palästinenser“ und zeigte sich kurz vor der EU-Wahl mit Palästina-Fahne auf einem Friedensmarsch von Roubaix nach Paris. Drei Tage, nachdem in Roubaix eine volle Halle Mélenchon und seiner hinreißenden syrisch-palästinensischen EU-Kandidatin Rima Hassan zugejubelt hatte, machte Ben Ali anderweitig auf sich aufmerksam.Die Zeitung La Voix du Nord schrieb am 20. April: „Der Roubaixer Brahim Ben Ali überwältigte einen Dieb, der gerade eine Kassiererin in Mouscron angreifen wollte.“ Tatort war ein Supermarkt der Kette Carrefour. Ben Ali erzählte in La Voix du Nord die Geschichte: „Ein rasender Wahnsinniger! Ein ziemlich starker und großer Mann. Ich packte ihn sofort am Kragen und sagte ihm, er solle aufhören. Da ich meinerseits Kampfkunst praktiziere und sah, wie er drohend seine Hand in die Hosentasche steckte, warf ich ihn zu Boden und überwältigte ihn.“ Ich mochte Ben Ali allein schon für seinen Satz: „In welcher Welt leben wir eigentlich?“ Alle Umstehenden hatten dem Übergriff untätig zugesehen.Die Dorfbewohner kennen Brahim Ben Ali nichtMouscron oder Moeskroen liegt nebenan in Belgien. Seit jeher dem französisierten Teil Flanderns zugehörig, wurde der Ort 1963 dem frankophonen Hennegau zugeschlagen und dank einer niederländisch sprechenden Minderheit zur „Fazilitätengemeinde“ erhoben. Die Staatsgrenze markiert ein Täfelchen in einer nahtlos bebauten Wohnstraße. Den Supermarkt fand ich sofort – es gibt nur einen.Ben Ali hatte in La Voix du Nord das Fehlen eines Wachmanns beklagt, bei meinem Besuch sah ich indes gleich zwei Wachmänner. Einer stand vor dem angrenzenden Laden Sportsdirect.com, für Kerle aus der französischen Banlieue die eigentliche Attraktion, denn Sportsdirect.com mit seinem Billigsortiment gibt es in Frankreich nicht. Nancy, die am Ohr verletzte Kassiererin aus dem Supermarkt, war nicht da, eine Kollegin bestätigte aber, was Ben Ali geschildert hatte. Dass er Politiker war, wusste sie nicht. Dies schien Ben Alis Problem zu sein: All die Leute mit französischen Kennzeichen, die ich auf dem Parkplatz befragte, hatten weder von seiner Heldentat noch seiner LFI-Kandidatur, geschweige denn überhaupt je von ihm gehört.Ein aus Marokko stammender Kunde mit Ray-Ban-Sonnenbrille, der Ewigkeiten bei laufendem Motor in seinem Sportwagen saß, fand an LFI nur die Gaza-Position und „Rima Hassan!“ gut: „Als Arbeiter bin ich beim Arbeitsrecht links, ansonsten aber rechts. Ich mochte Präsident Jacques Chirac!“ Als Muslim bedauere er, dass man sich im französischen Laizismus nicht öffentlich zu seiner Religion bekennen dürfe.Als an den belgischen Grenztankstellen wieder einmal der Diesel ausverkauft war, hob an der Zapfsäule Völkerverständigung an. Ein schneidiger Biofranzose in blauem Hemd, der sich als Wähler einer impfkritischen Le-Pen-Abspaltung zu erkennen gab („weil meine Schwester an der Corona-Impfung gestorben ist“), wollte mich auf einen Kaffee einladen. Ich fuhr aber lieber nach Roubaix zurück und war bereit, die „islamogauchistische“ Vorstadt ganz furchtbar zu finden, traf an diesem milden Sommerabend im Bahnhofsviertel jedoch nur superfreundliche, in entspannter Diversität verbundene Menschen. An den Eingängen zum Bahnhof waren Fotos der kochenden Roubaixer Großmütter Soubeda, Marie-Claire und Ouassila ausgestellt. Ich bekam ein halbes Hähnchen und drei Schenkel zum sensationellen Gesamtpreis von fünf Euro, ein vorbeischlurfender Trainingsanzug murmelte: „Oh, Hähnchen, genial!“ Allein der Intensivkommunikator an der Kasse eines Automatencafés, ein Enkel algerischer Großeltern, hatte als einziger den Namen Brahim Ben Ali schon einmal gehört. Da ich mit starkem Akzent sprach, verstand er zunächst, Ben Ali habe statt eines Diebs (voleur) einen Vergewaltiger (violeur) überwältigt. „Ach so, einen Dieb“, rief er enttäuscht. „Bei einem Vergewaltiger hätte er mich beeindruckt!“ Später dann traf ich eine schwarz verschleierte Autofahrerin, die zwei bunt verschleierte Frauen vor dem Bahnhof absetzte und fast ohne anzuhalten einen schnauzbärtigen Maghreb-Opa aufnahm. Ich weiß nicht, ob die junge Muslima für Uber fuhr, sie hatte aber eine Dashcam montiert und wirkte nicht unglücklich. Ben Ali wurde für die Parlamentswahl nicht mehr aufgestellt.Placeholder infobox-1



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Von Veritatis

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