Schwer wiegt der Verrat; unerträglich ist der Verrat durch die Heldin. Nun zeigt sich die literarische Öffentlichkeit schockiert angesichts einer Enthüllung, die die im Mai verstorbene Nobelpreisträgerin Alice Munro betrifft: Munros zweiter Ehemann missbrauchte ihre leibliche Tochter seit deren neuntem Lebensjahr. Und die Autorin hielt ihrem Mann auch nach der Enthüllung des Verbrechens die Treue.

Munros Tochter Andrea Robin Skinner zeigte den Fall 2005 an (der Missbrauch fand in den 1970ern statt), ihrer Mutter offenbarte sie sich bereits in den 90er Jahren. Doch es dauerte bis nach Munros Tod, bis der Missbrauchsfall öffentlich wurde. Ganz so, als hätte die Autorin eine schützende Hand umgeben. Oder eben ein schützender Mythos: der Mythos von der selbstermächtigten Frau, die es zu literarischer Größe brachte. Gegen alle Widerstände.

Tochter Andrea Robin Skinner als „Lolita“ beschuldigt

Munros Geschichte, die – wie es sich gehört – ein Happy End zu haben schien, als die „Meisterin der kurzen Form“ 2013 den Nobelpreis für Literatur erhielt, verwandelt sich nun vor den Augen der Welt in eine Tragödie, in der die missbrauchte Tochter mit dem Verrat durch die Mutter zu kämpfen hat. Je mehr man erfährt, desto ungeheuerlicher wird der Fall. Denn ihr Mann stritt die Vorwürfe nicht einmal ab, schob stattdessen dem Kind die Schuld zu, das sich wie eine Lolita verhalten habe.

Munro wiederum fühlte sich, so legt es ein Text der Tochter nahe, wie eine betrogene Ehefrau: Verraten fühlte sie sich nicht von dem Mann, der ihr Kind missbrauchte, sondern von ihrer Tochter, die ihr zweimal den Mann raubte: Weil er Sex mit ihr hatte (weil sie ihn angeblich „anstiftete“) und sie nun Ehe und Ansehen der Autorin gefährdete.

Alice Munro war eine Ikone der Frauenbewegung – bis jetzt

Selbst Literaturstar Margaret Atwood, eine enge Freundin der Autorin, zeigt sich in Interviews geschockt und ratlos. Munro ist eine Ikone, gerade für die Frauenbewegung, und das hängt mit ihrer Geschichte zusammen. Wie so viele Frauen ihrer Generation war sie eine junge Hausfrau und Mutter, als sie mit dem Schreiben begann. Die Lebensumstände bedingten die Form ihres Schaffens: die „kleine“ Form, die Kurzgeschichte, deren besondere Stärke im Sezieren der psychischen Zustände der eigenen Figuren besteht, mit absoluter Schonungslosigkeit. Plötzlich muten die Titel ihrer Kurzgeschichten und Bücher wie Ein-Satz-Geschichten eines Ichs an, das etwas zu verbergen hat über das eigene Liebes Leben und pikiert fragt: Wozu wollen Sie das wissen?

Das Bild der einsamen Dichterin, die ein künstlerisch prekäres Leben führt, in dem sie ständig aufgerieben wird zwischen den Anforderungen des Privaten, der Gesellschaft und des eigenen Schaffens, ist ein wirkmächtiges Narrativ. Auch der Mythos, der Sylvia Plaths tragischen Tod umgibt, hängt mit der prekären Doppelrolle als Dichterin und Mutter zusammen. Ergänzt wird die Erzählung der Selbstbehauptung der Autorinnen durch das Verhängnis, das man Mann nennt. In Munros Fall offenbart sich bei der Re-Lektüre von Interviews, in denen sie von ihrem Mann spricht, eine gehörige Portion Abhängigkeit von demselben. Etwa wenn ihr Mann in einem Interview mit dem New Yorker am Tisch erscheint, damit sie nichts Falsches sage, wie sie scherzhaft anmerkt.

Zu einer feministischen Ermächtigungserzählung gehört auch die Macht der Mutter, die als preisgekrönte Autorin unabhängig sein könnte von dem Mann, der missbraucht. Allerdings gilt ebenso die Binse von den künstlerischen Ikonen, die zuletzt Mensch sind: bisweilen masochistisch, abhängig und blind für die eigenen Verstellungen.



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Von Veri

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