Der Arzt Michail Liontiris hat ehrenamtlich im Gazastreifen gearbeitet – und schildert, wie er den Umgang mit Plünderungen von Hilfskonvois erlebt hat und welche sichtbaren und unsichtbaren Grenzen das Kriegsgebiet durchziehen


Der Arzt Michail Liontiris (mit blauen Hygienehandschuhen) während seiner ehrenamtlichen Arbeit in Gaza

Foto: privat


Der Gazastreifen ist seit Jahrzehnten ein- und ausgegrenztes Gebiet. Im Krieg sind weitere Grenzen hinzugekommen, wie der Arzt Michail Liontiris bei seinem sechswöchigen ehrenamtlichen Einsatz als Notfallmediziner vor Ort beobachten konnte. Viele dieser Grenzen sind auf den ersten Blick nicht erkennbar, und nicht alle werden von Israel kontrolliert. Ein Gespräch über Grenzen – territoriale, ethische und persönliche.

der Freitag: Herr Liontiris, zwei Millionen Menschen leben in Gaza auf zerstörtem und engstem Raum, viele sind verletzt. Wie geht man als Mediziner damit um, dass man nur wenigen helfen kann?

Michail Liontiris: Es ist nicht leicht. Ich erinnere mich an einen Einsatz: Wir mussten Patienten aus dem Norden des Gazastreifens evakuieren, aus dem zu diese

: Es ist nicht leicht. Ich erinnere mich an einen Einsatz: Wir mussten Patienten aus dem Norden des Gazastreifens evakuieren, aus dem zu diesem Zeitpunkt noch belagerten Kamal Adwan Krankenhaus. Das Zeitfenster, das wir hatten, begann sich bereits zu schließen, weil wir vorher an so vielen Checkpoints aufgehalten worden waren. Wir hatten nur eine Ambulanz und sollten so viele Patienten evakuieren wie möglich, doch sie waren in zu schlechtem Zustand; während ich noch versuchte, einen Mann für den Transport zu stabilisieren, hieß es „Sofort raus!“. Ich war mitten in einer intensivmedizinischen Behandlung. Meine Kollegen von der WHO, der Weltgesundheitsorganisation, und den UN haben mich sozusagen wortwörtlich vom Patienten weggezogen. Wir konnten am Ende nur eine einzige Patientin mitnehmen. Zwei wäre das Minimum gewesen. Wir hörten bereits, kurz nachdem wir es im Konvoi verlassen hatten, die Explosionen rund um das Krankenhaus, auf dem Weg zum Holding Point, dann direkt hinter uns.Was ist ein Holding Point?Der Platz, an dem man dann im Konvoi auf grünes Licht wartet, um direkt zum Checkpoint fahren zu dürfen. Das kann Minuten dauern oder Stunden.Im erwähnten Hospital wurden gerade 240 mutmaßliche Hamas-Leute verhaftet, auch der Direktor des Krankenhauses. Wurde hier unterschieden zwischen Hamas und Ärzten, die sich nicht wehren können gegen die Anwesenheit und den Druck der Hamas?Ich glaube, es gibt keinen konkreten Beweis, dass die verhafteten Kollegen etwas mit der Hamas zu tun haben. Sie arbeiten seit Monaten 24/7, mitkaum einer Pause unter massiver physischer und psychischer Belastung. Zu sagen, dass sie zu Hamas gehören, um Angriff und Räumung des letzten funktionierenden Krankenhauses in Nordgaza zu legitimieren, ist eine Beleidigung der Selbstlosigkeit dieser Menschen.Nach wie vor ist der Gazastreifen in zwei Zonen aufgeteilt, der Süden mit Städten wie Rafah und Khan Yunis und dann ist da der unterversorgte und belagerte Norden, mit Gaza City?Ja. Dazwischen, südlich von Gaza, die Evakuierungslinie, die Israel zu Anfang des Krieges festsetzte, dort befindet sich der große israelische Checkpoint.Bei unserem letzten Konvoi in Richtung Süden haben wir an der Straßenseite ein Kind gefunden, es war noch nicht lange totWie schwierig ist es, vom Süden in den Norden zu kommen?Es wurden im November 37 von 41 Konvois abgelehnt. Nicht nur medizinische, auch Hilfsgüter-Kolonnen. Oft besteht ein Konvoi aus unterschiedlichen Trucks: Einer mit Treibstoff, ein A-Truck mit Hilfsgütern, eine Ambulanz. In dieser Besetzung wird der Konvoi dann „ge-green-lighted“. Es ist sehr wichtig, dass Evakuierungs-Ambulanzen dabei sind: Sind wir inkludiert, haben auch die anderen mehr Chancen, reingelassen zu werden.Stimmt es, dass das Prozedere immer unmenschlicher wird?Ich bin ja zum ersten Mal hier gewesen und nur einige Wochen, hatte das Projekt aber schon vorher als ärztlicher Leiter von Berlin aus begleitet. Da bekommt man mit, wie es vorher lief, und tatsächlich wird es zunehmend schlechter, gerade im Norden. Bei unserem letzten Konvoi in Richtung Süden haben wir an der Straßenseite ein Kind gefunden, es war noch nicht lange tot, mit einer einzigen Kugel in den Kopf geschossen, sieben, acht Jahre alt, allein. Vielleicht wollte es über die Grenze, war zu spät dran gewesen und hat es dann in der Nacht versucht. Oder es hattegrünes Licht bekommen, hat passiert und wurde trotzdem getötet. Es gibt keinen Beweis, dass das die IDF waren, die israelische Armee. Wir haben dann das Kind in einen Body-Bag gepackt und im Süden einer Ambulanz übergeben. Wir haben es ins Krankenhaus gebracht.Aber das Kind war tot?Ja. Wir können uns leider nicht leisten, flexibel zu sein, wir hatten eine andere Mission. Zeitfenster schließen sich, unsere Bewegungen von A nach B müssen koordiniert sein, sonst bringen wir uns und andere in Gefahr. Es ist nur Raum für ein kleines bisschen Improvisation.Wie erfahren Sie, wenn sich Grenzen öffnen?Über die humanitären Meetings, die regelmäßig stattfinden, dreimal die Woche. Wir bekommen dann von OCHA, dem UN-Büro, das die humanitäre Hilfe koordiniert, Bescheid, wie viele Trucks reingelassen werden. Man merkt das sofort auf den Märkten, an den Preisen.Ein 25-Kilo-Sack Mehl hat bis vor kurzem im Süden Gazas um die 2.000 Schekel kostet. Das sind über 530 EuroEine Kollegin in Gaza zahlt für eine Flasche Milch 50 Euro – und kann es sich nicht leisten, obwohl ihr Kleinkind mangelernährt ist und nicht laufen kann.Ja, und das ist dann nicht mal eine Flasche frische Milch, wie wir sie kennen. Es gibt nur Milchpulver. Wie die Preise da sind, weiß ich nicht. Aber ein 25-Kilo-Sack Mehl hat bis vor kurzem im Süden um die 2.000 Schekel kostet. Das sind über 530 Euro. Es ist Wahnsinn. Das sind Grundnahrungsmittel, und sie fehlen.Man liest oft, die Hamas überfalle die Trucks und behielte die Nahrungsmittel für sich; tun das noch andere?Ich weiß, es ist zur Zeit nicht das Narrativ, das in Deutschland üblich ist, aber meines Erachtens und auch nach dem, was wir bei den humanitären Meetings hören, ist es eigentlich so gut wie gar nicht die Hamas. Als „Regierung“ hat die eine kontrollierende Rolle, aber es gibt wegen des großen Mangels viele bewaffnete Gangs, „Looters“, nennen wir sie, Plünderer. Die sammeln sich dort, wo die Trucks reinkommen, aber in einiger Entfernung vom Grenzübergang, den das Militär kontrolliert. Im Niemandsland, so ab Khan Yunis, wo alles zerstört ist, nur Hunde herumstreunen, nehmen sie, was sie kriegen können, für ihren eigenen Bedarf und für den Schwarzmarkt.Kann man die verschiedenen Formationen miteinander vergleichen: Kriegsgewinnler, Plünderer, Zivilisten, die einfach nur Hunger haben und nach dem Nötigsten greifen?Also, alle haben hier Hunger! Ich glaube, es hat mit der eigenen Entscheidungskraft zu tun. Es ist eine muslimische Gesellschaft. Deswegen haben die Menschen grundsätzlich einen hohen ethischen Anspruch, einen starken Glauben. Und deshalb werden die Plünderer, die als Diebe angesehen werden, von der Community marginalisiert: Sie werden ihrerseits gejagt: von der Hamas-Security, und von anderen „Familien“, die eigene Checkpoints erstellt haben.Es gibt fliegende, selbstgemachte Checkpoints von großen Familien, die bewaffnet sind, damit die Plünderer nicht in die Communitys reinkommenZivile Kontrollpunkte?Das sind fliegende, selbstgemachte Checkpoints von Familien, großen Familien, die allerdings ebenfalls bewaffnet sind, damit die Looters nicht in die Communitys reinkommen. Auch wir werden, wenn wir mit unserem Ambulanzwagen durchfahren, oft kontrolliert.Das bedeutet: im seit Jahrzehnten eingezäunten Gazastreifen verlaufen jetzt auch intern zahllose neue Grenzen, die nicht nur die Freiheit einschränken, sondern lebensbedrohlich sind. Früher war Israel der Feind, für viele war es die Hamas, jetzt ist jeder ein potenzieller Gegner?Wenn die sehen, dass wir international sind, dann haben die auch nichts gegen uns und lassen uns durch. Sie wollen nur sicher sein, dass das Auto, das wir fahren, nicht den Plünderern gehört und mit gestohlenen Gütern vollgestopft ist.Ist es schwer zu erkennen, wer wer ist?Ja, absolut. Deswegen ist es viel komplexer als „Hamas greift Konvois an und Hilfsgüter ab“. Das ist eigentlich sogar selten der Fall. Die Hamas hat selbst ein Interesse daran, dass die Leute durchhalten und weiter hier bleiben; sie profitieren von der Präsenz der Zivilbevölkerung.Wie grenzen Sie sich als Arzt ab, wenn Leute Priorität fordern, weil sie die Mächtigen sind oder die besonders Hilfsbedürftigen oder …Ich darf nicht diskriminieren. Und natürlich auch ich als Mike, als Person, also mein persönliches Etwas. Allerdings werden uns unsere Patienten von der WHO-Direktion zugewiesen. Das heißt, wir triagieren die Patienten nicht. Wir müssen nicht abwägen. Wir haben es aber in der Vergangenheit beim einheimischen Personal erlebt, wenn Plünderer selbst angegriffen wurden und im Krankenhaus gelandet sind und dann vom lokalen Personal sehr skeptisch behandelt wurden. Meine Kollegen haben das oft erlebt. Wer als kriminell angesehen wird, wer sich als Plünderer entpuppt, hat dann echte Probleme mit der Hamas, der wird geschlagen, getötet … Es gibt kein Justizsystem, das für alle einen fairen Prozess garantieren könnte.Haben Sie eine Ahnung, was nach dem Krieg mit den Looters passiert? Setzen die sich dann ganz schnell ins Ausland ab? Es gibt ja Gruppen, die so gut organisiert sind, dass man es ihnen zutrauen könnte.Schwer zu sagen; es gibt auch Einheimische, die für die Israelis arbeiten, man nennt sie die „Fork-Lift-Mafia“, Gabelstapler-Mafia. Die arbeiten direkt an Grenzübergängen und bekommen so ganz viel von den Hilfsgütern für sich selbst. Die stecken zum Beispiel Zigaretten in bestimmte Paletten, die landen in den WHO-Warehouses und die Folk-Lifter wissen dann ganz genau, welche Palette sie wohin verschieben. Eine Packung Zigaretten kostet 500 Euro.Wir als internationale humanitäre Helfer haben die moralische Verpflichtung, über das zu sprechen, was wir hier sehen und mitkriegenViele Leute werden sehr viel reicher an dieser Krise?Ja, und deswegen ist es so kompliziert. Ich finde, wir als internationale humanitäre Helfer haben die moralische Verpflichtung, über das zu sprechen, was wir hier sehen und mitkriegen.Zumal Journalisten immer noch nicht vor Ort zugelassen sind.­Wenn wir alles nur aus unserer Perspektive sehen, fehlt das „bigger picture“. Wir haben dann nur unser eigenes Leben vor Augen. Zu sagen „Alles Hamas“, ist zu simpel. Das ist ein komplexer Konflikt und er baut auf der Geschichte von mehr als 70, 80 Jahre auf.Kann man von einer Gesellschaft, die seit 2007 unter einem Terror-Regime steht, verlangen, dass sie – während sie seit über einem Jahr im Krieg festsitzt – integer bleibt – oder Zeit hat zu beweisen, dass sie integer ist?Nein. Trotzdem ist die absolute Mehrheit der Bevölkerunghilfsbereit, die Leuteverschenken alles, auch wenn sie selbst kaum was haben. Und ich bin der Meinung, dass Zivilisten, die seit Jahrzehnten eingekesselt und von vielen vergessen sind, nichts zu beweisen haben, gerade dem Westen gegenüber.



Source link

Von Veritatis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert