„Stell dich nicht so an!“, heißt es oft, wenn Frauen an komplexen Krankheitsbildern leiden. Ein systemisches Problem, weiß Sarah Ramey, die schon Reden für Obama schrieb. Diese Ignoranz verschwendet nämlich auch große Potenziale


Frauen sind nachweislich schmerzresistenter

Foto: Eylul Aslan/Connected Archives


Sarah Ramey hat für Obama als Redenschreiberin und Bloggerin gearbeitet. Die „Yes, we can“-Rede, die ihn zum ersten schwarzen Präsidenten der USA machte, ging über ihren Bildschirm. Als Liedermacherin unter dem Pseudonym Wolf Larsen wird sie mit Leonard Cohen verglichen und millionenfach gestreamt. Was jahrelang keiner außerhalb ihres engsten Kreises wusste, ist, dass Ramey sich nach einer Harnwegsinfektion in jungen Jahren auf einer Abwärtsspirale aus chronischem Schmerz, Immunfehlsteuerungen und Isolation befunden hat.

In ihren schlimmsten Monaten konnte sie gerade den Kopf vom Bett erheben, um Hühnersuppe zu schlürfen. Ihr Buch mit dem unnötig albernen Titel Der Club der hysterischen Frauen – auf Englisch heißt es treffender:

zu schlürfen. Ihr Buch mit dem unnötig albernen Titel Der Club der hysterischen Frauen – auf Englisch heißt es treffender: The Lady’s Handbook for Her Mysterious Illness – erzählt ihre Geschichte stellvertretend für Millionen von Frauen, die an komplexen Krankheitsbildern leiden, die sich mit gängiger oder alternativer Medizin weder ausreichend diagnostizieren noch heilen lassen.Larsen leidet an einer Kombination aus Symptomen, die durch die schiere Masse den Großteil an medizinischem Personal mit den Augen rollen lässt oder diejenigen, die doch versuchen zu helfen, letztendlich zur Aufgabe zwingen. Die Pathologien reichen von großen Problemen mit dem Darm über umfassende Unverträglichkeiten bis hin zu hormonellem Ungleichgewicht und Problemen mit Sexualorganen.Frauen sind oft von „mysterious illness“ betroffenDas alles potenziert durch diffuse Schmerzen, die nicht immer an der gleichen Körperstelle wüten, aber ständig zugegen sind. Im dauerhaft unterversorgten Gesundheitssystem der USA sind multiple Behandlungsbedarfe ein zusätzliches Problem, aber auch in Deutschland werden ganzheitliche Ansätze von Krankenkassen nur rudimentär abgedeckt.In ihrem Buch legt Ramey auf fast 600 Seiten detailliert dar, wie sich zwischen Arztbesuchen, Bettlägerigkeit und Versuchen, aus dem gesundheitlichen Käfig auszubrechen, Hoffnung und Verzweiflung abwechseln. Ramey nimmt uns mit in die ungeschönte Welt von vaginalen Schmerzen, Dauerdurchfall, Ekzemen, Morbus Crohn, Depression und Todessehnsucht. Sie seziert die Ursachen und untersucht, auf welchem schiefen Boden aus falscher Ernährung, gestörtem Cortisol-Level oder traumatischer Kindheit Trigger-Infektionen oft landen und die Kettenreaktion chronischer Leiden hervorrufen.Frauen sind besonders von „mysterious illnesses“ betroffen. Laut einer Auswertung der Kaufmännischen Krankenkasse ist jede fünfte Frau wegen chronischer Darmprobleme in Behandlung. Fast 40 Prozent der Frauen klagen über Allergien oder Unverträglichkeiten. Rund 80 Prozent der Patienten mit einer Autoimmunkrankheit sind laut der Pharmazeutischen Zeitung weiblich. Oft treten diese Krankheiten in Kombination auf, fallen in ihrer Komplexität aber durch das in Fachrichtungen gedachte Versorgungssystem. Naturheilkundliche Ansätze entfalten wiederum nicht die nötige medizinische Dringlichkeit, um die häufig akuten und gelegentlich lebensbedrohlichen Symptome wie Atemnot oder Kreislaufversagen zu beheben.Es geht vor allem um SichtbarkeitDas Umfeld von chronisch und komplex erkrankten Menschen reagiert oft hilflos oder desinteressiert. Menschen mit chronischen Erkrankungen enden nicht selten in Isolation und fristen ein trostloses Dasein im Prekariat. Nicht viele finden eine Stimme nach außen, wie die Künstlerin Rachel Litchman, die darüber bloggt, wie ihre Freunde vor allem als Lieferanten fungieren und das einzige Geräusch, das sie manchmal wahrnimmt, das Pfeifen des Windes an ihrem Fenster sei. Der Großteil erkrankter Frauen bleibt unsichtbar und leidet in einer Welt, die weitertreibt.Sarah Ramey beschreibt diese Welt als ungeeignet für Frauen, und sie meint das nicht feministisch, sondern funktional. Frauen seien evolutionsbedingt mit einem erhöhten Alarmsystem ausgestattet, das dafür sorgt, Gefahren und Veränderungsbedarf früh zu erkennen und darauf zu reagieren. Bedauerlicherweise sind Frauen aber nicht mehr in der Position, Entscheidungen zu treffen, die richtungsweisend sein könnten, sondern sind immer noch mehrheitlich mit unterbezahlter oder unbezahlter Arbeit betraut.In leitenden Gremien sind sie in der Minderzahl und finden bestenfalls eine Nische, um gehört zu werden. Das führt laut Ramey dazu, dass das Alarmsystem im Dauereinsatz ist, die Cortisolspiegel im Blut verrückt spielen. Jahrhundertelang habe der weibliche Körper ein genetisches Feuerwerk entfacht, um effektiv zu warnen, das sich heute gegen die eigene Gesundheit richte.Vermeintliche Schwächen sind eigentlich StärkenIn der Tierwelt sind die sensibelsten Tiere oft in der Leitposition, etwa bei Antilopen, die besonders wachsam vor Raubtierangriffen sein müssen, oder bei Rhesusaffen, wo die nervösesten Tiere den Weg vorgeben. Bei uns Menschen gilt hohe Sensibilität oft als kompliziert oder wird gar, bei Kindern zum Beispiel, als Autismus oder ADHS pathologisiert. Dabei gelten über 20 Prozent der Bevölkerung, der Großteil weiblich, als hochsensibel, also mit überdurchschnittlichen sensorischen Fähigkeiten und ausgeprägter Empathie ausgestattet.Hochsensible Personen, medizinisch handlich als sogenannte HSP eingestuft, sind „differenziell suszeptibel“, also fähig, sowohl positive wie negative Einflüsse besonders stark wahrzunehmen und somit wie Orchideen je nach Umfeld besonders gut zu gedeihen oder zu verblühen. Frauen mit chronischen Schmerzen sind oft hochsensibel. Die Gabe der erhöhten Empathie wird dann durch Trauma und Unterdrückung zum Fluch, anstatt eine Bereicherung zu sein.Der Club der hysterischen Frauen plädiert für eine Besinnung auf die Frauenrolle als Kompass und als „Königin der Unterwelt“, also jener Kraft, die keine Angst hat, in die Dunkelheit des Wurzelwerks hinabzusteigen, um herauszufinden, was in den Fundamenten einer Familie, Gesellschaft oder der gesamten Welt marodiert, und es wie eine Schamanin zu heilen.Genug vertuschtIn einer Zeit, in der Politik von alten Männern dominiert wird und Friedensverhandlungen mit Rüstungsbudgets geführt werden, scheint es höchste Zeit zu sein, weibliche Hochsensibilität ans Ruder zu lassen und eine Realität umzubauen, die krank macht.Es gibt dafür noch mehr Argumente: Frauen sind nachweislich schmerz- und hitzeresistenter. Ihr Immunsystem ist reaktiver. Auf alle Typen pathogener Mikroorganismen bezogen, sind Männer eher das Ziel einer Infektion als Frauen. Die weibliche Lebenserwartung ist höher. Selbst in sogenannten Männerdomänen schneiden Frauen besser ab.An der Börse investieren sie mit ruhigerer Hand. In den wenigen Friedensverhandlungen, in denen Frauen die Vertragsabschlüsse führten, sind die Abkommen umfassender. Die Verschwendung dieses Potenzials bei gleichzeitiger Vertuschung chronischer, komplexer Pathologien wird zunehmend unverantwortlicher.



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Von Veritatis

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