Dirk Riedel ist Stahlarbeiter bei Thyssenkrupp, genau wie sein Vater und Großvater. Außerdem ist er Betriebsrat für 10.600 Beschäftigte in Duisburg. Dort geht die Angst um: Was passiert, wenn hier jetzt die Deindustrialisierung beginnt?


„Im Herzen bin ich Stahlarbeiter“, sagt Dirk Riedel. „Das Herz ist das, was du nie vergisst.“

Foto: Max Slobodda für der Freitag


Duisburg ist die „Stahlstadt“. Auf dem Weg zu Thyssenkrupp wird das schon ein paar Straßenbahnstationen vorher klar. Von weitem sieht man die Hochöfen, aus denen Rauch in den Himmel steigt. Die Straßenbahnstationen heißen „Thyssen Tor 10“ oder „Thyssen Kokerei“. Vor dem Werk ist der Arbeitskampf der Belegschaft unübersehbar: Ein Zelt steht dort mit der Aufschrift „Mahnwache“ und „mobiles Betriebsratsbüro“. Es ist einer der Arbeitsplätze von Dirk Riedel. Er ist 49 Jahre alt, Stahlarbeiter und Betriebsrat – und arbeitet schon sein ganzes Leben lang hier.

der Freitag: Du hast dich vorgestellt als „Dirk, Stahlarbeiter“. Dabei bist du gar nicht mehr wirklich Stahlarbeiter, sondern Bet

der Freitag: Du hast dich vorgestellt als „Dirk, Stahlarbeiter“. Dabei bist du gar nicht mehr wirklich Stahlarbeiter, sondern Betriebsrat der Stahlarbeiter.Dirk Riedel: Im Herzen bin ich Stahlarbeiter. Das ist eine Definition, die wirst du nie los. Du hast zwei Organe, das Gehirn und das Herz. Das eine blendet die Sachen aus, die in der Vergangenheit waren. Und das andere ist das Herz, das, was du nie vergisst.Hinter dir stehen deine Arbeitsschuhe.Ja, die trage ich, wenn ich durch die Anlagen gehe. Ich bin für 10.600 Leute hier verantwortlich. Wir laufen jetzt nicht nur in unseren Privatklamotten rum, sondern sind auch oft in Arbeitskleidung bei den Kollegen. Seit dem Tornado, den der Vorstand ausgerufen hat, bin ich eigentlich immer hier.Seit dem Tornado, den der Vorstand ausgerufen hat, bin ich eigentlich immer hierWie verdient man als Stahlarbeiter?Wir haben hier Lohnstufenmodelle. Hier fängt keiner unter 18 Euro die Stunde an. Im Durchschnitt verdient man hier, wenn man verheiratet ist, so 3.000 Euro netto. Es gibt Feiertagszuschläge und man kann sich auch weiterentwickeln und dann auch mehr Geld verdienen.Und du als Betriebsrat?Ich bin eingestiegen mit 3.100 Euro, so wie mein altes Gehalt war. Aktuell verdiene ich 3.046 Euro netto. Meine Frau geht noch bei Lidl arbeiten, an der Kasse, und bringt noch ein bisschen was mit nach Hause.Ist es als Betriebsrat anstrengender, als an den Anlagen zu arbeiten?Na sicher. Wenn man Betriebsrat werden will, muss man wissen, worauf man sich einlässt. Da ist auch viel ehrenamtliche, unbezahlte Arbeit dabei. Das ist auch in Ordnung so. In guten Zeiten hast du einen relativ einfachen Job, kümmerst dich um die Belange der Kollegen, ein paar arbeitsrechtliche Dinge. Aber in schweren Zeiten musst du alles an die Seite stellen. Früher war ich auf Schicht 4: Zwei Tage von 5.30 Uhr bis 13.30 Uhr, zwei Tage 13.30 Uhr bis 21.30 und die Nachtschichten von 21.30 Uhr bis 5.30 Uhr. Das machst du sechs Tage und hast zwei Tage frei. Und deine Arbeitszeiten heute?Morgens bin ich um fünf, halb sechs hier und mache Kaffee, baue die Mahnwache auf. Der Arbeitstag geht bis 22 Uhr, 23 Uhr. 15 bis 17 Stunden pro Tag und das seit 130 Tagen.Wie sieht so ein Tag von dir aus?Gespräche mit Kollegen. Gespräche mit dem Betriebsrat. Donnerstags ist Betriebsratssitzung, ab 7 Uhr. Am meisten Spaß machen mir die Gespräche mit meinen Kollegen. Man kann nicht immer alles retten, aber das ist meine Bestimmung, den Kollegen bei ihren Problemen zu helfen. Termine, Termine, Termine. Sitzungen, Sitzungen, Sitzungen. Mahnwache. Und dann müssen wir natürlich auch den Kollegen alles erklären, vieles am Arbeitskampf hier ist sehr komplex. Daraus bestehen meine Tage.Die Wechselschicht – unabhängig, wo du arbeitest – macht was mit deinem KörperPlaceholder image-1Was bedeutet es körperlich, als Stahlarbeiter zu arbeiten?Die Wechselschicht – unabhängig, wo du arbeitest – macht was mit deinem Körper. Der Biorhythmus ist gestört. Viele haben Bluthochdruck. Viele haben muskuläre Erkrankungen. Ich wurde auch schon an der Bandscheibe operiert. Die alte Kokerei war eine Dreckschleuder. Zu bestimmten Tageszeiten konntest du nicht das Fenster öffnen. Da hatten viele Kollegen Atemprobleme. Im Stahlwerk hast du zig Risiken. Aber mit den Modernisierungen hat sich viel getan.Wie bist du zu deinem Job gekommen?Bei uns ist das Familientradition. Papa Thyssen, Opa Thyssen, Onkel Thyssen, sogar meine Tante war bei Thyssen. Mein Vater hat immer gesagt: Junge, geh nach Thyssen, da scheint dir die Sonne aus’m Arsch. Ich wollte eigentlich Makler werden und dann nach Miami oder Beverly Hills auswandern und für Johnny Depp ein Häuschen suchen. Aber mein Papa hat immer gesagt, geh ma’ nach Thyssen. Ich habe dann eine Ausbildung als Industriemechaniker gemacht und mein Fach-Abi. Bin in der Produktion bei Thyssen gelandet. Und auch geblieben.Und dein Sohn? Wird der auch mal hier arbeiten?Klar würde ich mich darüber freuen. Aber er muss es nicht, er kann selbst entscheiden. Wir kämpfen für die Generationen nach uns. Wir sind Deutschlands größter Stahlhersteller. Was passiert, wenn sowas wegfallen würde? Was passiert mit unseren Kindern? Wo sollen sie arbeiten? Das macht mir Sorgen.Wir kämpfen für die Generationen nach unsWorum geht es gerade beim Arbeitskampf?11.000 Arbeitsplätze stehen hier auf dem Spiel. Von insgesamt 27.000. Damit die ganze Stadt. 6.000 Arbeitsplätze sollen outgesourct werden.Das heißt, Leiharbeiter sollen für weniger Geld arbeiten?Das sagen die nicht, was das genau bedeutet. Arbeitgeber tun ja oft so, als wäre es gut für alle. Wird es aber nicht sein. Wir reden hier von einer Transformation. Green Steel. Wir haben Habeck hier hingeholt, er hat vor 17.000 Kollegen gesprochen. Er hat uns knapp zwei Milliarden Euro Fördergelder zugesagt und die hat er uns auch gegeben. Davon wird ein neuer Ofen gebaut, der den ersten grünen Stahl produzieren wird. Klar, wir kämpfen gegen einen bösen Arbeitgeber. Auf der anderen Seite sehen wir aber auch, dass die Rahmenbedingungen für die Transformation gar nicht gegeben sind.Placeholder image-2Wenn du Arbeitsminister wärst, was würdest du machen?Industriestrom einführen. Wir brauchen einen Brückenstrompreis. So ein Hochofen, der verbraucht so viel Terawatt, das kann man gar nicht aussprechen. Wenn wir die Transformation wollen, dann müssen wir auch die Rahmenbedingungen dafür schaffen. Am 15. März haben wir einen dezentralen Industrie-Aktionstag gemacht. Eine Großdemo aller Stahlunternehmen und der Chemie und der Industrie. Um der Politik zu sagen: Wir brauchen hier dringend Hilfe. Wir haben keine Zeit für Koalitionsgespräche. Kommen die nicht in die Pötte, dann reden wir von einer Deindustrialisierung.Was würde das bedeuten?Wenn hier einer seinen Arbeitsplatz verliert, verlieren außerhalb dieser Hütte fünf bis sechs Kollegen ebenfalls den Arbeitsplatz. Dann bricht unser Land zusammen, vor allem das Ruhrgebiet. Wir sind ja schon arm, hier sind viele an der Armutsgrenze. Die Politik muss jetzt zur Besinnung kommen. Wenn hier die Deindustrialisierung beginnt, dann gute Nacht. Dann gibt es morgen ein Erdbeben in Berlin und dann wundern sie sich, dass die Blauen aus den Ecken kommen.Das ist das Schlimmste, was uns passieren kann. Dass der Faschismus wiederkommt. Dagegen müssen wir uns wehren. Aus Protest wird Wut und aus Wut kommen dann die Blauen. Wir sehen die Wahlergebnisse, nicht nur im Osten, auch hier bei uns im Westen. Das ist auch die Verantwortungslosigkeit der Unternehmen. Der CEO López (Anmerk. d. Red.: Vorstandsvorsitzender Miguel Ángel López Borrego) macht sich keine Gedanken, was Arbeitsplatzverlust bedeutet. Wir sind hier alle nicht mit Gold in den Taschen geboren worden. Wir sind hier alle nicht mit Gold in den Taschen geboren wordenDu bist verheiratet und hast ein Kind – was sagt deine Familie zu deinem Arbeitspensum?Begeistert ist meine Frau sicher nicht, aber sie weiß ja, wofür ich das mache. Sie macht sich Sorgen um meine Gesundheit. Sie sagt: Es bringt ja nichts, wenn mein Sohn irgendwann ohne Papa groß wird. Aber ich bin ja kein Einzelkämpfer, wir machen das hier für uns alle. Mein Vater war eine Autorität, er ist 2012 verstorben. Man redet noch heute gut über ihn. So möchte ich das auch. Dass mein Sohn stolz sein kann, wer ich war. Das ist meine Intention des Lebens. Mich fragen manchmal Leute, ob es sich überhaupt lohnt, zu kämpfen. Ich sage dann: Wer nicht kämpft, hat schon verloren.



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Von Veritatis

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