Viele kennen noch den Sponti-Spruch: „Anarchie ist machbar, Herr Nachbar!“ Skeptische Zeitgenossen wenden dagegen ein, dass Menschen nun einmal jemanden bräuchten, der ihnen sagt, wo es langgeht. Dabei zeigt die Erfahrung, dass kein Betrieb und keine Verwaltung ohne die Eigeninitiative der darin Beschäftigten auch nur einigermaßen funktioniert. „Wir organisieren uns andauernd selbst und leisten ständig gegenseitige Hilfe“, schreibt der 2020 überraschend verstorbene Ethnologe David Graeber in seinem jetzt in deutscher Übersetzung vorliegenden Essay Einen Westen hat es nie gegeben. Sowieso: „Dienst nach Vorschrift“ oder „Quiet Quitting“gelten heute sogar als eine milde Form von Sabotage.
Kulturelle Improvisation
Eben
Viele kennen noch den Sponti-Spruch: „Anarchie ist machbar, Herr Nachbar!“ Skeptische Zeitgenossen wenden dagegen ein, dass Menschen nun einmal jemanden bräuchten, der ihnen sagt, wo es langgeht. Dabei zeigt die Erfahrung, dass kein Betrieb und keine Verwaltung ohne die Eigeninitiative der darin Beschäftigten auch nur einigermaßen funktioniert. „Wir organisieren uns andauernd selbst und leisten ständig gegenseitige Hilfe“, schreibt der 2020 überraschend verstorbene Ethnologe David Graeber in seinem jetzt in deutscher Übersetzung vorliegenden Essay Einen Westen hat es nie gegeben. Sowieso: „Dienst nach Vorschrift“ oder „Quiet Quitting“gelten heute sogar als eine milde Form von Sabotage.
Kulturelle Improvisation
Ebenso weit verbreitet wie die Neigung zur Eigeninitiative im betrieblichen Leben ist die Demokratie im politischen. Jedenfalls dann, wenn man den Begriff nicht nur für parlamentarische, sondern für alle Praktiken egalitärer Entscheidungsfindung mit einbezieht: das Auslosen von Ämtern, Rätesysteme mit imperativem Mandat oder die mitunter sehr komplexen Konsensverfahren, wie sie die Ethnologie bei vielen Gesellschaften ohne Staat untersucht hat.
Graeber schreibt: „Wenn Demokratie einfach eine Sache von Gemeinschaften ist, die ihre eigenen Angelegenheiten durch den offenen und verhältnismäßig egalitären Prozess einer öffentlichen Diskussion regeln, besteht kein Anlass, warum egalitäre Formen der Entscheidungsfindung in ländlichen Gemeinschaften Afrikas oder Brasiliens sich des Namens nicht mindestens ebenso würdig erweisen sollten wie die konstitutionellen Systeme, die heute in den meisten Nationalstaaten regieren – und in vielen Fällen wahrscheinlich um einiges würdiger.“
Eine demokratische Praxis erwachse für gewöhnlich aus Situationen, in denen es Gemeinschaften welcher Art auch immer gelinge, ihre Angelegenheiten außerhalb des staatlichen Geltungsbereichs zu regeln. In historischer Perspektive, davon ist Graeber überzeugt, handelte es sich oftmals um „politische Projekte“, mit denen sich Menschen von den vorhandenen Herrschaftsformen abgrenzten. Ausführlich schildert er das Beispiel einer im hügeligen Hinterland der Insel Madagaskar siedelnden Bevölkerungsgruppe, deren Angehörige ihr Nicht-einverstanden-Sein mit den vom 16. bis zum 19. Jahrhundert existierenden Königtümern der Küstenregionen auf eine spezielle Weise demonstrierten. In Abgrenzung zum obligatorischen offiziellen Trauerritual ließen sie sich die Haare nicht schneiden, wenn einer der herrschenden Potentaten verstarb. Die widerständige Haltung spiegelt sich auch in ihrem Namen wieder: Tsimihety, „jene, die sich die Haare nicht schneiden“. Immer hätten sich Einzelne und Gruppen verschiedener Herkunft ganz bewusst dem Einzugsbereich des Staates entzogen. Graeber spricht von Zonen kultureller Improvisation.
Der Autor deutet an, dass die Globalgeschichte der Demokratie auch als eine Geschichte der Flucht vor dem Staat geschrieben werden könnte. Hierhin gehören die multiethnischen Republiken ehemaliger Sklaven, die sich selbst befreit haben, aber auch Piratenschiffe im 17. und 18. Jahrhundert, auf denen es erstaunlich oft höchst demokratisch und gerecht zuging – Invalidenversicherung für Mannschaftsangehörige inklusive. Die Besatzungen der Schiffe, so Graeber, „bestanden auf ihrem Recht, ihre Kapitäne im Falle von Feigheit, Grausamkeit oder irgendeinem anderen Grund jederzeit ihres Postens entheben zu können. In jedem Fall lag die letzte Entscheidungsgewalt bei einer Vollversammlung, die oft sogar über ganz geringfügige Angelegenheiten befand – immer, wie es scheint, nach dem Mehrheitsprinzip und mittels Abstimmung durch Handzeichen.“ Kein Wunder, dass Piraten seit langem zum Grundbestand fortschrittlicher Freiheitsmythen gehören.
Einen vielleicht noch größeren Stellenwert als Freiheits-Chiffre hat der „Edle Wilde“ in der politischen Ideengeschichte erlangt. Auch hier haben wir es keinesfalls mit einer bloßen Projektionsfläche zu tun. Historisch überliefert ist, dass die ersten Kolonisten zu Tausenden zu ihren indianischen Nachbarn überliefen. Vor etwa 30 Jahren begann in den USA ein heftig geführter Historikerstreit um die Frage, ob die Haudenosaunee – in Deutschland als Konföderation der Irokesen bekannt – einen Einfluss auf den Geist und die Gestalt der US-Verfassung gehabt haben. In einem eigenen Kapitel schildert Graeber den Verlauf der Debatte. Viele Indianer unterstützten die Einflussthese nach Kräften, die auf den heftigen Widerstand von Historikern stieß. Graeber selbst argumentiert, dass die Konföderation der Haudenosaunee nicht das einzige, aber neben biblischen, klassischen und europäischen Beispielen wie dem Buch der Richter, dem Achäischen Bund oder den Vereinigten Provinzen der Niederlande ein weiteres Beispiel für ein föderales politisches System war, das die US-Gründerväter diskutierten. Auch hier wäre die Suche nach dem einen Ursprung der Demokratie ein fruchtloses Unterfangen. Dem Alleinvertretungsanspruch des „Westens“ in Sachen Freiheit und Gleichheit, hierin muss Graeber zugestimmt werden, ist jedenfalls eine deutliche Absage zu erteilen.
Der schon Anfang der nuller Jahre verfasste Essay enthält im Keim bereits Gedanken, die Graeber in dem mit David Wengrow publizierten Bestseller Anfänge ausgeführt hat. In Teilen geht er aber auch darüber hinaus und argumentiert präziser. Daher lohnt sich die Lektüre für Einsteiger genauso wie für Leser, die diese Neue Geschichte der Menschheit bereits kennen.
Einen Westen hat es nie gegeben & Fragmente einer anarchistischen Anthropologie David Graeber Werner Petermann (Übers.), Unrast 2022, 204 S., 16 €
Von Thomas Wagner ist kürzlich bei Matthes & Seitz das Buch Fahnenflucht in die Freiheit. Wie der Staat sich seine Feinde schuf – Skizzen zur Globalgeschichte der Demokratie erschienen