Das weiße Blatt Papier ist in China zum Symbol des Widerstandes gegen die Zero-Covid-Politik geworden. Weiß, wegen der Zensur, und trotzdem weiß jede:r, was darauf steht. Eigentlich braucht es nicht einmal das Blatt: Nachdem die Polizei die weißen Blätter untersagt hatte, stellte sich in Hangzhou eine Frau mit leeren Händen hin, als würde sie ein Blatt Papier halten.

Was als Trauerbekundung für Opfer eines Wohnhausbrandes in Urumchi begann, breitete sich schnell aus. Am 24. November verbrannten zehn Menschen, weil ihr Wohnhaus wegen Covid-Fällen abgeriegelt war. Am 18. September war in Guizhou ein Bus mit 27 Menschen, die in ein Quarantäne-Camp transportiert werden sollten, verunglückt; alle starben. Anfang September hatten bei einem Erdbeben in Sichuan Menschen, die aus ihren Häusern fliehen wollten, verschlossene Tore vorgefunden. Das ganze Land ist traumatisiert von unkalkulierbaren Serien-Lockdowns. Trotz Zensur ist das chinesische Internet voll mit Geschichten von Menschen, die ohne Essen in ihren Wohnungen eingesperrt waren. Von Menschen, die sich aus abgeriegelten Hochhäusern in den Freitod stürzten.

Während die Regierung den Menschen erklärte, dass eine strikte Politik zur Verhinderung jeder Corona-Infektion der einzige Weg sei, um hohe Todeszahlen zu vermeiden, starben Menschen an ebendieser Zero-Covid-Politik. Im Fernsehen aber sahen die Chines:innen feiernde Massen bei der Fußball-WM in Katar – ohne Masken. Es ist schon fast eine Ironie, dass ausgerechnet diese WM, die in Deutschland wegen der Menschenrechtslage in der Kritik stand, in China zu einem Funken für Proteste für Freiheit und Menschenrechte wurde.

Proteste sind in China an und für sich nichts Ungewöhnliches, auch wenn man hierzulande wenig davon mitbekommt. Anders aber ist diesmal die landesweite Dimension und dass der Protest von der Mittelschicht und den Studierenden getragen wird. An 79 Universitäten wurde demonstriert, darunter an den Parteikaderschmieden Tsinghua und Renmin. Die Menschen fordern nicht nur ein Ende der Zero-Covid-Politik, sondern bürgerliche Rechte und Freiheit: „Gebt uns das Kino zurück, wir wollen freies Kino. Wir wollen Meinungsfreiheit. Gebt uns die Medien zurück. Gebt uns den Journalismus zurück.“ Sie singen die Internationale. Auch Forderungen nach dem Rücktritt Xi Jinpings gibt es: „Tritt ab, wir brauchen keinen Kaiser!“

Der Staatsapparat versucht zu zensieren, kommt aber nicht hinterher. Die Protestierenden sind kreativ: Als die Polizei sie im Zentrum Pekings bat, mit dem Ruf „Keine Lockdowns mehr“ aufzuhören, erwiderten sie „Mehr Lockdowns! Wir wollen mehr Covid-Tests!“ In Shanghai ließ sich ein Mann mit Alpakas vor dem Urumchi-Straßenschild fotografieren. Das Bild verbreitete sich rasant. Alpakas sind der Doppelgänger des mythologischen Tieres Caonima, übersetzt „Grasschlammpferd“. Seit Beginn der Zensur bevölkert es das Internet – es ist gleichlautend mit dem chinesischen Schimpfwort „F… your mother“.

Der wichtigste Effekt dieser Proteste ist die kognitive Befreiung für Beteiligte. Das Wissen, nicht alleine zu sein. Das körperliche Erlebnis, öffentlich Worte zu formulieren, von denen man nie gedacht hätte, dass man sie gemeinsam mit anderen rufen würde. Das ist die Grundlage für künftige Solidarität, für eine neue bürgerliche Bewegung.

Marina Rudyak ist Sinologin und arbeitet an der Uni Heidelberg. Sie spricht fließend Mandarin und Russisch, unter anderem



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Von Veritatis

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