Interview Der Schriftsteller Frédéric Valin arbeitete bis 2020 als Pfleger in Teilzeit. Dann kündigte er. Sein autofiktionaler Roman „Ein Haus voller Wände“ porträtiert liebevoll und drastisch den Alltag einer Behinderten-WG

„Pflegende sind manchmal gar nicht so nett, wie alle immer denken“

„Pflegende sind manchmal gar nicht so nett, wie alle immer denken“

Foto: Kien Hoang Le/Agentur Focus

Obwohl er seinen Job in einer WG für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung sehr mochte, kündigte Frédéric Valin 2020 wie viele engagierte Pflegekräfte in der Pandemie aus Frust über die Arbeitsbedingungen. Valin, aufgewachsen zwischen „zugeschissenen Hügeln und Kirchenglocken“ im Allgäu, kam 2003 nach Berlin, studierte Soziale Arbeit und Literaturwissenschaft. Nach seinem Zivildienst mit Schwerstbehinderten arbeitete der Journalist und Autor immer wieder Teilzeit in der Pflege. Sein Buch Haus voller Wände ist ein liebevolles Porträt der WG-Bewohner*innen; die Innensicht einer kaum bekannten Welt.

der Freitag: Herr Valin, Sie erzählen in Ihrem Buch von Ihrer Zeit als Pfleger in einer sogenannten Behinderten-WG. Was h

ger in einer sogenannten Behinderten-WG. Was hat Sie dazu bewogen?Frédéric Valin: Ich wollte schlicht zeigen, dass es auch Menschen sind. Man kennt die Roadmovievorlagen Forrest Gump oder Rain Man, es gibt die Ziviromane mit behinderten Nebenfiguren, die einen lustigen Touch reinbringen, oder Bücher der Eltern von Kindern mit entsprechender Diagnose. Es gibt jedoch kaum Literatur von Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung über sich selbst, aber man kommt schon näher dran, wenn man will, und das wollte ich versuchen.Das Buch enthält auch eher journalistische Exkurse zum Beispiel zu behindertenfeindlicher Sprache, trotzdem nennt der Verlag das Buch einen Roman. Wollte man die porträtierten Bewohner dadurch schützen?Auch, sie können sich ja nicht wehren. Ich selbst verstehe das Buch als multiperspektivisches Porträt einer Institution. Das Repetitive des Alltags in solchen Institutionen ist der Idee von Zeit und Handlung eines klassischen Romans entgegengesetzt, daher die unterschiedlichen Textsorten – aber weil Bücher Zuordnungen brauchen, habe ich dem Verlag erlaubt, Roman zu sagen.Sie haben gekündigt, als die Hausleitung sich weigerte, die vulnerablen Bewohner*innen angemessen vor Corona zu schützen, und sich jeden Widerspruch verbat. Sollte das Label Roman auch Sie selbst schützen?Dass ich bestimmte Namen nicht nenne, schützt mich vielleicht vor Klagen. Trotz Fachkräftemangel finden diejenigen, die sich kritisch äußern, kaum noch Jobs. Da ist eine doppelte Angst: die vor dem Arbeitgeber und vor dem Publikum. Gerade weil sie als Held*innen dargestellt werden, kommen die Pflegenden dem Ideal nicht hinterher, sind oft frustriert und manchmal gar nicht so nett, wie alle immer denken. Sie werden dafür bezahlt, dass sie das Ganze von der Öffentlichkeit weghalten, und wenn sie anfangen, sich zu äußern und die Unmenschlichkeit der Institutionen zur Sprache zu bringen, haben sie plötzlich nicht mehr so viele Freund*innen.Immer mehr Leute kündigen. Wie kann es sein, dass sich die Branche noch leistet, engagierte Leute zu vergraulen?Wenn einmal im Jahr beim Sommerfest der Aufsichtsrat durch unser Gebäude spaziert ist, haben sich die Diensthabenden sofort vorgestellt, um nicht verwechselt zu werden mit den Gepflegten. Die Leitungen wissen oft nicht, wen sie da verwalten. Das Management kommt oft frisch von der Uni, oft aus Wirtschaftsstudiengängen. Wenn es durch zu wenig Personal eine Unterversorgung gibt, juckt das niemanden groß. Innerhalb der Institutionen gibt es auch keine Fehlerkultur. Eltern, die in solchen Einrichtungen nerven, sind das einzige Korrektiv.Sie schreiben, dass nicht wenige Care-Arbeitende für einen sozialen Beruf ungeeignet sind. Trägt das System eine Mitschuld?Die Ausbildung und das mangelnde Mitspracherecht tragen dazu bei. Das Aufgabenpaket, das Sie mitkriegen, überfordert die meisten, auch mich. Irgendwann geht man in die sogenannte interessierte Selbstgefährdung, man sieht sich selbst dabei zu, wie man auf Kosten der Gesundheit arbeitet.Die Arbeit führt zu Abstumpfung, Sie wurden jedoch sensibler …Der Job macht grundsätzlich sensibler, aber es gibt Momente, da macht man aus Überforderung zu. Menschen derart nahezukommen, ist etwas Wertvolles. Nur wenn das zu oft traurig endet, wird’s halt düster und man hält es von sich weg. Den Umgang miteinander in Journalismus und Werbung, wo ich herkam, fand ich ganz furchtbar, ich war den WG-Bewohner*innen dankbar, dass sie mir gegenüber so unverstellt und offen waren. Dass sie keine andere Wahl hatten und es auch Teil meiner Macht war, dass sie mir gegenüber so sein mussten, habe ich erst später verstanden.Sie schreiben: „Pflege und Betreuung sind immer auch Zwang und Gewalt.“ Ginge es auch ohne?Nein, alles ist auch Zurichtung, solange man einen gesamten Personenkreis übervorteilt und ihm das Label „behindert“ anklebt. Es müsste eine komplett andere Gesellschaft her, das sehe ich nicht kommen. Insofern muss man anerkennen, dass es diese Gewalt gibt.Placeholder infobox-1Gewalt? Wie muss man sich das vorstellen? Mussten Sie sich manchmal zusammenreißen?Nicht alle Gewalt ist ein Übergriff, gerade in Heimen spielt die strukturelle Gewalt eine wichtige Rolle. Es gibt sehr festgefügte Tagesabläufe, Ablaufpläne und so weiter. Darein müssen sich alle fügen, sonst ist eine Betreuung nicht zu gewährleisten. Es verschiebt sich durch Pflege auch die Grenze dessen, was als Intimsphäre wahrgenommen wird. Wenn man 20 oder 50 Jahre lang Hilfe bei der Körperpflege bekommt, ist man zugerichtet, hospitalisiert. Wenn ich als neuer Pfleger dann sage, „Duschen mit Barbara hat super geklappt“, hat das halt auch deswegen geklappt, weil sie gar nicht mehr weiß, dass sie Nein sagen kann. Da profitiere ich dann von vorangegangener Gewalt. Noch deutlicher wird das bei Menschen mit Demenz im Endstadium: Eine Bewohnerin erstarrte, sobald man sie wusch. Sie wollte vermutlich nicht, aber was soll man da machen? Sie in ihren Exkrementen liegen lassen, bis sie offene Stellen hat, Infektionen inklusive der wirklich üblen Schmerzen, dann Sepsis und Exitus? Es gibt in diesen Kontexten viel Gewalt, die unnötig ist, die gilt es einzuhegen, und andere, die nicht zu vermeiden ist.Hat die Pandemie generell in der Gesellschaft etwas ans Tageslicht gebracht, was vorher noch notdürftig kaschiert werden konnte?Die Kaschierung hat sich verschoben. Ein Bruch, den man immer noch nicht sieht, ist der zwischen Pflegenden und Gepflegten. Der Applaus zu Beginn der Pandemie galt den Pflegenden, die dafür sorgen, dass die Gepflegten versorgt werden. Das ist eine Arbeitsteilung, die Pflegende auch gern annehmen. Je besser sie diese Leute verwalten, desto weniger hört man von denen. Das sollte insbesondere Linke stutzig machen, aber in der Pandemie hat man gemerkt, dass sich die meisten nicht für diese Randgruppen interessieren. Da hat die linke Solidarität ihre Grenzen, die sie aber ungern reflektiert. Die Linke ist sich ihrer Menschenfeindlichkeit nicht bewusst, aber wenn sie ihren Selbstanspruch der Gerechtigkeit für alle einlösen will, müsste sie sich dem stellen. Die Pandemie war da eine Chance, sich neu zu justieren. Es hat sich jedoch generell eingebürgert, vom „Schutz der Risikogruppen“ zu sprechen, was meint, die Leute aus der gesellschaftliche Teilhabe zu entfernen und zu bestrafen. Das hat mich das Vertrauen in die Gesellschaft gekostet.Ist es ein therapeutischer Akt, das Erlebte und die eigene Ohnmacht in diesem System in Worte zu fassen und damit sogar ein Publikum zu erreichen?Wenn ich eins gelernt habe, dann, dass das Publikum kein guter Therapeut ist. Nach meinen journalistischen Texten zum Thema haben mir Corona-Leugner*innen den Tod gewünscht. Und die Umstände des Sterbens einer Bewohnerin kann ich nicht durch Schreiben verarbeiten, das war zu traumatisch. Es hilft nicht, zu schweigen, aber das Aussprechen allein heilt nicht. Dazu müsste das Gesagte auch etwas bewirken. Aber die Öffentlichkeit ist in den letzten zwei Jahren für Kranke immer gefährlicher geworden. Es war eher ein Akt der Notwehr, das Buch zu schreiben. Ich habe es für die getan, die mehr wissen wollen.Sie setzen wahrscheinlich keine große Hoffnungen in die von Karl Lauterbach angekündigte Reform des Gesundheitssystems?Vorne dran steht bei allen Reformen seit den Neunzigern immer Kostenneutralität. Dabei gab es in allen Bereichen einen Zuwachs an Leuten, die Hilfe brauchen. Der Gesundheitsminister will eine Stabilisierung des Systems, nötig ist jedoch eine Änderung der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Krankheiten. Das kann Lauterbach oder Politik nicht leisten.In der Pflege wollen Sie nicht mehr arbeiten, im Journalismus hat es Ihnen nicht gefallen. Was machen Sie jetzt?Ich bin Hochrisikogruppe und kann deswegen gerade nicht viel tun. Journalismus ist da kompatibler als Pflege, also wird es erst mal in diese Richtung gehen. Irgendwann wird diese Pandemie auch enden, entweder wenn sich eine weniger verheerende Variante des Virus durchsetzt oder sich ein relevanter Teil der Bevölkerung nach der dritten bis siebten Infektion Blutgefäße, Organe und/oder das Immunsystem zerschossen hat. Dann implodiert der liberale Freiheitsbegriff von selbst. Bis dahin schreibe ich vielleicht noch ein Buch darüber, wie es war, ein Jahr lang mit einer dementen Dichterin zusammenzuleben.Placeholder authorbio-1



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Von Veritatis

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