Eine einsame, schwer traumatisierte Frau in einem kleinen Haus, tief im Wald. Wer ist die Namenlose, die ganz allein eine halbe Stunde lang ihre Verzweiflung gegen vierfach besetzte Bläser anschreit? Keinerlei Form hält diese Musik zusammen. Nichts spendet der Frau Trost. Ihre Geschichte bleibt im Dunkeln. Die Seele liegt blank in Arnold Schönbergs Monodram Erwartung, komponiert 1909.

Soeben hieß dieselbe Frau noch Dido, tragische Königin von Karthago, entwurzelt vom Krieg, unglücklich verliebt in den aus Troja geflüchteten Aeneas. Aber davon ist im verschneiten Münchner Bühnenwinterwald nichts übrig. Von antikischer Wucht ist das, was geschieht, allemal. Die merkwürdigen Gefährtinnen, die Dido umschwirren, sehen aus wie seltsam ku

aus wie seltsam kunterbunte Menschen, sind aber Wahngebilde, Hexen. Dido ist dem Wahnsinn nah in dieser ersten Oper englischer Sprache, der einzigen und ganz außergewöhnlichen von Henry Purcell, komponiert 1689.Bei Purcell singen auch andere, bei Schönberg nur eine – aber bei beiden dreht sich alles um die Zerrissene. In der Stimme von Aušrinė Stundytė flackert permanent Hysterie. Sie lässt Seelenqualen hören, und das geht nicht mit Wohlklang. Gleichwohl ist ihr Gesang betörend und von flirrender Intensität, nicht nur in den atonalen Gefühlsausbrüchen Schönbergs, sondern fast noch beeindruckender in der eigentlich gefälligeren Barockmusik.Aus dem Orchestergraben kommentieren das barock besetzte Orchester und vor allem der Chor mit kraftvollen Passagen das Leiden der Frau: „Große Seelen zermartern sich selbst.“ Atemberaubend, wie die begnadete Sängerdarstellerin die Pole der Musikgeschichte miteinander ohne Pause zu einer szenischen und verblüffenderweise auch musikalischen Einheit verbindet.Auch Andrew Manze, der englische Dirigent, bringt beides, Wiener Seelenekstase und feingliedrigen Barock, wie selbstverständlich auf einen Nenner. Dabei hilft ihm die innere Verwandtschaft der beiden Werke. Auch Purcell war, wie später Schönberg, ein Neuerer. Drei Akte verdichtet er auf eine Stunde – in Frankreich und Italien sind Opern damals nicht unter vier Stunden zu haben. Auch prunkt Purcell nicht mit großen Arien, verzichtet auf virtuoses Belcanto – es gibt in London noch keine spezialisierten Opernsänger –, sondern setzt, seiner Zeit voraus, auf reinen Ausdruck. Aus dem musikalischen Geflecht ragt nur das berühmte Lamento heraus, ein einziges Seufzen über einer absteigenden Basslinie: „When I am laid in earth“. Das klingt unglaublich modern, beinahe moderner als Schönbergs Expressionismus in Noten – ein genialer Song, schlicht und ergreifend wie Rockmusik.Bei Purcell tötet sich Dido selbst. Aber weil in München noch Schönbergs Einakter folgt, erstarrt sie bloß zur berückend betrauerten Mumie. Extreme Emotionalität verbindet die beiden Werke. Und hier noch ein drittes musikalisches Element eines weiteren Komponisten. Speziell für diese Produktion hat Paweł Mykietyn ein zehnminütiges elektronisches Interlude für Tänzerinnen und Tänzer geschrieben, klassisches Ballett fusioniert mit mitreißendem Breakdance. Es bricht die Seelenqual – und passt dennoch perfekt dazu.Jede Regel lehnt er abSchönbergs Absicht in seinem Einakter Erwartung ist, „das, was sich in einer Sekunde seelischer höchster Erregung abspielt, sozusagen mit der Zeitlupe, auf eine halbe Stunde ausgedehnt, darzustellen.“ Es ist das Protokoll eines psychischen Ausnahmezustands und ein Wendepunkt der Musikgeschichte. Schönberg verdankt ihn im Grunde der Tatsache, dass er auch Maler ist. Die Nähe zu dem zehn Jahre jüngeren „Antiklimt“ Richard Gerstl spielt die entscheidende Rolle: ein Expressionist, der die Formen auf der Leinwand sprengt, exzessiv als Künstler wie als Liebhaber von Schönbergs Frau Mathilde.Als der Musiker den beiden auf die Schliche kommt, bricht ein Sturm aus sexuellem Verlangen, Verzweiflung, Trennung, Gewalt los. Alle drei planen Selbstmord. Der Kinder wegen bleiben die Schönbergs zusammen. Schönberg wirft alles, was er hat, in die Kunst, komponiert sein extremstes Stück Musik, das erste, das er für die Bühne schrieb, und bricht in nur zwei Wochen mit allem, was bisher klassische Musik bedeutet hat. Er lehnt jede Regel ab, lange bevor er mit der Zwölftonmusik neue Regeln entwickelt. Das Libretto schreibt Marie Pappenheim, eine angehende Ärztin, was damals eine Seltenheit ist.Gerstl dagegen wendet seine Raserei gegen sich selbst. Er kastriert sich, sticht sich ein Messer in die Brust und hängt sich danach auf. Regisseur Krzysztof Warlikowski sieht in der Protagonistin der beiden vereinigten Opern niemand anderen als Mathilde Schönberg. Uraufgeführt wurde Erwartung erst 15 Jahre nach der Entstehung ausgerechnet unter der Leitung von Alexander Zemlinsky – Mathildes Bruder. Mit Purcells Dido und Aeneas wurde das Stück noch nie zuvor verkoppelt – eine glänzende Idee, die zeigt, wozu Oper fähig ist, wenn sie ausgefahrene Bahnen verlässt.



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Von Veritatis

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