Regisseur Helge Schmidt hat sich ein neues Thema vorgenommen. #armutsbetroffen erzählt vom Vollzeitjob Armut, der die Betroffenen krank macht. Auch Freitag-Kolumnistin Janina Lütt wirkte mit


Die Kostüme der drei Schauspielerinnen sind inspiriert von der Serie Star Trek, die eine Vision einer gerechten Zukunft ohne Armut zeigt

Foto: Felix L. Salazar


Was ist Armut? „Wenn der Eiswagen klingelt und dein Kind das einzige ist, das nicht freudestrahlend hinläuft.“ Wenn man auf dem Dorf wohnt und ohne Auto und Geld keinen sozialen Anschluss findet. Oder wenn im Brief vom Amtsarzt steht: „Die verbliebene Arbeitskraft des Untersuchten ist wirtschaftlich nicht mehr verwertbar.“ Armut betrifft alle Dimensionen des täglichen Lebens, sie bedeutet Dauerstress, permanenten Verzicht und sie vererbt sich über Generationen hinweg. Armut ist ein Vollzeitjob, der krank macht.

Als „Expert*innen des Alltags“ treten Betroffene in der freien Theaterszene häufig auf. Ihre Expertise wird ernst genommen, wissen sie doch am besten Bescheid über ihre Situation, auch ohne offizielle Berufsbezeichnung. „Aus der Armut heraus“ zu sprechen, nicht über sie, ist auch ein Anliegen der Theaterproduktion #armutsbetroffen am TD Berlin. Regisseur Helge Schmidt kooperierte hierfür mit Autor*innen aus einem Schreibprojekt der Universität Duisburg-Essen, betitelt Alltägliche Armutserfahrungen – Erzählen als politisches Sprechen.

Unter den Autor*innen ist auch Janina Lütt, die in ihren Kolumnen für den Freitag etwa über den fehlenden Respekt in der Bürgergelddebatte schreibt oder über Mangelernährung bei von Armut betroffenen Kindern. Als öffentliche Person war sie Helge Schmidt bekannt, er schrieb sie an und Lütt vermittelte Kontakte zu Betroffenen aus dem ganzen Spektrum von Armut. Texte beigesteuert haben nun etwa eine Alleinerziehende – in Deutschland oft ein Weg in die Armut –, eine Rentnerin und ein ehemals Besserverdienender, der nach einem Schlaganfall zum „nicht mehr verwertbaren Humankapital“ zählt.

Inszenierung vermeidet Klischees von Armut

Alltagserfahrungen wie die ihrigen bekamen 2022 unter dem Hashtag #ichbinarmutsbetroffen auf Twitter breite Aufmerksamkeit. Tweets finden sich daher ebenso in der Stückfassung wie Texte aus den Duisburger Workshops und Auszüge aus Janina Lütts Kolumnen. Nur Statistiken oder Meta-Analysen fehlen, obwohl Helge Schmidt soziologische oder ökonomische Perspektiven sonst oft in seine Recherchearbeiten einfließen lässt, etwa in seinem Dokumentarstück über den Cum-Ex-Steuerskandal oder zu Pharma-Profiten mit Krebsmedikamenten. In #armutsbetroffen wollte er verhindern, dass die autobiografischen Geschichten gleich wieder hinter den Zahlen verschwinden, wie es in der Diskussion über Armut so oft passiert.

Auch Klischees der Darstellung von Armut in Theater, Film und Fernsehen vermeidet die Inszenierung. „Wenn es um Armut geht, trägt oft jemand ein Feinripp-T-Shirt und hat ’ne Bierdose in der Hand“, brachte es die Wissenschaftler*in und Buchautor*in Francis Seeck, die selbst mit Hartz IV aufgewachsen ist und Theaterfestivals zu Klassismus berät, in einem Interview mit Zeit Online auf den Punkt.

In #armutsbetroffen sind zwar die drei runden Teppiche auf der sparsam ausgestatteten Bühne behördenblau und auch die gebogenen Büroleuchten erinnern ans Amt, aber mehr Konkretion gibt es nicht. Keine Tristesse, wie sie etwa die Kaiserslauterner Bühnenversion von Christian Barons Ein Mann seiner Klasse durchwehte – eine Inszenierung auf dem schmalen Grat „zwischen Aufklärung und Sozialporno“, wie der Autor selbst urteilte. Ein ärmliches Erscheinungsbild oder der Sound familiärer Gewalt; nichts könnte #armutsbetroffen ferner liegen. Die klar strukturierte, aufgeräumte Bühne von Lea Kissing steht vielmehr für die Disziplin, die Armut den Betroffenen abfordert.

Zu beschäftigt mit Überleben

Sportlich-retrofuturistisch kleidet Kostümbildnerin Sina Brüggeman die drei Schauspielerinnen Agnes Decker, Ruth Marie Kröger und Laura Uhlig – inspiriert von der Serie Star Trek, die als Vision einer gerechten Zukunft ohne Armut und Reichtum anzitiert wird. Helge Schmidt kontrastiert mit der menschenfreundlichen Serie die Härte der Lebenswelt Armutsbetroffener und sendet ein Hoffnungszeichen. Im Fokus stehen die selbst erzählten Geschichten, die am Genre der Autosoziobiografie orientiert sind, an Büchern wie denen von Annie Ernaux, Édouard Louis oder Didier Eribon.

Zwar künden die Texte in #armutsbetroffen vom salonfähigen Vorwurf, faul zu sein auf Kosten der Steuerzahler, es geht um Hass und Cybermobbing, das auf den Schritt in die Sichtbarkeit für viele folgte. Aber die Autor*innen berichten auch von Empowerment und Selbstermächtigung. „Der Hashtag ichbinarmutsbetroffen war lebensverändernd geradezu“, heißt es an einer Stelle. Und ein*e Autor*in schreibt von der Kraft, eigenständig zusammengefunden zu haben, ohne unterstützende, aber auch reglementierende Organisationen wie Verdi oder die Diakonie: „Wir wollten eine Selbstvertretung von uns, für uns.“

Von einem „Meilenstein des Armutsaktivismus“ spricht Janina Lütt denn auch beim Nachgespräch. Nach den Chancen gefragt, mit einer Inszenierung wie #armutsbetroffen bei einer Bundesregierung, die Einsparungen im Bürgergeld androht, strukturell etwas zu verändern, verweist Malina, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, auf den utopischen Kern des Projekts. Und auch Holger Schoneville, der als Professor an der Universität Duisburg-Essen das Schreibprojekt mitinitiiert hat, verneint eine Bringschuld der Armutsbetroffenen. Denn wie Ruth Maria Kröger stellvertretend für eine*n Autor*in im Stück aufgebracht äußert: „Warum gibt es keinen Aufstand der Armen? Weil wir mit Überleben beschäftigt sind.“



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Von Veritatis

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