Hochschule Im Zeitalter von Exzellenzclustern, Drittmittel-Druck und Zeitnot ist an Hochschulen kaum noch Platz für Nonkonformisten. Das war mal anders
Jacob Taubes gehört einer Epoche an, in der Charme, Wagemut und Fantasie noch nicht aus dem akademischen Betrieb ausgeschlossen waren. Selbst die Hochstapelei fand in jener Zeit manchmal Anerkennung, sofern sie Bedenkenswertes hervorbrachte. Wenn es auch etwas unfair wäre, ihn einen Hochstapler zu nennen: Ein Luftikus und Charmeur war Jacob Taubes zweifellos. Die Art schriftstellerischer Produktivität, über die er verfügte, stieße in der heutigen Academia auf keine Gegenliebe. Eine einzige Monografie – die zuerst 1947 erschienene und mehrfach wieder aufgelegte Abendländische Eschatologie, mit der er in Zürich promovierte – und eineinhalb weitere monografische Texte – der 1987 im Merve-Verlag er
87 im Merve-Verlag erschienene Band Ad Carl Schmitt sowie die 1987 gehaltene, unter dem Titel Die politische Theologie des Paulus veröffentlichte Reihe religionsphilosophischer Vorlesungen – sind fast alles, was bis zu seinem Todesjahr 1987 in Buchform erschien.Taubes’ Verhältnis zu seinen geistigen Vorbildern und Mentoren war von Risiko, Ironie und intellektueller Glücksspielerei geprägt. Dass er es kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs als sich links verstehender Sohn einer Rabbinerfamilie im Schweizer Exil fertigbrachte, sich mit Armin Mohler anzufreunden und Austausch mit Carl Schmitt zu suchen, dessen Beziehung zu ihm er unter der Überschrift Gegenstrebige Fügung darstellte – das war ebenso heterodox wie Taubes’ Geschmacklosigkeit, für Gershom Scholem, auf dessen Einladung hin er zwischen 1951 und 1953 an der Hebräischen Universität Jerusalem lehrte, eine „Anti-Festschrift“ zu konzipieren, die als Würdigungen begriffene Abrechnungen enthalten sollte.Ob es nun an seiner Vorliebe für ins Private hineinreichende akademische Streits lag, ob an seiner psychischen Disposition – Taubes litt an einer bipolaren Störung, die kontinuierliche Arbeit nur zeitweise zuließ – oder einfach an seinem Vertrauen in die eigene Fähigkeit zur Improvisation: Kaum jemand hat mit einem so schmalen Œuvre, mit so fragwürdigen Freunden und so intelligenten Gegnern – an der Freien Universität Berlin, wo er seit 1966 Ordinarius für Judaistik und Hermeneutik war, gehörte zu seinen Gegenspielern Peter Szondi – einen derartigen Erfolg gehabt wie Taubes. Diejenigen, die ihn kannten (viele Zeugnisse sind in Jerry Z. Mullers unlängst erschienener Biografie Der Grenzgänger versammelt), beschreiben ihn als ebenso intrigant wie charmant, ebenso liebenswert wie launisch. Seine gewinnende Unberechenbarkeit und in Nachlässigkeit übergehende Lässigkeit würde heute zwar befremdend, aber nicht attraktiv wirken.Unter Taubes’ Schülern ist Norbert Bolz der Einzige, der heute die widersprüchliche Einheit des Halbseidenen und Scharfsinnigen, des Unpopulären und Populistischen verkörpert, die auch Taubes als Symptom dafür ausgelegt wurde, dass mit ihm etwas nicht stimme. Dass das geistige Milieu, das um ihn in Berlin entstand, sich ohne solche Nichtstimmigkeit nie entwickelt hätte, gehört zur Widersprüchlichkeit eines intellektuellen Charmes, der heute kein Betätigungsfeld an der Universität mehr fände. Magnus KlaueFriedrich Kittler: Der Hecht im KarpfenteichFriedrich Kittler ist 33 Jahre alt, als er 1976 an der Universität Freiburg antritt. Wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Seminar, Besoldungsgruppe C1. Mitten im Hexenkessel intellektueller Auseinandersetzungen: Hermeneutiker treffen auf Poststrukturalisten, Psychoanalytiker auf Pragmalinguisten. Dazwischen SDS-Aktivisten wie Klaus Theweleit, der 1942 und also nur ein Jahr vor Kittler geboren wurde und mit Männerphantasien berühmt wurde, in dem soldatische Körperpanzer und faschistisches Bewusstsein untersucht wurden.Friedrich Kittler ist mit anderen Dingen beschäftigt. Er arbeitet sich in Nachrichtentechnik und Medientheorien ein, bastelt an einem Synthesizer und werkelt gleichzeitig an einer Habilitationsschrift, die ihn und sein universitäres Umfeld radikal umkrempeln wird: Unter dem Titel Aufschreibesysteme 1800/1900 fragt er nach den konkreten Konditionen jener Bedeutungsproduktionen, die als „Geist“, „Sinn“, „Idee“ bislang körperlos und ohne materiale Grundlagen herumzugeistern schienen. Mit Konzepten aus Nachrichtentechnik, Schaltkreisen und Regelsystemen traktiert Kittler die ehrwürdige Zunft der Germanisten. Und kann zeigen, dass der kunstsinnige Feingeist Rilke von Verschriftungstechniken abhängt, die in der Psychophysik seiner Zeit entwickelt wurden; dass Verse von Gottfried Benn aus medizinischen Assoziationstests bestehen oder dass Klassik und Romantik Resultate eines nach Jena/Auerstedt 1806 entstehenden Bildungsstaates sind.Kein Wunder, dass die Aufschreibesysteme polarisieren. Als Kittler sie 1982 als Habilitationsschrift einreicht, ist die universitäre Sortiermaschine mehr als verwirrt. Es entstehen neun (!) Einzelgutachten mit sechs positiven und drei negativen Voten, ein gemeinsames Kommissionsgutachten und ein – wiederum ablehnendes – Sondervotum. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen irritieren Inhalt und Form. Literaturgeschichte als Teil von Datenverarbeitungsmaschinen und Kulturtechniken zu schreiben, scheint subversiv. Zum anderen verstören die Angriffe gegen die eigene Einrichtung. Schon im ersten Abschnitt „Die Gelehrtentragödie“ werden die Institution Universität und ihre Vertreter – die den Verfasser ja habilitieren sollen – so höhnisch abgefertigt, dass man sich fragt, warum Kittler sich für diesen Betrieb überhaupt bewirbt. Möglicherweise hat das auch mit Substanzen-Gebrauch zu tun: In einem Interview im Januar 2011 gestand Kittler, er habe das erste Kapitel „leicht bekifft geschrieben“. Doch mehr noch: Für sein anarchisches Forschen setzte er seine erste Ehe aufs Spiel. Und konnte sich danach als „Hahn im Korb junger Seminaristinnen“ fühlen, so Kittler in seinem letzten Gespräch 2011. Im heutigen Universitätsbetrieb ebenso undenkbar wie eine Arbeit, der ein Negativgutachten attestierte, sie verfehle grundlegende Standards: „Was hier vorliegt, ist außerwissenschaftlicher Diskurs, zum Teil, ziemlich weithin, ist es nicht einmal rationaler Diskurs.“Wird eine Habilitationsschrift so disqualifiziert, hat man in der Regel keine Chancen mehr. Denn wer hierzulande eine Professur – und also eine Lebenszeit-Stellung an einer Universität mit stattlichen Bezügen und verbeamteter Sicherheit – will, muss eine Schrift anfertigen, die von mindestens drei bestallten Hochschullehrerinnen positiv begutachtet und von der Fakultät – zumeist nach strengem mündlichen Colloquium – angenommen wird. Erst danach erhält man die Venia Legendi, die Berechtigung zur Lehre an einer Universität. Eine ernsthafte Angelegenheit, an der bereits große Geister wie Walter Benjamin und Günther Anders scheiterten. Friedrich Kittler hatte Glück. Sein akademischer Lehrer Gerhard Kaiser war der Meinung, dass Universität und Universitätswissenschaft „auf solche Hechte im Karpfenteich angewiesen sind, damit sie sich nicht zur Ruhe setzen“. Und so gewann die Neuerung: Mit Kittlers Werk wurde ein Grundstein der deutschsprachigen Medienwissenschaft gelegt. Ob sich in unseren gegenwärtigen Universitäten mit Drittmittelanträgen und Exzellenz-Zwängen bei gleichzeitiger Prekarisierung des Nachwuchses noch Hechte finden? Es bleibt nur zu hoffen. Ralf KlausnitzerSusan Sontag: Akademikerin wider WillenDie US-amerikanische Star-Intellektuelle Susan Sontag hatte schon zu Lebzeiten keine Lust auf eine akademische Karriere. „Zu ehrgeizig“ sei sie dafür gewesen, hat sie einmal gesagt. Wie viel weniger Freude („pleasure“ war ihr intellektueller Antrieb) würde ihr die heutige Hochschullandschaft machen, die um Fördergelder und Drittmittel ringt.Die Eigenschaft, die Sontag für eine Karriere an der heutigen Universität völlig ungeeignet gemacht hätte, war ihre Intensität – sie war ihr charakteristischster Zug und die Klammer, die ihr Leben und ihr Werk zusammenhielt. Viele geistige und künstlerische Leben wollte sie auf einmal führen. Sontag war Essayistin und Romanschriftstellerin, Filmemacherin, Dramatikerin und Theaterregisseurin, Literaturvermittlerin, Aktivistin und moralisches Gewissen zugleich. Sie gab sich nicht mit nur einer Disziplin zufrieden und schon gar nicht mit einem eng umrissenen Spezialgebiet. Ihr Bezug zum Wissen war total, ihre Definition der Schriftstellerin: eine, die sich für alles interessiert und überall gewesen ist. „Was ich wirklich wollte, war jede Art von Leben, und das Leben eines Schriftstellers schien mir am inklusivsten zu sein.“ Ihr Verständnis von Interdisziplinarität war im Vergleich zur heutigen universitären Praxis radikal, mehr Leonardo Da Vinci als für die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die DFG, fördertauglich.Schon früh stand für Sontag fest, dass Wissen nur als Ausdruck von Feinfühligkeit bedeutsam ist: „Ich interessiere mich nicht im Allergeringsten für irgendwelche Faktensammlungen, egal von wem, oder höchstens insofern, als sich darin eine gewisse grundlegende Sensibilität widerspiegeln sollte, die ich sehr wohl erwarte …“, hält sie als frühreife Sechzehnjährige in ihrem Tagebuch fest. Ihr Leben lang wollte sie die Trennung zwischen Intellektualität und Sinnlichkeit, zwischen Wissen und Leben überwinden.Sontag war ein Wunderkind und bereits mit 15 Jahren eine hochbegabte Studentin, die an den besten Universitäten der USA studierte, in Berkeley, Chicago, Harvard. Mit 17 Jahren heiratet sie ihren Soziologiedozenten Philip Rieff, mit dem sie intensiv an dessen Buch Freud. The Mind of the Moralist arbeitete. Als sie 25 Jahre alt war, erhielt sie ein Stipendium an der Universität von Oxford. Viel lockender als eine weitere Eliteuniversität erschien ihr allerdings das Leben in Paris. Bald zog sie weiter in die französische Hauptstadt, wo sie das Savoir-vivre der Boheme – Cafés, Bars, Kinos und lesbische Beziehungen – genoss und die folgenschwere Entscheidung traf, ihr bürgerliches Leben, Universität und Ehe, hinter sich zu lassen und von nun an als freie Schriftstellerin und Intellektuelle in New York zu leben. Für die Universität war sie endgültig verloren.Sontag hatte Glück: Sie kam nach New York, kurz vor Anbruch der 1960er Jahre, als die Stadt zu den kreativsten und hipsten Orten der Welt gehörte. Jeden Abend ging sie aus, keine angesagte Party ohne Sontag, und war bald Teil der Avantgarde-Kunstszene. Ihre tiefe akademische Bildung fiel auf fruchtbaren Boden, verband sich mit ihrem intuitiven Gespür für den Zeitgeist und gab Sontag den Stoff für ihre berühmten Essays ein. Die veröffentlichte sie sowohl in Intellektuellenmagazinen als auch in viel gelesenen Zeitschriften wie Vogue, Mademoiselle oder Harper’s. Innerhalb weniger Jahre wurde Sontag zur Expertin für alles Neue und Aufregende: Camp, Erotik der Kunst, Pornografie, Science-Fiction-Filme, Happenings. Niemand schrieb gebildeter über Populärkultur als Sontag in den Sixties.Dass sie populäre Phänomene ernst nahm und einen interdisziplinären Ansatz verfolgte, machte Sontag zu einer inoffiziellen Begründerin derCultural Studies, also einer neuen, heute enorm einflussreichen Disziplin an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Hochschulen weltweit. Eine ironische Pointe des Antiakademismus! Ausgerechnet diejenige, die der Universität bewusst den Rücken kehrte und sich ab den 1970er Jahren wieder vor allem der Hochkultur zuwandte, wird zur Gründungsfigur der Film- und Kulturwissenschaften. In den Worten des Essayisten Eliot Weinberger: Sontags „Camp“-Aufsatz war daran schuld, dass zu ihrem eigenen Entsetzen Tausende dekonstruktive Dissertationen über Batman die Englischdepartments der amerikanischen Universitäten fluteten. Anna-Lisa DieterWolfgang Fritz Haug: Ein anregendes ÄrgernisEr war Mansplainer, Perfektionist, Marxist und Feminist. 1936 geboren, gründete er 1959 den Argument Verlag und 1980 die Berliner Volksuniversität mit. 1971 erschien seine Kritik der Warenästhetik, 1974 folgten Vorlesungen zur Einführung ins Kapital. Von 1979 bis 2001 lehrte er Philosophie an der FU Berlin. 2007 trat er, zusammen mit Ehefrau Frigga, in die Partei „Die Linke“ ein. Das und noch viel mehr war und ist Wolfgang Fritz Haug. Für mich war er vor allem ein anregendes Ärgernis.Seine Seminare gestaltete er geistreich, abwegig, im platonischen Sinne erotisch. Wir lasen geschlechterphilosophisch in den Texten der alten Denker, suchten nach deren „männlichem“ Blick, der jede Erkenntnis, und komme sie noch so „objektiv“ daher, zur patriarchalen Parteilichkeit macht.Nebenbei studieren ging nicht, Study-Life-Balance war noch nicht erfunden, und halbe Sachen kamen diesem Prof nicht in den Hörsaal. Anders als viele der überlasteten Dozenten von heute schätzte Haug es nicht, von Studierenden möglichst wenig mitzubekommen: Er hatte den sokratischen Ehrgeiz, Hebamme der Erkenntnis zu sein, lehrte mit Haut und Haaren. Mich be-geisterte er.Leider war ich als Studentin nicht der pragmatische, sondern der Penthesilea-Typ: Bei mir musste alles grundsätzlich sein. Zwar wollte ich Teil der Gang sein, aber nicht als „Mädchen“. Dabei „förderte“ Haug studierende Frauen früher als andere, doch mir widerstrebte schon das Wort – „fördern“. Also versuchte ich, meine Hochachtung dadurch auszudrücken, dass ich mich als Jüngerin verweigerte. Ich widersprach ihm bei jeder Gelegenheit, rieb mich an seinem Geist und freute mich über die dabei entstehende Denk-Hitze. So errang ich mir eine gewisse Anerkennung, und er hätte mich vielleicht unter seine Fittiche genommen. Nur: Genau dort wollte ich auf keinen Fall hin.Dennoch bat ich ihn, meine Magisterarbeit zu betreuen. Ich schrieb über die Dialektik der Aufklärung, indem ich Adorno und Horkheimer auf deren „männlich“ voreingenommene Wahrnehmung hin las. Haug fand das Thema gut, und so machte ich mich an die Arbeit. An der elektrischen Schreibmaschine und mit jeder Menge Tipp-Ex. Ich glaube, ich war glücklich: allein mit all den klugen Worten, die ich drehte und wendete und an mich drückte, um ihnen noch das letzte bisschen Erkenntnis abzupressen. Ich ging zu keinem Colloquium, verzichtete auf professorale Ratschläge, mochte mir nicht reinreden lassen. Nachdem eine Freundin Korrektur gelesen hatte, lieferte ich meinen Text mit klopfendem Herzen ab.Auf Haugs Reaktion musste ich lange warten, ließ mich immer wieder von seiner Sekretärin vertrösten. Schließlich bat er mich in sein Büro. „Ich weiß nicht, ob ich dir eine Fünf geben soll“, lautete die Begrüßung, „warum bist du nie zu mir gekommen? Das hätte eine richtig gute Arbeit werden können …“ Ich versuchte zu erklären, gehemmt von dem pseudoegalitären „Du“. „Bist du bereit, das zu überarbeiten? Ich helfe dir.“ Er wollte nett sein. Ich schüttelte den Kopf. Ich hätte nicht mehr in den Spiegel schauen können, und mein Spiegel war sehr sauber, sehr streng, denn ich war ja Penthesilea, heilige Scheiße! Lieben oder sterben! Oder für die Liebe sterben, doch auf keinen Fall halbherzig leben! Und schon gar nicht halbherzig denken und schreiben! Ich war ein nervöses Ausrufezeichen mit hochrotem Kopf.Am Ende gab er mir eine Zwei. Später schickte ich ihm die Geburtsanzeige meines ersten Kindes. Er hat mir Glück gewünscht und gefragt, wann ich zurück an die Uni käme. Er war ein richtig guter Professor. Katharina KörtingImmanuel Kant und Martin Heidegger: Zwei verschrobene FaulpelzeAls Immanuel Kant 1770 im Alter von 46 Jahren auf den Königsberger Lehrstuhl für Logik und Metaphysik kletterte, war dies eine klassische Hausberufung, die doch zu vermeiden ist, damit die lokale Academia nicht nur im eigenen Saft schwimmt. Rufe auf besser bezahlte Stellen an preußischen Unis hatte Kant stets abgelehnt, um in seiner Geburts- und Universitätsstadt bleiben zu können. Seine Freunde wussten zu schätzen, nie darum gebeten worden zu sein, beim Umzug mit anzupacken. Die heutigen Studierenden dagegen verbringen von sechs Semestern Regelstudienzeit drei auf Reisen, um die für den Lebenslauf unentbehrliche und daher umfangreich geförderte Auslandserfahrung vorweisen zu können.Übertrieben ist sowohl der Rigor von Kants Tagesablauf, nach dem die Königsberger die Uhren stellen konnten, als auch die Mär, er habe nach seiner Berufung jahrelang nichts publiziert, um ruhig und sorgfältig die 1781 erschienene Kritik der reinen Vernunft zu erbrüten. Seine Publikationsliste weist in dieser Phase Lücken auf, aber auch kleinere Schriften, darunter diejenige über Menschenrassen, die ihm heute (nicht zu Unrecht) großen Ärger mit dem AStA der Uni Königsberg einbrächte. Tatsächlichen Ärger bekam Kant nach dem Tod des Großen Fritz mit den Zensurbehörden, denen sein öffentlicher Vernunftgebrauch zu sehr gegen den preußisch-protestantischen Strich ging.Dass Kant in den 34 Jahren von seiner Berufung bis zum Tod keinen einzigen Groschen an Drittmitteln einwarb, nahm man im preußischen Kultusministerium hin. Vielleicht aber spielte dort die eine oder andere Beamtenseele schon damals mit dem Gedanken, den akademischen Wert eines Kants irgendwann mal in Zahlen messen zu können.Das ist bis heute nicht gelungen, obwohl die Universitätsbürokratie mit nichts anderem beschäftigt ist als dem Umschlagen von Qualität in Quantität. Den Aufgang eines akademischen Sterns verschliefe sie vollends, ginge er nicht mit einem Anstieg der Einschreibungen einher. Als Martin Heidegger sich in den 1920ern als außerordentlicher Professor an der Uni Marburg erprobte, strömten ihm Schülerinnen und Schüler in Scharen zu. „Da war kaum mehr als ein Name, aber der Name reiste durch ganz Deutschland wie das Gerücht vom heimlichen König“, so erinnert sich Hannah Arendt zum 80. Geburtstag ihres einstigen Lehrers und Liebhabers.1928 konnte Heidegger – ein genauso hausberufener Heimscheißer wie Kant – in die heimische Provinz zurückkehren – auf den Freiburger Lehrstuhl seines Lehrers Edmund Husserl. Dank seiner hessischen Lehrjahre hatte er immerhin eine Universität mehr von innen gesehen als Kant. Der behielt in der Disziplin „Publikationsliste“ die Nase vorn: Sein und Zeit war Heideggers Meisterstück und blieb zeitlebens seine einzige Monografie.Im Phaidros-Dialog (274c – 278b) erklärt Sokrates die Schriftsprache zu einem fragwürdigen Hilfsmittel, welches das Erinnerungsvermögen schwächt und eine nur scheinbare Beschäftigung mit dem Gegenstand ermöglicht. Weil diese nur durch die gesprochene Rede gegeben ist, besteht die Heidegger-Gesamtausgabe hauptsächlich aus Vorlesungen und Mitschriften derer, die zugehört haben; außerdem Notizen, die nach ihrer Edierung 2014 Heideggers überraschend banal-zeitgenössischen Antisemitismus offenbarten.Spätestens da wäre einem heutigen Universitätspräsidium der Kragen geplatzt. Nur ist es nahezu unmöglich, jemanden von einem Lehrstuhl wieder herunterzukriegen. Anstatt verschrobener Faulpelze wie Kant und Heidegger werden heute also vernünftigerweise Fleißbienchen berufen, die sich durch ein langes CV und eine noch längere Publikationsliste sowie Auslands-, Verwaltungs-, Projektmanagement- und Fundraisingerfahrung auszeichnen und jeden Turn mitmachen. Timotheus SchneideggerHella Tiedemann: Sokrates ist eine Frau mit GeistWer an prächtige akademische Blüten denkt, die an den heutigen Hochschulen kläglich verwelken würden, denkt zumeist an Männer. Das Charisma der Lehre wird von Sokrates bis zum Club der Toten Dichter als männlich verstanden. Das aber ist „Quatsch“, um mich der Sprache von Hella Tiedemann zu bedienen, die bis 2001 Literaturwissenschaft am Szondi-Institut in Berlin lehrte und meine Doktormutter war.„Vieles, was Hella Tiedemann als Professorin sagte und tat, würde heute als Übergriff eingestuft: Sie schrieb ‚Quatsch!‘ an den Rand von Hausarbeiten, machte im Seminar Komplimente für Klug- oder Schönheit und brach einem ungefragt ein Stück vom Zwieback ab, den sie gerade aß. Mir hat sie mit ihrer Widersprüche aufhebenden Art zu denken, zu reden und zu sein die Unsinnigkeit von Dichotomien plausibel gemacht: Hella Tiedemann war distanzlos und respektvoll, arrogant und uneitel, erhaben und zugänglich, dialogisch und bestimmt. Sie hatte Geisteshaltung“, zitiere ich aus einer der vielen Erinnerungen, die nach ihrem Tod 2016 veröffentlicht wurden.Ergänzen möchte ich diese kleine Liste von Übergriffen um ihre manchmal unverhohlene Ablehnung der eigenen Rolle als Hochschullehrerin, die ja auch eine Überforderung für jeden empfindsamen Menschen darstellt. Eigentlich wäre sie lieber Krankenschwester, gestand sie mir einmal, und das war nicht nur frivol. Diesen Weg zu gehen, war ihr aber dann doch unmöglich, denn so sehr sie „dem Betrieb“ distanziert gegenüberstand, so sehr war sie eine leidenschaftliche Intellektuelle. Als solche wirkte sie nun eben nicht in der Schrift, sondern im Gespräch. Ihre Publikationsliste ist so kurz, dass sie heute locker von jedem halbehrgeizigen Doktoranden übertroffen wird. Zwei Bücher (Diss. über das „artistische Gedicht“, Habil. über den konservativen Historiker Charles Peguy), ein Aufsatz über die Figur des Dilettanten, das war’s.Im Zentrum ihres Wirkens stand also die Lehre, und hier war es das Seminar, nicht die Vorlesung wie bei Heidegger. Wir pflegten die Arbeit am Text, das geduldige und fragende Aufschließen der großen Werke der Moderne, von Proust bis Kafka, oft in den Abend hinein, auch das würde heute von Studierenden wohl als Zumutung empfunden werden (man hat schließlich noch anderes zu tun). Bei ihren Schülern und Schülerinnen, und von solchen muss man bei Hella Tiedemann unbedingt sprechen, prägte sie einen Stil, wie sie selbst einst von einem Stil geprägt wurde, nämlich demjenigen Theodor W. Adornos (dass sie seine Witwe Gretel bis zum Ende gepflegt hat, ist eine andere Geschichte).Hella Tiedemann verstand sich als eine, wenn nicht sogar die Erbin der Frankfurter Schule, und sie wusste dabei sehr wohl, dass die Zeit über diese Denkströmung schon fast hinweggegangen war. Was kann man an kritischem Geist retten? – das war ihre Frage, die von vielen Schülerinnen und Schülern, die als Schriftsteller, als Journalist und in Ausnahmefällen sogar als Hochschullehrer wirkten, aufgegriffen wurde und weiter gestellt wird. Michael Angele