Legt man die 44-stufige Eskalationsleiter des US-Nuklearstrategen Herman Kahn aus den 1960er Jahren zugrunde, so befinden sich die USA und Russland noch im Stadium der Krise – nicht des Krieges. Doch kommen sie dem mit jeder neuen Eskalationsstufe im Ukraine-Krieg näher. Nun hat es auch den letzten Rüstungskontrollvertrag zwischen ihnen fast erwischt. Am 21. Februar verkündete Wladimir Putin in seiner Rede zur Lage der Nation, das New-START-Abkommen auszusetzen, und versetzte damit der internationalen Rüstungskontrolle einen schweren Schlag. Ob es ein Todesstoß wird, kann man noch nicht sagen.

Das New-START-Abkommen wurde 2010 geschlossen und begrenzt die Zahl der verfügbaren Atomsprengköpfe auf je 1.550, dazu die Zahl der Trägersysteme auf je 8

e auf je 800. Es wurde noch im Januar 2021 um fünf Jahre verlängert, läuft also 2026 endgültig aus. Putin hat die Inspektionen zur Kontrolle des Abkommens bereits im August 2022 ausgesetzt. Sein Außenministerium versichert allerdings, dass sich Russland nicht aus dem Vertrag zurückziehe und die darin festgelegten Obergrenzen einhalten werde.Zugleich bietet Moskau an, die Aussetzung wieder rückgängig zu machen, wenn Washington bereit ist, sich für eine allgemeine Deeskalation einzusetzen und die Bedingungen dafür zu schaffen, dass der Vertrag wieder vollends funktioniert. Was das genau heißt, wurde nicht erläutert, dürfte aber mit der angekündigten Lieferung neuer und weiter reichender Waffen an die Ukraine zusammenhängen. Moskau scheint die nuklear-strategische Ebene mit dem (noch) lokalen Krieg verknüpfen zu wollen.Dabei hat auch die bloße Aussetzung bereits negative Folgen. Sie erhöht die Unsicherheit. Verlässliche Kontrollen der nuklearen Aktivitäten Russlands und der Stationierung neuer Atomsprengköpfe werden unmöglich, ein Denken in „Worst-Case-Kategorien“ begünstigt.Abschreckungsdoktrin: Wer als Erster schießt, stirbt als ZweiterDas Ende des New-START-Vertrags hätte fatale Konsequenzen, weil der letzte Pfeiler nuklear-strategischer Stabilität wegbrechen und atomares Wettrüsten beschleunigt würde. Die Kuba-Krise hatte Washington und Moskau 1962 vor Augen geführt, dass sie kurz vor der gegenseitigen Vernichtung standen. Daraus wuchs die Erkenntnis, dass nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung die alleinige Gewähr bieten, strategische Stabilität herzustellen. Die zugrunde liegende Abschreckungsdoktrin heißt heute noch „gegenseitige gesicherte Zerstörung“ („Mutual Assured Destruction“). Die damit einhergehende Abschreckungslogik besagt, wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter.Es entstand eine umfassende Architektur der nuklearen Rüstungskontrolle, die auf zwei Säulen beruhte. Erstens: der Begrenzung strategischer Atomwaffen und ihrer Trägersysteme; zweitens: einer stark limitierten Abwehrfähigkeit im Fall eines Nuklearangriffs auf maximal 100 Abfangraketen, sodass jeder Angreifer in dem Bewusstsein handelt, einen Gegenschlag kaum aufhalten zu können. Es war verboten, ein landesweites Abwehrsystem aufzubauen. Nur so ließ sich strategische Stabilität garantieren.2002 kündigten die USA den ABM-Vertrag mit der Begründung, angesichts der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus neue Abwehrsysteme entwickeln zu müssen. 2016 und 2022 nahmen sie solche in Rumänien und in Polen in Betrieb („Aegis ashore“), die freilich auch mit offensiven Marschflugkörpern bestückt werden konnten.Eine weitere prekäre Folge, mit der ohne New START zu rechnen wäre, ergäbe sich für die Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen. Die Grundlage des Nonproliferationsvertrages (NPT) wäre obsolet, der die fünf offiziellen Nuklearwaffenstaaten zur vollständigen nuklearen Abrüstung verpflichtet, während 186 Nicht-Nuklearwaffenstaaten und NPT-Unterzeichner darauf verzichten, solche Waffen zu bauen. Existiert nun kein einziger Abrüstungsvertrag mehr, könnten einige dieser Staaten ermuntert sein, sich Kernwaffen zuzulegen. Die Erosion internationaler Sicherheit wäre rasant beschleunigt.Eigentlich dürften daran weder die USA noch Russland ein Interesse haben. Wenn es stimmt, dass es das oberste nationale Interesse der USA ist, einen direkten bewaffneten Konflikt mit Russland zu verhindern, ist es höchste Zeit, die Eskalation zu stoppen. Jede weitere Stufe kann zu unmittelbarer Konfrontation führen. Darum sollte Washington mit einer einseitigen vertrauensbildenden Maßnahme vorangehen und erklären, dass man Atomwaffen niemals als Erster einsetzen werde. Wofür drei Gründe sprechen: Die USA würden eine stark deeskalierende Initiative ergreifen und Moskau in Zugzwang bringen, ebenfalls ein „no first use“ zu proklamieren. Die beiderseitige Sicherheit wie der Nonproliferationsvertrag wären gestärkt. Es würde eine relevante Schlussfolgerung aus der Erklärung der fünf Atomwaffenstaaten vom Januar 2022 gezogen, wonach „ein Nuklearkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals ausgetragen werden darf“.



Quelle Link

Von Veritatis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

vier + 4 =