Was genau ist eigentlich Hass? Definitiv ein Begriff, der seit Jahren Konjunktur hat. Aber trotz der (gefühlten) Omnipräsenz fehlt eine genauere Definition. Als Autorin, die selbst lange im Bereich Hate Speech arbeitete, fiel mir diese Leerstelle recht früh auf. „Hass braucht kein Geld, keine Infrastruktur, keine Institutionen“, schreibt Şeyda Kurt in ihrem neuen Buch Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls. Nach ihrem Beststeller Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist (der Freitag 19/2021) scheint die Autorin damit wieder einen Nerv zu treffen.
Ist der Hass wie die Liebe also politisch? „Wer hasst, hat noch nicht aufgegeben“, schreibt Kurt und meint damit das progressive Potenzial, das in diesem Gefühl steckt. Entsprechend versammelt sie zum Beispiel Geschichten von Widerstandskämpfer:innen, die von Hass angetrieben wurden. Zitiert die chilenische Kommunistin und lebenslange Kämpferin Luisa Toledo Sepúlveda (1939 – 2021), deren drei Kinder im Kampf gegen Diktator August Pinochet getötet wurden: „Also bitte nicht friedlich sein. Ich werde nie friedlich sein!“ Auch Kurts eigener Hass, den sie gegenüber ihrer Mutter empfindet, findet immer wieder Erwähnung. „Nächstes Mal, sage ich mir, nächstes Mal, wenn sie mich anschreit, werde ich nicht die Stimme erheben. Mir bleibt nur, mit Hass zurückzuschauen.“
Das Fragmentarische des Buchs scheint dem Sujet selbst geschuldet. Denn es gibt keine Soziologie des Hasses. Kurts offene Verletzlichkeit bildet den roten Faden. Garniert mit Humor, poetischen Abschweifungen und persönlichen Reflexionen gerät ihr Buch so zu einer anstrengenden, aber anregenden Lektüre.
Ihren Schwerpunkt legt Kurt auf den Hass der Unterdrückten, deren Körper von dem Hass der Herrschenden verformt sind – auf die, die „hassen mussten“. Politische Referenz ist hierbei vor allem Frantz Fanon, der Vordenker der Entkolonialisierung. Hass befreit von Ohnmacht, wird zu einer Gegengewalt, zu einer gestalterischen Kraft. Hass sei eine Form der Kommunikation und der Verbindung, so die Autorin. Hass könne eine Brücke für Gemeinschaft sein, ein organisatorisches Grundprinzip. „Strategischer Hass“ ist das stilistische Hilfsmittel, mit dem Şeyda Kurt versucht, den „widerständigen Charakter“ des Hasses der Unterdrückten, Benachteiligten und Diskriminierten von dem dumpfen Hass derer, die sich im rechten und faschistischen Spektrum wiederfinden, zu differenzieren.
Denn – und da wird die Debatte über Hass eine Herausforderung – würden die Corona-Leugner, die sich in Chats voller Hass über Marginalisierte hermachen, nicht zustimmen und ihren Widerstand gegen die „links-grün vergifte Herrschaft“ als widerständiges Gefühl beschreiben? Was ist mit dem Hass der Internettrolle, die sich über hegemoniale Narrative versuchen aus dem eigenen Elend herauszudeklinieren? Was ist mit dem Hass des armen weißen Arbeiters auf die von Rassismus betroffene Professorin?
Tatsächlich streift Kurt diesen Aspekt, wenn sie beispielsweise über die psychoanalytischen Verwirrungen von Nazis schreibt. Oder, wenn sie, sich auf Erich Fromm beziehend, darüber reflektiert, dass es Biografien gibt, deren Charaktere von Hasserfüllung geprägt sind, die Hass ohne direkte Ursache empfinden. Die Sorte Hass, die einfach nur destruktiv ist. Der Logik des Schwerpunkts ihres Buchs folgend, legt sie jedoch diese Überlegungen zur Seite.
Nach dem dritten Shitstorm
Als ich 2015 die Broschüre Geh’ Sterben über Hate Speech bei der Amadeu-Antonio-Stiftung veröffentlichte, war das Thema gerade dabei, seinen Weg in die öffentliche und politische Debatte zu schlagen. Ich hatte zu der Zeit bereits meinen dritten Shitstorm hinter mir und alle Facetten des Hasses erlebt. Die Bedrohungen waren real, die Angst sowieso und der Wille, mich dem zu stellen, mich nicht unterkriegen zu lassen, weiterzumachen, nährte sich tatsächlich von einem Gefühl des Hasses. Auf die Wortführer (sic), die sich über Jahre an mir abgearbeitet hatten. Aus einer mächtigeren Position heraus als ich.
Der Hass war mein Antrieb, mich zu wehren, weiterzumachen. Ich kanalisierte meinen Hass damals in Rache, auch ein Element, dem die Autorin nachspürt. Ich schrieb über meine Hasser, über diejenigen, die mich verletzt und gejagt hatten, die mir Angst gemacht hatten. Bis heute flammt manchmal der Hass kurz auf, wenn ich sehe, dass es für zu viele derer, die auch mich damals systematisch ruinieren wollten, keine Konsequenzen gab. Oder wenn ich sehe, wie die Hassenden von damals ein Geschäftsmodell aus den Gedanken machen, die sie mir damals kritisch in Rechnung stellten.
Dass mit Hass Geld verdient werden kann, dass es einen ganzen Hassmarkt gibt, dazu gibt es bei Şeyda Kurt nur angerissene Gedanken. Es gibt durchaus eine ökonomische Dimension des Hasses. Şeyda Kurt hat jedenfalls eine lesenswerte Einladung geschrieben, über Politik und Gefühle produktiv nachzudenken.
Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls Şeyda Kurt Harper Collins 2023, 208 S., 18 €