Jakob Augstein: Martin, dein „Springender Brunnen“ beginnt mit dem Satz: „Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird.“ Das ist ja nicht nur ein Sprachspiel. Da geht es um Gegenwartssehnsucht. Aber was kann man mit der Gegenwart anfangen?

Martin Walser: Das will doch der erste Satz dieses Romans sagen. Ich erinnere mich gern an diesen Satz. Die Gegenwart als solche sei erst später, wenn sie Vergangenheit ist, erlebbar: Das ist gegenüber der Gegenwart ungerecht. So empfindet ein Schriftsteller, der andauernd vom Vergangenen lebt: andauernd! Von Kierkegaard habe ich dann gelernt, innen und außen inkommensurabel zu sehen. Die Gegenwart, das ist das Äußere. Das Innere, das sind Vergangenheit und Zukunft. Unser Ausdrucksproblem: das Äußere in ein Verhältnis zu bringen zum Inneren. Wenn das Innere überwiegt, kommt das Äußere zu kurz. Also, um zu deiner Frage zu kommen: Ich übertreibe nur ein bisschen, wenn ich sage: Ich konnte mit Gegenwart nie viel anfangen. Ja, schreibend lebte ich. Und weil ich andauernd beschäftigt war mit dem, was ich noch schreiben wollte, konnte ich mit dem Goethe-Satz, dass man zum Augenblick sagen sollte, er sei so schön, nichts anfangen, das habe ich eher versäumt als getan. Aber auch das ist eine Ungerechtigkeit gegen alle Erinnerungen, die mir sagen wollen, das Gegenteil sei genauso wahr. Nur ein Beispiel: das Schwimmen! Schwimmen, das ist die reine, schrankenlose Gegenwärtigkeit. Schwimmend sind wir im Jetzt. Sind etwas Schwebendes, fast schwerelos, endlich der Gleichgewichtsprobleme enthoben. Aber eben nur als Schwimmende. Sobald wir wieder auf dem allzu festen Land sind, triumphiert wieder die Schwere. Wir werden hinabgezogen und richten unseren Blick nach oben …

Im „Letzten Rank“ kommt ein Satz mehrmals vor: „Unfassbar sein wie die Wolke, die schwebt.“

Diese Stelle hast du dir gemerkt?

Sie hat mir gefallen.

Karl Barth hat gesagt, seine Theologie schwebe in der freien Luft. Das hat mir sogleich eingeleuchtet, als ich es gelesen habe.

Ich kenne mich bei Karl Barth nicht aus. Ich habe gelesen, dass er eine „gottferne Theologie“ gedacht hat, für eine Welt, die sich an die Abwesenheit Gottes gewöhnt hat.

Er hat gesagt: „Religion ist Unglaube.“ Das hat mich begeistert. Ich war ja auf ihn vorbereitet, ohne ihn gekannt zu haben. Vorbereitet durch Kierkegaard und Nietzsche. Kierkegaard lässt Religion aufhören, „sobald die Ungewissheit die Form der Gewissheit ist“. Und der junge Nietzsche: „Eine Religion, die durch und durch wissenschaftlich erkannt werden soll, ist am Ende dieses Weges zugleich vernichtet.“ Dazu passte Karl Barth, der sagt: „Es gibt für den Theologen nächst dem Hören auf das Zeugnis der Bibel und der Kirche kaum etwas so Fruchtbares wie das Hören auf die Stimmen, die die Annahme dieses Zeugnisses glatt zu verweigern scheinen.“ Das heißt, der Glaube braucht den Unglauben. Kierkegaard: „… dass der Glaube immer so groß ist wie der Unglaube.“ Kierkegaard redet also von einem dialektischen Verhältnis von Glauben und Unglauben. Barth fügt dem noch hinzu, dass es in der Religionsbewegung eines Bewusstseins keinen Punkt des Anhaltens und Beweisenkönnens gibt. Jeder Punkt wird durch den nächsten widerlegt. Jeder Punkt ruft seinen Widerspruch hervor. Er hat gesagt, wenn man einen fliegenden Vogel fotografiert, dann hat man nachher nicht den Vogel im Flug, sondern einen im Bild stehenden Vogel. Und so muss auch der Versuch misslingen, den Glauben an irgendeinem Punkt anzuhalten, um zu einem positiven Bekenntnis zu gelangen. In diesem Bild des Vogels im Flug ist aber noch etwas anderes enthalten: Die Idee des Kommenden, das ist eine Bewegung auf etwas hin, und das ist die Zukunft. Der Glaube ist immer ein Glaube an die Zukunft und eine Sehnsucht nach der Zukunft. Überwindung, Erlösung, das wird alles kommen. Karl Barths Zukunft, in der sich die Herrlichkeit Gottes offenbart, ist natürlich eine Zukunft ohne Zeit, eine Überwindung und Auflösung der Zeit – und dadurch dann wieder dauernde Gegenwart. Verstehst du, es wird keinen Zeitpunkt geben, an dem Gott bekannt sein wird, keine historisch vorstellbare Zeit. Darum spricht Barth auch immer vom „unbekannten Gott“, als der, an den man nur ohne Hoffnung auf Hoffnung hin glauben kann. Und jetzt kommt es: Das ist genau der Gott Nietzsches! Es ist ja ein Irrtum, anzunehmen, dass Nietzsche Gott für tot erklärt hat – mitnichten, er hat nur den Gott des 19. Jahrhunderts für tot erklärt. Als ich Barths Buch über den Römerbrief gelesen habe, da habe ich darin Sätze gefunden, die mich an Nietzsches Zarathustra erinnert haben. Der Zarathustra und das Paulusbuch – nie wurde so über unser Seelenleben geschrieben wie von Nietzsche und Barth. Dass die Gegenwart eine mangelhafte ist, auch das ist ein Gedanke, der beide vereint. Beider Blick ist auf das ewige Futurum gerichtet. Mich hat einmal ein Verlag gebeten, einen Beitrag für ein Buch über Bertrand Russell zu liefern: Warum ich kein Christ bin. Also habe ich den Aufsatz verfasst: Theologie des Mangels, da konnte ich etwas formulieren, was bei mir mehr als einmal vorkommt. Ich habe geschrieben, wie herrlich es sich bei Russell liest, dass es keinen Gott gibt. Aber wenn das so ist, dann fehlt er mir, habe ich geschrieben. Darum auch: Theologie des Mangels. Bei aller Feinheitsfolgerung vergessen wir doch nicht das Hauptwort: Gott. Ich sage: Gegen Gott ist, wer ohne ihn ist und ihn nicht vermisst. Und als irdische Wegweisung: Lass doch anderen ihren Gott. Beneide sie um ihren Gott. Grüß ihren Gott oder sag, sie sollen ihn grüßen.

Martin, ich weiß schon, warum ich mich nicht habe konfirmieren lassen. Aber als Literatur ist das wunderschön, was du da sagst.

Aber Jakob – es IST Literatur. Darum geht es. Religion ist Literatur. Wer das anders sieht, der findet darin noch einen Mehrwert, den ich nicht erleben kann. Es geht nicht um Welterklärung, sondern um Weltverklärung – Religion und Literatur verklären die Welt.

„Die Frage ist grotesk. Es gibt kein Leben ohne doppelte Buchführung“

Was bedeutet Verklärung?

Verklärung bedeutet, eine Sache erlebbar zu machen, ohne dass Verständlichkeit zur Hauptbedingung werden muss. Von allen Büchern meines Vaters, der ohne jeden Zweifel ein Suchender war, war keines so zerlesen wie der Band der Hölderlingedichte. Und Hölderlin ist die höchste Sprachmöglichkeit zur Verklärung des sogenannten Irdischen. Von der Antike bis ins Gegenwärtige gibt es eine Erlebnisfähigkeit, der sprachlich alles möglich ist. Ajax und Christus und Paulus werden alle gemeinsam zu Sprache und zeugen davon, dass es zwischen Religion und Literatur keinen Unterschied gibt. Die Weihnachtsgeschichte – wunderbarste Literatur! Und das Buch Hiob!

Auch die Esau-Geschichte ist für dich reine Literatur? Der Text über den entwendeten Segen?

O ja, diese Geschichte vor allem. Höchste und tiefste Literatur! Jakob und Esau sind die wunderbarsten Romanfiguren, so wie Madame Bovary und Fürst Myschkin.

Aber ist es nicht mehr als Literatur?

Mehr als Literatur gibt es nicht, Jakob. Barth schreibt über die Esau-Geschichte in seinem Buch über den Römerbrief. Paulus will den Römern an diesem Beispiel Gottes Gerechtigkeit demonstrieren. Gott erwählt sich Jakob noch vor dessen Geburt. Rechtfertigung kann man sich nicht verdienen, sie entspringt der reinen Gnade. Das ist die kirchliche Lehre. Esau hat nichts verbrochen und soll dennoch verworfen sein. Weil Gott, das Schicksal, wie auch immer, sagt: Ich schenke Erbarmen, wem ich will, und erweise Gnade, wem ich will. Augustinus hat das dann später noch weiter radikalisiert. Er erklärt, dass Gott, indem er den einen bestraft, zeigt, was er dem anderen erlässt. Gnade ist nur das, was man nicht verdient. Mir bedeutet das Wort Gnade nichts. Ich habe nie Gnade erlebt, erfahren, erahnt. Es ist ein Wort von früher. Aber das ist nicht schlimm. Denn als Roman funktioniert die Geschichte auch ohne Gott und Gnade. Uns dürstet nach Gerechtigkeit – aber wir blicken in die Unverständlichkeit des Seins. Augustinus, Kierkegaard, Nietzsche, Barth – das ist mein Kontinuum.

Zu Gast im Hause Walser in Ueberlingen am Bodensee

Foto: Jeannette Petri/laif

Foto: Jeannette Petri/laif

Du hast von Rechtfertigung gesprochen. Was ist das?

Wir haben das als Wort geerbt. Das Bedürfnis danach ist im Laufe der Jahrhunderte immer oberflächlicher geworden. Unter Intellektuellen ist es ganz verkommen. Es wurde Rechthaben daraus. Das genügt zur Rechtfertigung. Wer recht hat, fühlt sich gerechtfertigt. Aber das ist es nicht. Wir können uns von Karl Barth die Erkenntnis erwecken lassen, dass es keine Rechtfertigung gibt – es sei denn eine von oben. Er hat gesagt: „Fehlt deinem Leben Rechtfertigung, die nur Gott selbst ihm geben kann, dann fehlt ihm jede Rechtfertigung.“ Gut, aber damit hat er auch nur das Bedürfnis formuliert. Wer nur gerechtfertigt leben kann, kann gar nicht leben.

Es gibt diesen Briefwechsel zwischen Barth und der Theologin Charlotte von Kirschbaum, die seine Freundin war. Da redet er von der „Ermöglichung des Unmöglichen, das auch als Ermöglichtes unmöglich bleibt“. Meint er da die Liebe oder die Religion?

Nun, das ist doch bürgerlichster Klartext. Man kann sich nicht rechtfertigen, unter keinen Umständen. Und das, wovon er da im Besonderen gesprochen hat, war eben auch nicht zu rechtfertigen – selbst wenn man es gesellschaftlich und finanziell und was weiß ich nicht wie sonst noch ermöglicht.

Wie hat er sich denn aus der Affäre gezogen?

Na ja, er hat mit seiner Frau und seiner Freundin zu dritt unter einem Dach gewohnt.

Oh.

Jakob, was interessiert dich denn daran?

Interessiert dich das nicht? Ausgerechnet deinem Lieblingstheologen ist offenbar gelungen, woran alle deine Romanfiguren scheitern.

Ich gestatte mir da keine Einmischung ins Verständnis.

Aber das ist doch spannend: Wenn die Ermöglichung des Unmöglichen auch unmöglich bleibt, wenn man es ermöglicht – aber sie wohnen zu dritt unter einem Dach, dann ist offenbar doch eine Menge möglich, oder?

Barth hat hier einfach der bürgerlichen Moral recht gegeben. Sein Satz ist der Ausdruck höchster Bescheidenheit und Einsicht. Er erklärt, dass unmöglich bleibt, was er ermöglicht hat. Das ist vielleicht die höchste Form der Demut.

Es ist vor allem eine sehr lebbare Form der Demut.

Jakob, ich sehe an deiner Antwort, dass dir da etwas fehlt. Ich bin von Anfang an mit der Unmöglichkeit der religiösen Forderung konfrontiert worden – und zwar im Beichtstuhl. Darüber kannst du bei Atheisten die lächerlichsten Polemiken lesen. Und ich habe selbst einmal gesagt, dass meine Erinnerung mir manchmal den Eindruck erweckt, ich hätte mehr Zeit mit dem Beichten verbracht als mit dem Sündigen. Ich habe immer den Beichtspiegel heruntergebetet, die vorformulierten Sünden. Ich habe Gottes Namen leichtsinnig ausgesprochen. Ich habe Gottes Namen zornig ausgesprochen. Ich habe Unkeuschheit allein getan. Ich habe Unkeuschheit mit anderen getan. Ich hatte dafür nie eine persönliche Sprache. Ich wollte auch keine. Dann wartest du darauf, dass dir der Pfarrer dein Bußwerk aufgibt, und auf sein „Ego te absolvo“, die Lossprechung. Die Absolution ist aber nur gültig, wenn deine Reue vollkommen ist – und dass sie vollkommen ist, bedeutet, dass du nie mehr begehen wirst, was du eben gebeichtet hast. Aber du weißt, du wirst es wieder begehen. Wenn ich aus dem Beichtstuhl kam, wenn ich durch das Dorf gegangen bin, wenn ich im Moos war, dann hinter dem Haus, dann wusste ich das. Dann begann mein innerer Dialektiksturm: Das bereust du, das bereust du nicht, das bereust du, das kannst du gar nicht bereuen, aber was bist du dann, ein Lügner? Hast du dir deine Absolution erschlichen? Eine neue Sünde fürs nächste Mal? Da wird der jüngste Mensch in eine Bewegung versetzt, die ich für sehr nützlich halte. Eine Seelengymnastik, die mir sehr förderlich vorkommt. Ich habe das Gespräch mit mir selbst gelernt. Ich bin mir selbst begegnet, in einem Innenraum. Als zwei Personen, mindestens. Ich war derjenige, der die Sünde begangen hat und der wusste, er würde sie wieder begehen. Und ich war derjenige, der das Versprechen abgegeben hatte, es nicht mehr zu tun. Das heißt bei Barth: die Ermöglichung des Unmöglichen.

Ist das nicht Erziehung zur Heuchelei, zur doppelten Buchführung?

Schon die Frage ist grotesk. Es gibt kein Leben ohne doppelte, dreifache, fünffache Buchführung. Es gibt kein einsträngiges Bewusstsein. Es gibt nichts ohne seinen Widerspruch. Wenn man das nicht aushält und durch Argumentation und Rationalität ausräumen will, halbiert man den Menschen, das Leben, alles. Du nennst es Heuchelei – ich nenne es Bewusstseinsreichtum. Dass du gleichzeitig etwas bereust und es nicht bereust. Dass du in diesem Widerspruch existierst. Ich sehe mich heute noch als Bub durchs Moos heimgehen auf der Suche nach der vollkommenen Reue … Reue, verstehst du?

Kennst du denn Reue?

Ich merke immer, wenn ich etwas bereuen können müsste, aber dann merke ich auch, dass ich immer zu wenig bereuen kann. Ich bin dann dagegen, dass etwas PASSIERT ist, aber ich kann nicht dagegen sein, DASS es passiert ist. Auf Schweizerisch gibt es ein Sprichwort: Ich bin kein ausgeklügelt Buch. Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch. Das stammt von Conrad Ferdinand Meyer – und auf Schweizerisch reimt sich das besser.

Hast du ein schlechtes Gewissen?

Ein gutes Gewissen ist kein Gewissen. Ein Gewissen ist immer ein schlechtes. Und das Gewissen macht immer einsam. Die Unvorzeigbarkeit deiner tiefsten Wahrheit macht dich einsam.

„Die erste Schönheit in meinem Leben war die Musik in der Kirche“

Gibt es Erlösung?

Erlösung? Was wäre das denn? Nietzsche hat in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik geschrieben, „dass nur als ein ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“ erscheinen. Wenn es um Erlösung geht, dann ist das auch mein Satz! Was meint er? Er meint die Schönheit. Erlösung wird nur möglich durch Schönheit. Das fraglos Schöne erlöst dich, wenigstens eine gewisse Zeit lang – und während du durch ein Schönheitserlebnis erlöst bist, hast du kein Bedürfnis mehr nach Rechtfertigung. Also, Nietzsche spricht von Schönheit. Barth von Gnade. Vielleicht ist damit dasselbe gemeint. Das würde ich mir wünschen. Ich will dir mal drei Sätze vorlesen von drei Autoren, die mir in ihrer Verklärungsleistung so wichtig sind wie keine anderen …

Hölderlin, Kafka und …?

Robert Walser. Also, Hölderlin: „Meine Seele ist wie ein Fisch aus ihrem Elemente auf den Ufersand geworfen und windet sich und wirft sich umher, bis sie vertrocknet in der Hitze des Tages.“ Robert Walser: „Was soll ich mit den Gefühlen anfangen, als sie wie Fische im Sand der Sprache zappeln und sterben zu lassen.“ Franz Kafka: „Gestern und heute ein wenig geschrieben … Es ist trotz aller Wahrheit böse pedantisch, mechanisch, auf einer Sandbank ein noch knapp atmender Fisch.“ Erklär mir, wie es zu diesen drei Sätzen kommt, keiner hatte eine Ahnung von den anderen. Bürgerlich gesprochen, ist das ein Ausdruck der erlebten, äußersten Verlassenheit. Und auf diese Verlassenheit haben sie als Dichter geantwortet, sie haben die menschliche Existenz verklärt. Hölderlins Hymnen sind nichts als schön. Kafkas Prozess und Schloss – nichts als schön. Robert Walsers Prosa ist voller Schönheitsbeispiele. Die Reaktion auf die Verlassenheitserfahrung war Literatur, war das Schöne. Darum hatte ich gesagt: Jeder Roman wirft einen weißen Schatten. Religion und Literatur sind Sehnsucht nach Schönheit. Mein August Feinlein sagt im Muttersohn: „Allein die Schönheit zählt. Das Jenseits muss schön sein. Sonst kannst du es gleich vergessen.“

Und darum beginnt dein „Sterbender Mann“ auch mit dem Satz „Mehr als schön ist nichts“.

Ja. Ich habe von Luther, den ich nicht gut kenne, einen Satz behalten, und den auch nur dem Inhalt nach, der die Dialektik der religiösen Erlebensart besser fasst als jeder andere: Wenn die Sehnsucht groß genug ist, schmeckt sie manchmal nach Erfüllung. Jakob, es ist doch beinahe alles, was schön ist in unserer Denkgeschichte und Gefühlsgeschichte, von der Religion geprägt. Die Musik, die Malerei – die Welt, unsere Welt, meine Welt, verdankt ihre Schönheitsgipfel und Schönheitsnormalität der religiösen Gebundenheit. Wenn ich mich an die erste Schönheit in meinem Leben erinnere, dann war das die Musik in der Kirche in Wasserburg, vom Chor oben herab. Davon bin ich mein Leben lang abhängig geblieben. Es ist mir unbegreiflich, wie man gegen den Horizont, auf den hin das alles entstanden ist, ausrufen will: Gott gibt es nicht.

Aber kirchlich ist das nicht das Wahre. Religion darf doch nicht zur reinen Ästhetik gerinnen, und sie soll doch auch nicht in den Mystizismus führen, oder?

Ach ja? Warum nicht? Der Mystizismus ist der konkreteste Weg zu Gott.

Hilft denn die Religion?

Mich hat die Absolution am Sonntagmorgen in Unruhe versetzt. Aber ich habe nie eine dauernd hilfreiche Einwirkung des positiv Religiösen erlebt. Abgesehen davon natürlich, dass mich die Matthäuspassion in eine Stimmung versetzen kann, die ich als religiös bezeichnen würde und die ich als hilfreich empfinde.

Martin Walser blickt auf den Bodensee: „Wenn ich mich an die erste Schönheit in meinem Leben erinnere, dann war das die Musik in der Kirche in Wasserburg“

Du hast einmal in einem Interview gesagt: „Schlimm für mich war das Erlebnis, dass die Religion meiner Mutter – entschuldigen Sie die Formulierung – nichts genützt hat beim Sterben.“ Warum war das denn so?

Das konnte ich sie nicht fragen. Ich sah nur, dass sie Angst hatte.

Warum?

Na, du – junger Lackel … wart doch einmal ab …

Es hätte doch sein können, dass sie ihre Seele ganz ruhig in Gottes Hände legt und sagt: Nun trete ich meinem Schöpfer gegenüber …

So war es aber nicht. Ich weiß schon, dass es mit dem Glauben nicht wie mit dem Investieren ist: Man kann sich seine Erträge nicht bei Bedarf auszahlen lassen. Aber mit einer gewissen Leidensentschädigung darf man doch als Gläubiger schon rechnen – im Fall meiner Mutter, das habe ich mit eigenen Augen gesehen, ging diese Rechnung aber nicht auf. Sie wollte nicht sterben, sie hatte Angst vor dem Tod, sie hat ihre zunehmende Schwächung mit Furcht und Ohnmacht erlebt und fand dabei alles andere als Frieden bei ihrem Gott. Ihr allerkatholischster Glaube spendete in der Krankheit keinen Trost, und das verstehe ich sehr gut. Jakob, ich kann ewig mit dir und allen anderen über Tod und Leben und Sterben und Überleben und Sterblichkeit und Unsterblichkeit diskutieren, und ich kann mich hundertfach versuchen vorzubereiten auf den letzten Augenblick – aber ich weiß, dass ich nicht vorzubereiten bin. Und ich kann mir nicht, wie meine Mutter es konnte, damit helfen, dass es einen Himmel gibt. Gibt es keinen Himmel? Der Himmel ist eine Schönheitserfindung, um uns das Denken an den Tod erträglicher zu machen. Vielleicht gibt es einen Himmel. Als Bedürfnis gibt es ihn. Mancher kann sich den eigenen Verlust gar nicht anders erklären – Goethe zum Beispiel kam zu dem Schluss, so etwas Großartiges wie er könne gar nicht untergehen, also müsse es schon allein deshalb eine Art von Unsterblichkeit geben. Aber wenn ich darüber nachdenke, komme ich nur zu dem Ergebnis, dass meine Hosenträger unsterblich sind. Darf ich mal etwas fragen? Hast du Beten gelernt?

Nein.

Als Kind?

Nein.

Kein Nachtgebet?

Nein.

Jakob, Beten, ich muss dir das verständlich machen. Es passiert, plötzlich willst du beten. Nicht, weil du an etwas glaubst, du willst nur nicht mehr an das denken müssen, was dich gerade quält, durch Beten den Kopf füllen, nichts anderes mehr wissen als „Vater unser, der du bist im Himmel“. Dann weißt du nicht mehr weiter, willst aber nichts Falsches sagen, hilfreich sind nur die Zeilen, die mühelos von selbst kommen, die passen, dein Bewusstsein ausfüllen, sobald du überlegen musst, ob eine genauso laute, wie sie dir eingefallen ist, wirkt sie nicht mehr bewusstseinsfüllend, Gedanken verhindernd, abblendend „Vater unser, der du bist im Himmel wie auf Erden … jetzt und in der Stunde unseres Todes, Amen“, diese Zeile ist wieder ganz sicher. Die kannst du wiederholen, an der ist nicht zu zweifeln. Etwas als Lippengebet zu kritisieren kommt mir inzwischen anmaßend vor. Wenn ich klug tun wollte, könnte ich sagen: Wir müssen jemand haben, zu dem wir sprechen können, wir sind auf Zwiesprache angelegt. Und so weiter …

Wer war dein erster Toter?

Oh, das war der Großvater, der tot im Bett lag, in das sich am Abend zuvor auch unser Knecht Nikolaus Anwander gelegt hatte, der mit der Nachtwache beauftragt war. Ich habe noch seine Redensart im Ohr, wie er gesagt hat: „Wenn i bloß ge Amerika wär.“ Ich bin immer an seiner Hand gegangen. Mit ihm habe ich mehr Berührungserlebnisse als mit meinem Vater. Als er starb, war ich sieben. Dann starb eine Schwester meiner Mutter im Kloster, die Beerdigung war sehr eindrucksvoll.

Wie stellst du dir deine Beerdigung vor?

Morgens um fünf, in Wasserburg, außer Käthe und meinen Kindern keine Zeugen. Beerdigung einer Urne.

Würdest du dich als glücklichen Menschen bezeichnen?

Ich könnte sagen, wenn ich mir die Tatsächlichkeit meiner Erlebnisse mit ihrer Wahrscheinlichkeit vergleiche, dass ich wirklich Glück gehabt habe. Und jedes Mal ohne meine Beteiligung. Aber ich habe nie das Gefühl bekommen, ich sei ein glücklicher Mensch. Vielleicht hätte ich durch alles, was mir passiert ist, allmählich zu der Ansicht kommen müssen. Aber wie du zugeben wirst, sind das zwei vollkommen nicht zueinandergehörende Erscheinungen: Glück haben und glücklich sein. Natürlich ist man augenblicksweise, je weniger zurechnungsfähig, desto eher glücklich. Aber glücklich sein als Zustand, als Ja-Antwort auf eine solche Frage, das wäre mir unmöglich, das wäre grotesk. Genauso fremd wäre mir aber zu sagen: Ich bin ein unglücklicher Mensch. Ich habe dir schon gesagt, welches Wort sich bei mir dafür eingestellt hat: Unglücksglück. Ich habe nur bemerkt, dass ich bisher – und es ist ja allmählich Zeit, einen Strich drunterzuziehen – durch nichts in einen Bewusstseinszustand versetzt worden bin, den ich so nennen würde: glücklich. Glück und Unglück sind wahrscheinlich kulturelle Errungenschaften, wobei das Glück zweifellos beliebter ist. Aber es gibt das eine nicht ohne das andere. Es gibt kein Glück ohne ein dazugehöriges Unglück.

Das Leben wortwörtlich heißt der Band von Martin Walser und Jakob Augstein, aus dem dieses Gespräch stammt (Rowohlt 2017)

3;ere. Das Innere, das sind Vergangenheit und Zukunft. Unser Ausdrucksproblem: das Äußere in ein Verhältnis zu bringen zum Inneren. Wenn das Innere überwiegt, kommt das Äußere zu kurz. Also, um zu deiner Frage zu kommen: Ich übertreibe nur ein bisschen, wenn ich sage: Ich konnte mit Gegenwart nie viel anfangen. Ja, schreibend lebte ich. Und weil ich andauernd beschäftigt war mit dem, was ich noch schreiben wollte, konnte ich mit dem Goethe-Satz, dass man zum Augenblick sagen sollte, er sei so schön, nichts anfangen, das habe ich eher versäumt als getan. Aber auch das ist eine Ungerechtigkeit gegen alle Erinnerungen, die mir sagen wollen, das Gegenteil sei genauso wahr. Nur ein Beispiel: das Schwimmen! Schwimmen, das ist die reine, schrankenlose Gegenwärtigkeit. Schwimmend sind wir im Jetzt. Sind etwas Schwebendes, fast schwerelos, endlich der Gleichgewichtsprobleme enthoben. Aber eben nur als Schwimmende. Sobald wir wieder auf dem allzu festen Land sind, triumphiert wieder die Schwere. Wir werden hinabgezogen und richten unseren Blick nach oben …Im „Letzten Rank“ kommt ein Satz mehrmals vor: „Unfassbar sein wie die Wolke, die schwebt.“Diese Stelle hast du dir gemerkt?Sie hat mir gefallen.Karl Barth hat gesagt, seine Theologie schwebe in der freien Luft. Das hat mir sogleich eingeleuchtet, als ich es gelesen habe.Ich kenne mich bei Karl Barth nicht aus. Ich habe gelesen, dass er eine „gottferne Theologie“ gedacht hat, für eine Welt, die sich an die Abwesenheit Gottes gewöhnt hat.Er hat gesagt: „Religion ist Unglaube.“ Das hat mich begeistert. Ich war ja auf ihn vorbereitet, ohne ihn gekannt zu haben. Vorbereitet durch Kierkegaard und Nietzsche. Kierkegaard lässt Religion aufhören, „sobald die Ungewissheit die Form der Gewissheit ist“. Und der junge Nietzsche: „Eine Religion, die durch und durch wissenschaftlich erkannt werden soll, ist am Ende dieses Weges zugleich vernichtet.“ Dazu passte Karl Barth, der sagt: „Es gibt für den Theologen nächst dem Hören auf das Zeugnis der Bibel und der Kirche kaum etwas so Fruchtbares wie das Hören auf die Stimmen, die die Annahme dieses Zeugnisses glatt zu verweigern scheinen.“ Das heißt, der Glaube braucht den Unglauben. Kierkegaard: „… dass der Glaube immer so groß ist wie der Unglaube.“ Kierkegaard redet also von einem dialektischen Verhältnis von Glauben und Unglauben. Barth fügt dem noch hinzu, dass es in der Religionsbewegung eines Bewusstseins keinen Punkt des Anhaltens und Beweisenkönnens gibt. Jeder Punkt wird durch den nächsten widerlegt. Jeder Punkt ruft seinen Widerspruch hervor. Er hat gesagt, wenn man einen fliegenden Vogel fotografiert, dann hat man nachher nicht den Vogel im Flug, sondern einen im Bild stehenden Vogel. Und so muss auch der Versuch misslingen, den Glauben an irgendeinem Punkt anzuhalten, um zu einem positiven Bekenntnis zu gelangen. In diesem Bild des Vogels im Flug ist aber noch etwas anderes enthalten: Die Idee des Kommenden, das ist eine Bewegung auf etwas hin, und das ist die Zukunft. Der Glaube ist immer ein Glaube an die Zukunft und eine Sehnsucht nach der Zukunft. Überwindung, Erlösung, das wird alles kommen. Karl Barths Zukunft, in der sich die Herrlichkeit Gottes offenbart, ist natürlich eine Zukunft ohne Zeit, eine Überwindung und Auflösung der Zeit – und dadurch dann wieder dauernde Gegenwart. Verstehst du, es wird keinen Zeitpunkt geben, an dem Gott bekannt sein wird, keine historisch vorstellbare Zeit. Darum spricht Barth auch immer vom „unbekannten Gott“, als der, an den man nur ohne Hoffnung auf Hoffnung hin glauben kann. Und jetzt kommt es: Das ist genau der Gott Nietzsches! Es ist ja ein Irrtum, anzunehmen, dass Nietzsche Gott für tot erklärt hat – mitnichten, er hat nur den Gott des 19. Jahrhunderts für tot erklärt. Als ich Barths Buch über den Römerbrief gelesen habe, da habe ich darin Sätze gefunden, die mich an Nietzsches Zarathustra erinnert haben. Der Zarathustra und das Paulusbuch – nie wurde so über unser Seelenleben geschrieben wie von Nietzsche und Barth. Dass die Gegenwart eine mangelhafte ist, auch das ist ein Gedanke, der beide vereint. Beider Blick ist auf das ewige Futurum gerichtet. Mich hat einmal ein Verlag gebeten, einen Beitrag für ein Buch über Bertrand Russell zu liefern: Warum ich kein Christ bin. Also habe ich den Aufsatz verfasst: Theologie des Mangels, da konnte ich etwas formulieren, was bei mir mehr als einmal vorkommt. Ich habe geschrieben, wie herrlich es sich bei Russell liest, dass es keinen Gott gibt. Aber wenn das so ist, dann fehlt er mir, habe ich geschrieben. Darum auch: Theologie des Mangels. Bei aller Feinheitsfolgerung vergessen wir doch nicht das Hauptwort: Gott. Ich sage: Gegen Gott ist, wer ohne ihn ist und ihn nicht vermisst. Und als irdische Wegweisung: Lass doch anderen ihren Gott. Beneide sie um ihren Gott. Grüß ihren Gott oder sag, sie sollen ihn grüßen.Martin, ich weiß schon, warum ich mich nicht habe konfirmieren lassen. Aber als Literatur ist das wunderschön, was du da sagst.Aber Jakob – es IST Literatur. Darum geht es. Religion ist Literatur. Wer das anders sieht, der findet darin noch einen Mehrwert, den ich nicht erleben kann. Es geht nicht um Welterklärung, sondern um Weltverklärung – Religion und Literatur verklären die Welt.„Die Frage ist grotesk. Es gibt kein Leben ohne doppelte Buchführung“Was bedeutet Verklärung?Verklärung bedeutet, eine Sache erlebbar zu machen, ohne dass Verständlichkeit zur Hauptbedingung werden muss. Von allen Büchern meines Vaters, der ohne jeden Zweifel ein Suchender war, war keines so zerlesen wie der Band der Hölderlingedichte. Und Hölderlin ist die höchste Sprachmöglichkeit zur Verklärung des sogenannten Irdischen. Von der Antike bis ins Gegenwärtige gibt es eine Erlebnisfähigkeit, der sprachlich alles möglich ist. Ajax und Christus und Paulus werden alle gemeinsam zu Sprache und zeugen davon, dass es zwischen Religion und Literatur keinen Unterschied gibt. Die Weihnachtsgeschichte – wunderbarste Literatur! Und das Buch Hiob!Auch die Esau-Geschichte ist für dich reine Literatur? Der Text über den entwendeten Segen?O ja, diese Geschichte vor allem. Höchste und tiefste Literatur! Jakob und Esau sind die wunderbarsten Romanfiguren, so wie Madame Bovary und Fürst Myschkin.Aber ist es nicht mehr als Literatur?Mehr als Literatur gibt es nicht, Jakob. Barth schreibt über die Esau-Geschichte in seinem Buch über den Römerbrief. Paulus will den Römern an diesem Beispiel Gottes Gerechtigkeit demonstrieren. Gott erwählt sich Jakob noch vor dessen Geburt. Rechtfertigung kann man sich nicht verdienen, sie entspringt der reinen Gnade. Das ist die kirchliche Lehre. Esau hat nichts verbrochen und soll dennoch verworfen sein. Weil Gott, das Schicksal, wie auch immer, sagt: Ich schenke Erbarmen, wem ich will, und erweise Gnade, wem ich will. Augustinus hat das dann später noch weiter radikalisiert. Er erklärt, dass Gott, indem er den einen bestraft, zeigt, was er dem anderen erlässt. Gnade ist nur das, was man nicht verdient. Mir bedeutet das Wort Gnade nichts. Ich habe nie Gnade erlebt, erfahren, erahnt. Es ist ein Wort von früher. Aber das ist nicht schlimm. Denn als Roman funktioniert die Geschichte auch ohne Gott und Gnade. Uns dürstet nach Gerechtigkeit – aber wir blicken in die Unverständlichkeit des Seins. Augustinus, Kierkegaard, Nietzsche, Barth – das ist mein Kontinuum.Placeholder image-2Placeholder image-1Du hast von Rechtfertigung gesprochen. Was ist das?Wir haben das als Wort geerbt. Das Bedürfnis danach ist im Laufe der Jahrhunderte immer oberflächlicher geworden. Unter Intellektuellen ist es ganz verkommen. Es wurde Rechthaben daraus. Das genügt zur Rechtfertigung. Wer recht hat, fühlt sich gerechtfertigt. Aber das ist es nicht. Wir können uns von Karl Barth die Erkenntnis erwecken lassen, dass es keine Rechtfertigung gibt – es sei denn eine von oben. Er hat gesagt: „Fehlt deinem Leben Rechtfertigung, die nur Gott selbst ihm geben kann, dann fehlt ihm jede Rechtfertigung.“ Gut, aber damit hat er auch nur das Bedürfnis formuliert. Wer nur gerechtfertigt leben kann, kann gar nicht leben.Es gibt diesen Briefwechsel zwischen Barth und der Theologin Charlotte von Kirschbaum, die seine Freundin war. Da redet er von der „Ermöglichung des Unmöglichen, das auch als Ermöglichtes unmöglich bleibt“. Meint er da die Liebe oder die Religion?Nun, das ist doch bürgerlichster Klartext. Man kann sich nicht rechtfertigen, unter keinen Umständen. Und das, wovon er da im Besonderen gesprochen hat, war eben auch nicht zu rechtfertigen – selbst wenn man es gesellschaftlich und finanziell und was weiß ich nicht wie sonst noch ermöglicht.Wie hat er sich denn aus der Affäre gezogen?Na ja, er hat mit seiner Frau und seiner Freundin zu dritt unter einem Dach gewohnt.Oh.Jakob, was interessiert dich denn daran?Interessiert dich das nicht? Ausgerechnet deinem Lieblingstheologen ist offenbar gelungen, woran alle deine Romanfiguren scheitern.Ich gestatte mir da keine Einmischung ins Verständnis.Aber das ist doch spannend: Wenn die Ermöglichung des Unmöglichen auch unmöglich bleibt, wenn man es ermöglicht – aber sie wohnen zu dritt unter einem Dach, dann ist offenbar doch eine Menge möglich, oder?Barth hat hier einfach der bürgerlichen Moral recht gegeben. Sein Satz ist der Ausdruck höchster Bescheidenheit und Einsicht. Er erklärt, dass unmöglich bleibt, was er ermöglicht hat. Das ist vielleicht die höchste Form der Demut.Es ist vor allem eine sehr lebbare Form der Demut.Jakob, ich sehe an deiner Antwort, dass dir da etwas fehlt. Ich bin von Anfang an mit der Unmöglichkeit der religiösen Forderung konfrontiert worden – und zwar im Beichtstuhl. Darüber kannst du bei Atheisten die lächerlichsten Polemiken lesen. Und ich habe selbst einmal gesagt, dass meine Erinnerung mir manchmal den Eindruck erweckt, ich hätte mehr Zeit mit dem Beichten verbracht als mit dem Sündigen. Ich habe immer den Beichtspiegel heruntergebetet, die vorformulierten Sünden. Ich habe Gottes Namen leichtsinnig ausgesprochen. Ich habe Gottes Namen zornig ausgesprochen. Ich habe Unkeuschheit allein getan. Ich habe Unkeuschheit mit anderen getan. Ich hatte dafür nie eine persönliche Sprache. Ich wollte auch keine. Dann wartest du darauf, dass dir der Pfarrer dein Bußwerk aufgibt, und auf sein „Ego te absolvo“, die Lossprechung. Die Absolution ist aber nur gültig, wenn deine Reue vollkommen ist – und dass sie vollkommen ist, bedeutet, dass du nie mehr begehen wirst, was du eben gebeichtet hast. Aber du weißt, du wirst es wieder begehen. Wenn ich aus dem Beichtstuhl kam, wenn ich durch das Dorf gegangen bin, wenn ich im Moos war, dann hinter dem Haus, dann wusste ich das. Dann begann mein innerer Dialektiksturm: Das bereust du, das bereust du nicht, das bereust du, das kannst du gar nicht bereuen, aber was bist du dann, ein Lügner? Hast du dir deine Absolution erschlichen? Eine neue Sünde fürs nächste Mal? Da wird der jüngste Mensch in eine Bewegung versetzt, die ich für sehr nützlich halte. Eine Seelengymnastik, die mir sehr förderlich vorkommt. Ich habe das Gespräch mit mir selbst gelernt. Ich bin mir selbst begegnet, in einem Innenraum. Als zwei Personen, mindestens. Ich war derjenige, der die Sünde begangen hat und der wusste, er würde sie wieder begehen. Und ich war derjenige, der das Versprechen abgegeben hatte, es nicht mehr zu tun. Das heißt bei Barth: die Ermöglichung des Unmöglichen.Ist das nicht Erziehung zur Heuchelei, zur doppelten Buchführung?Schon die Frage ist grotesk. Es gibt kein Leben ohne doppelte, dreifache, fünffache Buchführung. Es gibt kein einsträngiges Bewusstsein. Es gibt nichts ohne seinen Widerspruch. Wenn man das nicht aushält und durch Argumentation und Rationalität ausräumen will, halbiert man den Menschen, das Leben, alles. Du nennst es Heuchelei – ich nenne es Bewusstseinsreichtum. Dass du gleichzeitig etwas bereust und es nicht bereust. Dass du in diesem Widerspruch existierst. Ich sehe mich heute noch als Bub durchs Moos heimgehen auf der Suche nach der vollkommenen Reue … Reue, verstehst du?Kennst du denn Reue?Ich merke immer, wenn ich etwas bereuen können müsste, aber dann merke ich auch, dass ich immer zu wenig bereuen kann. Ich bin dann dagegen, dass etwas PASSIERT ist, aber ich kann nicht dagegen sein, DASS es passiert ist. Auf Schweizerisch gibt es ein Sprichwort: Ich bin kein ausgeklügelt Buch. Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch. Das stammt von Conrad Ferdinand Meyer – und auf Schweizerisch reimt sich das besser.Hast du ein schlechtes Gewissen?Ein gutes Gewissen ist kein Gewissen. Ein Gewissen ist immer ein schlechtes. Und das Gewissen macht immer einsam. Die Unvorzeigbarkeit deiner tiefsten Wahrheit macht dich einsam.„Die erste Schönheit in meinem Leben war die Musik in der Kirche“Gibt es Erlösung?Erlösung? Was wäre das denn? Nietzsche hat in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik geschrieben, „dass nur als ein ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“ erscheinen. Wenn es um Erlösung geht, dann ist das auch mein Satz! Was meint er? Er meint die Schönheit. Erlösung wird nur möglich durch Schönheit. Das fraglos Schöne erlöst dich, wenigstens eine gewisse Zeit lang – und während du durch ein Schönheitserlebnis erlöst bist, hast du kein Bedürfnis mehr nach Rechtfertigung. Also, Nietzsche spricht von Schönheit. Barth von Gnade. Vielleicht ist damit dasselbe gemeint. Das würde ich mir wünschen. Ich will dir mal drei Sätze vorlesen von drei Autoren, die mir in ihrer Verklärungsleistung so wichtig sind wie keine anderen …Hölderlin, Kafka und …?Robert Walser. Also, Hölderlin: „Meine Seele ist wie ein Fisch aus ihrem Elemente auf den Ufersand geworfen und windet sich und wirft sich umher, bis sie vertrocknet in der Hitze des Tages.“ Robert Walser: „Was soll ich mit den Gefühlen anfangen, als sie wie Fische im Sand der Sprache zappeln und sterben zu lassen.“ Franz Kafka: „Gestern und heute ein wenig geschrieben … Es ist trotz aller Wahrheit böse pedantisch, mechanisch, auf einer Sandbank ein noch knapp atmender Fisch.“ Erklär mir, wie es zu diesen drei Sätzen kommt, keiner hatte eine Ahnung von den anderen. Bürgerlich gesprochen, ist das ein Ausdruck der erlebten, äußersten Verlassenheit. Und auf diese Verlassenheit haben sie als Dichter geantwortet, sie haben die menschliche Existenz verklärt. Hölderlins Hymnen sind nichts als schön. Kafkas Prozess und Schloss – nichts als schön. Robert Walsers Prosa ist voller Schönheitsbeispiele. Die Reaktion auf die Verlassenheitserfahrung war Literatur, war das Schöne. Darum hatte ich gesagt: Jeder Roman wirft einen weißen Schatten. Religion und Literatur sind Sehnsucht nach Schönheit. Mein August Feinlein sagt im Muttersohn: „Allein die Schönheit zählt. Das Jenseits muss schön sein. Sonst kannst du es gleich vergessen.“Und darum beginnt dein „Sterbender Mann“ auch mit dem Satz „Mehr als schön ist nichts“.Ja. Ich habe von Luther, den ich nicht gut kenne, einen Satz behalten, und den auch nur dem Inhalt nach, der die Dialektik der religiösen Erlebensart besser fasst als jeder andere: Wenn die Sehnsucht groß genug ist, schmeckt sie manchmal nach Erfüllung. Jakob, es ist doch beinahe alles, was schön ist in unserer Denkgeschichte und Gefühlsgeschichte, von der Religion geprägt. Die Musik, die Malerei – die Welt, unsere Welt, meine Welt, verdankt ihre Schönheitsgipfel und Schönheitsnormalität der religiösen Gebundenheit. Wenn ich mich an die erste Schönheit in meinem Leben erinnere, dann war das die Musik in der Kirche in Wasserburg, vom Chor oben herab. Davon bin ich mein Leben lang abhängig geblieben. Es ist mir unbegreiflich, wie man gegen den Horizont, auf den hin das alles entstanden ist, ausrufen will: Gott gibt es nicht.Aber kirchlich ist das nicht das Wahre. Religion darf doch nicht zur reinen Ästhetik gerinnen, und sie soll doch auch nicht in den Mystizismus führen, oder?Ach ja? Warum nicht? Der Mystizismus ist der konkreteste Weg zu Gott.Hilft denn die Religion?Mich hat die Absolution am Sonntagmorgen in Unruhe versetzt. Aber ich habe nie eine dauernd hilfreiche Einwirkung des positiv Religiösen erlebt. Abgesehen davon natürlich, dass mich die Matthäuspassion in eine Stimmung versetzen kann, die ich als religiös bezeichnen würde und die ich als hilfreich empfinde.Placeholder image-3Du hast einmal in einem Interview gesagt: „Schlimm für mich war das Erlebnis, dass die Religion meiner Mutter – entschuldigen Sie die Formulierung – nichts genützt hat beim Sterben.“ Warum war das denn so?Das konnte ich sie nicht fragen. Ich sah nur, dass sie Angst hatte.Warum?Na, du – junger Lackel … wart doch einmal ab …Es hätte doch sein können, dass sie ihre Seele ganz ruhig in Gottes Hände legt und sagt: Nun trete ich meinem Schöpfer gegenüber …So war es aber nicht. Ich weiß schon, dass es mit dem Glauben nicht wie mit dem Investieren ist: Man kann sich seine Erträge nicht bei Bedarf auszahlen lassen. Aber mit einer gewissen Leidensentschädigung darf man doch als Gläubiger schon rechnen – im Fall meiner Mutter, das habe ich mit eigenen Augen gesehen, ging diese Rechnung aber nicht auf. Sie wollte nicht sterben, sie hatte Angst vor dem Tod, sie hat ihre zunehmende Schwächung mit Furcht und Ohnmacht erlebt und fand dabei alles andere als Frieden bei ihrem Gott. Ihr allerkatholischster Glaube spendete in der Krankheit keinen Trost, und das verstehe ich sehr gut. Jakob, ich kann ewig mit dir und allen anderen über Tod und Leben und Sterben und Überleben und Sterblichkeit und Unsterblichkeit diskutieren, und ich kann mich hundertfach versuchen vorzubereiten auf den letzten Augenblick – aber ich weiß, dass ich nicht vorzubereiten bin. Und ich kann mir nicht, wie meine Mutter es konnte, damit helfen, dass es einen Himmel gibt. Gibt es keinen Himmel? Der Himmel ist eine Schönheitserfindung, um uns das Denken an den Tod erträglicher zu machen. Vielleicht gibt es einen Himmel. Als Bedürfnis gibt es ihn. Mancher kann sich den eigenen Verlust gar nicht anders erklären – Goethe zum Beispiel kam zu dem Schluss, so etwas Großartiges wie er könne gar nicht untergehen, also müsse es schon allein deshalb eine Art von Unsterblichkeit geben. Aber wenn ich darüber nachdenke, komme ich nur zu dem Ergebnis, dass meine Hosenträger unsterblich sind. Darf ich mal etwas fragen? Hast du Beten gelernt?Nein.Als Kind?Nein.Kein Nachtgebet?Nein.Jakob, Beten, ich muss dir das verständlich machen. Es passiert, plötzlich willst du beten. Nicht, weil du an etwas glaubst, du willst nur nicht mehr an das denken müssen, was dich gerade quält, durch Beten den Kopf füllen, nichts anderes mehr wissen als „Vater unser, der du bist im Himmel“. Dann weißt du nicht mehr weiter, willst aber nichts Falsches sagen, hilfreich sind nur die Zeilen, die mühelos von selbst kommen, die passen, dein Bewusstsein ausfüllen, sobald du überlegen musst, ob eine genauso laute, wie sie dir eingefallen ist, wirkt sie nicht mehr bewusstseinsfüllend, Gedanken verhindernd, abblendend „Vater unser, der du bist im Himmel wie auf Erden … jetzt und in der Stunde unseres Todes, Amen“, diese Zeile ist wieder ganz sicher. Die kannst du wiederholen, an der ist nicht zu zweifeln. Etwas als Lippengebet zu kritisieren kommt mir inzwischen anmaßend vor. Wenn ich klug tun wollte, könnte ich sagen: Wir müssen jemand haben, zu dem wir sprechen können, wir sind auf Zwiesprache angelegt. Und so weiter …Wer war dein erster Toter?Oh, das war der Großvater, der tot im Bett lag, in das sich am Abend zuvor auch unser Knecht Nikolaus Anwander gelegt hatte, der mit der Nachtwache beauftragt war. Ich habe noch seine Redensart im Ohr, wie er gesagt hat: „Wenn i bloß ge Amerika wär.“ Ich bin immer an seiner Hand gegangen. Mit ihm habe ich mehr Berührungserlebnisse als mit meinem Vater. Als er starb, war ich sieben. Dann starb eine Schwester meiner Mutter im Kloster, die Beerdigung war sehr eindrucksvoll.Wie stellst du dir deine Beerdigung vor?Morgens um fünf, in Wasserburg, außer Käthe und meinen Kindern keine Zeugen. Beerdigung einer Urne.Würdest du dich als glücklichen Menschen bezeichnen?Ich könnte sagen, wenn ich mir die Tatsächlichkeit meiner Erlebnisse mit ihrer Wahrscheinlichkeit vergleiche, dass ich wirklich Glück gehabt habe. Und jedes Mal ohne meine Beteiligung. Aber ich habe nie das Gefühl bekommen, ich sei ein glücklicher Mensch. Vielleicht hätte ich durch alles, was mir passiert ist, allmählich zu der Ansicht kommen müssen. Aber wie du zugeben wirst, sind das zwei vollkommen nicht zueinandergehörende Erscheinungen: Glück haben und glücklich sein. Natürlich ist man augenblicksweise, je weniger zurechnungsfähig, desto eher glücklich. Aber glücklich sein als Zustand, als Ja-Antwort auf eine solche Frage, das wäre mir unmöglich, das wäre grotesk. Genauso fremd wäre mir aber zu sagen: Ich bin ein unglücklicher Mensch. Ich habe dir schon gesagt, welches Wort sich bei mir dafür eingestellt hat: Unglücksglück. Ich habe nur bemerkt, dass ich bisher – und es ist ja allmählich Zeit, einen Strich drunterzuziehen – durch nichts in einen Bewusstseinszustand versetzt worden bin, den ich so nennen würde: glücklich. Glück und Unglück sind wahrscheinlich kulturelle Errungenschaften, wobei das Glück zweifellos beliebter ist. Aber es gibt das eine nicht ohne das andere. Es gibt kein Glück ohne ein dazugehöriges Unglück.



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Von Veritatis

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