Norddeutsche Gymnasien erzwangen einst mit zwölf Jahren eine lebensprägende Wahl: sprachlicher oder naturwissenschaftlicher Zweig? Ich ersparte mir das gefürchtete Latinum und Altgriechisch, wählte Mathe, Bio, Chemie, Physik. Sie ebneten Wege in meinen Beruf, den Wissenschaftsjournalismus.

Glücklicherweise konnte der kulturpolitisch erzwungene Scheideweg nicht am humanistischen Geist meiner Lehranstalt rütteln. Ihr Name, Humboldt, war Programm. Umfassende Bildung blieb die Tonalität. Künstlerisch-Musisches, auch Philosophie kamen nie zu kurz: die vielen Gesichter der Welt und wie daraus eines wird. Das in Humboldt’scher Ganzheitlichkeit, ideell und materiell, ideengeschichtlich wie auf Atome heruntergebrochen.

War doch die Natur für unseren

für unseren großen Universalgelehrten, bei aller Passion fürs Messen, „nicht ein todtes Aggregat, sondern ein wundervolles organisches Gewebe“, wie er in den legendären Berliner Kosmos-Vorlesungen vortrug, vor Hofadel und Dienstmädchen. Alexander von Humboldts Einheit von Natur und Labor war mir beim Verstehen und Einordnen von Wissenschaft stets eine enorme Hilfe. Wenn Francis Bacon die Schöpfung für die Herausgabe ihrer Geheimnisse „bis zur Folter“ preisgab, Issac Newton im Kosmos ein bloßes Uhrwerk zu erkennen glaubte – die Urväter der Aufklärung –, brachte Humboldt jenen Maschinismus ins Gleichgewicht.Das hängt heute wieder schief. In immer neuen Schüben bedrängen uns Manager, Forscher, auch unter kanzlerschaftlicher Schirmherrschaft: Deutschland und Europa verlören technologisch den Anschluss gegenüber China, Indien, den USA; speziell Naturwissenschaften kämen in Ausbildungscurricula zu kurz, Mathe, Ingenieur- und Naturwissenschaft, Technologie: das MINT-Cluster.In dieser Schlichtheit ist der Appell zu kurz gedacht, er bringt Nerds hervor, aber keine Universalisten. Naturwissenschaften und Technologie finden ihren Zwilling in Sozial- und Geisteswissenschaften. Sie sind Ethik, Gewissen, Kontrolle. Der reinen Analytik setzen sie Reflexion und Introspektion entgegen: Wie vertragen sich Zahlen und Formeln mit Humboldts Diktum vom Organismus der Welt und dessen Pflege?Der Frage folgt auch die Technische Universität München, einer der angesagten Technologie-Campus der Welt. Sie lehrt Ingenieurwissenschaften und Philosophie, Physik und Politologie in Tandems. Sie stehen für eine neue Transdisziplinarität. TUM-Dozent Marc-Denis Weitze, Chemiker und Philosoph, macht künftige Technik- und Naturwissenschaftler mit Theorien und Praktiken der Soziologie vertraut. Der übergreifende Forschungsblick, wie sich etwa ein Brückenbau optimal mit Natur und Mensch in Einklang bringen lässt, ist für Studierende wie Lehrende ein tastender Gang in akademisches Neuland, räumt Weitze ein – methodisch noch halb nackt.Dazu bedarf es auch einer Reform der Didaktik. Beispielgebend sind hier Helena González und Oriol Marimón aus Barcelona. Die Biologen und Kabarettisten stehen in EU-Diensten an Europas Schulen. Ihr Auftrag: „Universalisten statt Nerds.“ In ihren Unterricht binden sie viele künstlerische Elemente ein, weiten den Blick fürs Ganze. Die Vorgänge in Zellen machen sie mit coolen Sketchen sichtbar: wie Zellpartikel sich bei Partys verlieben und entlieben; Einsteins Relativität inszenieren sie mit Zwillingspaaren, die sich unterschiedlich schnell bewegen und nach dem Raumzeitgesetz unterschiedlich schnell altern. Solche Lernerlebnisse mit bisher streng rational vermittelten Stoffen brennen sich bei den Teilnehmenden ins Gedächtnis. Das staubtrockene STEM (englisch für MINT) entzünden die Spanier mit einem Feuerwerk der Kunst, STEM wird zu STEAM – mit Dampf vermittelte Wissenschaft.



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Von Veritatis

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