Lange Schlangen vor dem Haus der Rosa-Luxemburg-Stiftung am Berliner Ostbahnhof; 500 Anmeldungen hatte es gegeben. Als die Veranstaltung beginnt, sitzen zahlreiche (vor allem junge) Zuschauer*innen auf dem Boden; per Livestream wird die Veranstaltung im Netz übertragen.

Das große Interesse gilt dem Buch eines japanischen Philosophen. Kohei Saito, erst 36 Jahre alt und Associate Professor an der Universität von Tokio, hat es geschrieben. Die englische Übersetzung (die bei Cambridge University Press erschien) folgt dem japanischen Original und trägt den Titel Marx in the Anthropocene. Towards the Idea of Degrowth Communism.

Der deutschen Verlag dtv titelt reißerisch: Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus.

Big in Japan

Mit seiner marxistisch fund

Big in JapanMit seiner marxistisch fundierten Kapitalismus-Kritik hat Kohei Saito einen Bestseller gelandet. Sein Buch wurde in Japan bereits 500.000 Mal verkauft und ausgezeichnet; so als eines der Best Asian Books of the Year. Das große Interesse hierzulande an seinen Überlegungen scheint nicht verwunderlich, auch der Freitag hat das Buch besprochen.Denn Saito verspricht nicht weniger als die Überwindung von Produktivismus- und Wirtschaftswachstums-Ideologien durch ein neues Gesellschaftsmodell. Mit Gemeinbesitz und demokratischer Selbstverwaltung öffentlicher Güter („common goods“) wie Wasser und Strom, Wohnungsmöglichkeiten und Gesundheitsversorgung, Bildung und Verkehr. Die dadurch mögliche Entschleunigung von Leben und Wirtschaften bietet nicht nur eine Alternative für die Menschen in den Leistungsgesellschaften Ostasiens, wo die japanische Sprache den Begriff „Karoshi“ und also „Tod durch Überarbeitung“ kennt. Überwunden werden – zunächst theoretisch – zugleich die katastrophalen ökologischen Konsequenzen des Kapitalismus. Denn diese auf der Ausbeutung von Mensch und Natur beruhende Produktionsweise befindet sich im unauflöslichen Widerspruch zwischen dem Drang des Kapitals, permanent seine Umschlagsgeschwindigkeit zu erhöhen, und natürlichen Reproduktionszyklen, die ihre eigene Zeit haben und auf ökologisches Recycling angewiesen sind.Für diese neue Gesellschaft gibt es das sperrige Label „Degrowth-Communism“. Was zeigt, dass es mit dem projektierten „Systemsturz“ vielleicht nicht ganz so einfach ist. Denn wie denkt und lebt man so etwas wie einen „Nicht-Wachstums-Kommunismus“ – wenn es dafür noch nicht einmal einen guten Begriff gibt? Und wie überführt man diese theoretischen Überlegungen in gesellschaftliche Praxis?Folgenschwere EntdeckungAuf diese Fragen geht der sympathische Philosoph Kohei Saito zunächst nicht ein. Vor dem Berliner Publikum berichtet er zunächst von sich und seiner intellektuellen Entwicklung. Sein Weg führte ihn vom Philosophie-Studium an der Tokioter Universität, an der er 2005 mit Marx-Lektüre begann, nach Connecticut/USA. Als er entdeckte, dass es dort keine Marxisten gab, ging er nach Berlin; zunächst an die Freie Universität und danach an die Humboldt-Universität, an der seine Dissertation verteidigte; begleitet von Andreas Arndt.Und hier in Berlin kam es zu folgenschweren Entdeckungen.Zum einen konnte er an der Marx-Engels-Gesamtausgabe mitarbeiten; also an jenem akademischen Langzeit-Projekt, das sämtliche Aufzeichnungen der beiden Analytiker der kapitalistischen Gesellschaft zugänglich macht. Saito edierte die Schriften, die der umfassend forschende Karl Marx für die Fortsetzung seines Hauptwerks Das Kapital studiert hatte. Zu ihnen gehörten Exzerpte aus den Werken des deutschen Chemikers Justus von Liebig, so unter anderem die Einleitung in die Naturgesetze des Feldbaues und Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie. Mit diesen Arbeiten formierte sich die neue Wissenschaftsdisziplin Agrochemie. Und der genaue Beobachter der kapitalistischen Warenproduktion Karl Marx fand hier den Begriff „Stoffwechsel“, den Kohei Saito auch für seine Überlegungen zur Überwindung des Kapitalismus tragfähig machen möchte.Zum anderen erlebte er in Berlin und später auch in Japan und in anderen Ländern die ökologischen Bewegungen Fridays for Future und Extinction Rebellion. Soziale Kräfte, die etwas bewirken konnten. Denn wenn nur 3,5 Prozent der Menschen gewaltlos und entschlossen aufbegehren – so die These der Politologin Erica Chenoweth, der auch Saito folgt – sind große gesellschaftliche Umwälzungen möglich.Schließlich und nicht zuletzt hat die Covid-Pandemie gezeigt, welche miserablen Arbeitsbedingungen vor allem im Gesundheitswesen und in der Pflege durch den Kapitalismus entstehen. Die Erfahrung des Stillstands hat zugleich die Macht der Entschleunigung demonstriert: plötzlich öffneten sich Freiräume für Reflexionen, die nun theoretisch entfaltet werden sollen.Lob der „Common goods“An Überlegungen zur Transformation unserer kapitalistischen Beschleunigungs- und Überflussgesellschaft gibt es keinen Mangel. Gedanken zum Ende des Kapitalismus kommen nicht nur von Maja Göpel und Ulrike Herrmann.Die Ideen von Kohei Saito zu „Degrowth-Communism“ und „Öko-Sozialismus“ scheinen radikaler. Gegen die Vorstellung, durch Erhöhung der Produktivität und Entwicklung von fortgeschrittenen Technologien die inhärenten Konflikte und Krisen des Kapitalismus zu lösen, will er das System zerschlagen, das auf endloses Wachstum ausgerichtet ist und die Menschen zu überlangen Arbeitszeiten und schrankenlosem Konsum antreibt.Also kein „Produktivismus“, der den „Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur“ nur weiter zerstört; keine erhöhte Akzeleration. Sondern auf den Spuren von Karl Marx nach Alternativen zur kapitalistischen Produktionsweise suchen. Fündig wurde Saito in unvermutet entdeckten Exzerpten, die Marx in der Bibliothek des British Museum angefertigt hatte. Denn nach dem 1867 erschienenen ersten Band des Kapitals hatte der Gesellschaftstheoretiker nicht umstandslos an den folgenden Bänden weitergearbeitet, sondern wild gelesen. Nicht nur Justus von Liebig, sondern auch Schriften von Anthropologen und Historikern, die den Umgang mit Gemeineigentum in traditionalen Gesellschaften untersucht hatten.Das dabei entdeckte Konzept von „Gemeinbesitz“ – so der von Marx im Kapital verwendete Begriff – sollte in der Idee der „common goods“ von Antonio Negri und Michael Hardt aufgenommen werden. Kohei Saito schließt an diese Überlegungen auf und sieht im genossenschaftlichen Eigentum einen Weg aus den Sackgassen von Neoliberalismus und Verstaatlichungspolitik.Wenn öffentliche Güter wie Wasser und Strom und allgemein geteilte Bedürfnisse wie Wohnungen und Gesundheitsfürsorge, Bildung und Verkehr in demokratische Selbstverwaltung überführt werden, dann kommt der gemeinschaftlich produzierte Reichtum allen zugute. Eben deshalb ist es nur konsequent, wenn Saito die Vergesellschaftung von Ölkonzernen, Großbanken und digitaler Infrastruktur fordert; und also nicht nur Google, Apple, Facebook und Amazon in Gemeinbesitz überführen wird.Ein AnfangZentral und notwendig für den radikalen Wandel bleibt die gedankliche Durchdringung einer „postkapitalistischen Degrowth-Gesellschaft“, so der von Saito beziehungsweisen seinem Übersetzer verwendete Begriff. Doch wie soll das gehen? Welche praktischen Folgerungen sind zu ziehen? Und wer kann diese Konsequenzen in Praxis überführen?Die anschließende Diskussion mit diversen Ko-Referaten bündelte diese Probleme wie in einem Brennglas; unterschiedliche Statements prallten aufeinander. Der inzwischen in Tokio lehrende Philosoph hat seine Konsequenzen gezogen: Er engagiert sich in einer Gruppe, die in den Bergen westlich von Tokio Land erwirbt, das kollektiv bewirtschaftet werden und der lokalen Gemeinschaft dienen soll. Wenn die Einnahmen aus seinem Bestseller dorthin fließen, ist schon einiges gewonnen.Vielleicht gelingt ja dieses Experiment.



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Von Veritatis

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