Porträt „Joker“, „Tár“ und jetzt „A Haunting in Venice“: Hildur Guðnadóttir ist die gefragteste Filmkomponistin der Gegenwart
2020 erhielt Hildur Guðnadóttir den Oscar, 2023 war sie gleich zweimal nominiert, doch dann gewann ein anderer
Foto: Kevin Winter/Getty Images
Hildur Guðnadóttir zu treffen, ist gar nicht so einfach, selbst wenn man in derselben Stadt wohnt. Die isländische Musikerin und Komponistin, die mit ihrem Score zu Joker 2020 den Oscar und zahlreiche weitere renommierte Preise gewonnen hat und die derzeit erfolgreichste Filmkomponistin ist, gibt kaum Interviews. Der Streik in Hollywood erlaubt Schauspieler*innen derzeit nur in Ausnahmesituationen und mit Sondergenehmigung der Gewerkschaften zu arbeiten, wozu auch Interviews zu Filmstarts und Auftritte bei Premieren zählen, was gerade beim Filmfest in Venedig für verwaiste Rote Teppiche gesorgt hat. Das rückt Menschen in den Fokus, die hinter der Kamera arbeiten. Wie die 41-jährige Guðnadóttir, die an diesem Spätsommervormittag in Berlin au
in Berlin aus Kreuzberg nach Charlottenburg gekommen ist, um über ihr jüngstes Projekt zu sprechen. Und mit hellem Lachen und einem sehr fröhlichen „Hallo“ gleich jedes Klischee der scheuen Künstlerin über den Haufen wirft.A Haunting in Venice ist Kenneth Brannaghs dritte Agatha-Christie-Adaption nach Mord im Orient-Express und Tod auf dem Nil. Vorlage ist der bislang unverfilmte Roman Die Halloween-Party. Erneut führt Brannagh Regie und schlüpft selbst in die Rolle des Meisterdetektivs Hercule Poirot. Neu ist jedoch der Tonfall, weg vom klassischen Krimi, hin zu mehr Mystery, mit Elementen des Schauerkinos.Eingebetteter MedieninhaltFür Guðnadóttir eine willkommene Herausforderung, wie sie im Gespräch in Berlin sagt: „Kenneth wollte weg vom klassischen Krimi, mehr Spukhaus. Auch die Musik sollte düsterer und langsamer sein. Das hat mich gereizt.“ Es ist ein ungewöhnlicher Film für die Isländerin, dabei sei sie schon seit ihrer Kindheit Agatha-Christie-Fan. „Das habe ich bisher nur niemandem erzählt“, sagt sie und lacht. „Aber meine Großmutter, eine brillante Virologin, die ihr Leben der Wissenschaft gewidmet hat, liebte diese Krimis, nur damit konnte sie mal abschalten. Und auch ich bin mit Miss Marple und Hercule Poirot aufgewachsen, habe diese Bücher verschlungen. Das konnte Kenneth Brannagh nicht wissen, als er mich überraschend fragte, aber er traf eine heimliche Leidenschaft von mir.“Hildur Guðnadóttir kreiert Soundcollagen, keine Ohrwurm-MelodienAuch wenn sie erstmals einen Unterhaltungskrimi vertont, nimmt Guðnadóttir die Aufgabe ernst, taucht tief ein in Genre und Zeitgeschichte. „Wenn es um Thriller und Horror geht, bin ich Puristin. Ich habe wahrscheinlich noch nie zuvor einen so klassischen Score komponiert“, gibt sie zu. Auf geografische Anspielungen hat sie dabei ganz verzichtet, sie kommt ohne venezianische Folklore aus, setzt dafür aber musikhistorische Bezüge. „Die Handlung spielt 1946, der Zweite Weltkrieg ist gerade vorbei und es herrscht große Unsicherheit, wie es nun weitergeht. Auch Poirot stellt sich existenzielle Fragen. Alles kommt auf den Prüfstand, in der Musik beginnt eine faszinierende Phase des Umbruchs. Was ist noch spielbar, wie geht man mit Melodien um, wie verwendet man Instrumente, welche Töne reflektieren die Verfasstheit der Welt? Viele Komponisten, die aus der Romantik kamen, experimentierten mit unerhörten Formen und Abstraktionen. Es ist ein Ringen zwischen Tonalität und Atonalität, Harmonien sind fragwürdig geworden. All das wollte ich in meiner Komposition reflektieren und mich dabei auf klassische Instrumente konzentrieren, ganz geradeaus und ohne fancy tricks.“Wie schon in ihren Kompositionen zu Joker und Tár findet sie hier einen Sound, der nicht nur die Handlung einzelner Szenen untermalt, sondern das Innenleben seiner Hauptfigur widerspiegelt. Der Score besteht über weite Strecken aus minimalistischen Cellopassagen und Klarinettensoli, klingt mal introspektiv, mal klaustrophobisch und wirkt tatsächlich weniger wie ein rein funktionales Element des Films, sondern erinnert in seiner Intimität an ein Kammermusikstück. Diese Wahrnehmung freut Guðnadóttir sichtlich. Gerade hat sie die Studioaufnahmen beendet, der Soundtrack soll demnächst erscheinen. „Auch wenn ich konkret für diesen Film und einzelne Szenen komponiert habe, glaube ich, dass die Musik auch sehr gut als Stück für sich alleine steht.“ Ihre Musik ist nie offensichtlich, es sind keine Melodien, die im Ohr bleiben. Wie hier findet sie Töne für die Abgründe der Filmfiguren, es sind eher Soundcollagen, die tief ins Unterbewusste zielen. Sie spricht von „emotionalen Landschaften“ und beim Sehen und Hören von A Haunting in Venice versteht man gleich, was sie damit meint.Eingebetteter MedieninhaltSie beerbt damit den Filmkomponisten Patrick Doyle, mit dem Kenneth Brannagh seit seinem Regiedebüt Henry V 1989 zusammengearbeitet hat. „Kenneth und Patrick sind immer noch gute Freunde. Es ist nichts vorgefallen.“ Sie macht eine kurze Pause und lacht dann ihr helles Lachen. „Hoffe ich zumindest!“ Sie habe die beiden Vorgängerfilme bewusst ignoriert. Sie halte sich von Filmen fern, die in bereits existierenden Universen angesiedelt sind, „weil es mich einschränkt, wenn ich mich auf die Vorarbeit eines Kollegen beziehen muss“. Diesmal sei sie später als für sie üblich eingestiegen, während der Dreharbeiten, aber immer noch früher als bei vielen anderen Projekten, bei denen Komponisten den bereits fertigen Film vertonen. „So konnte ich noch starken Einfluss auf die Rolle der Musik nehmen und viele Details mit Kenneth absprechen, bevor gedreht wurde.“Vom Cello zur FilmmusikDas Cellospielen begann die 1982 in Reykjavík geborene und im Hafenstädtchen Hafnarfjörður aufgewachsene Hildur Ingveldardóttir Guðnadóttir schon als Fünfjährige. Das musikalische Talent liegt in der Familie. Ihr Vater ist Komponist und leitet eine Musikschule, ihre Mutter ist Opernsängerin. Seit Jahren lebt Guðnadóttir in Berlin, wo sie an der Universität der Künste Komposition studiert hat. Festlegen lässt sich die 41-Jährige bis heute nicht. Sie experimentiert als Instrumentalistin, Sängerin und Komponistin, spielte in unterschiedlichsten Zusammensetzungen, von der US-Indieband Animal Collective über das englische Musik- und Visual-Arts-Projekt Throbbing Gristle bis zur amerikanischen Dronemetalband Sunn O))). Ihr erstes Soloalbum Mount A veröffentlichte sie 2006.Zur Filmmusik kam sie erst spät. Mit 30 komponierte sie den Score zu Tobias Lindholms Thriller A Hijacking. Immer wieder kollaborierte sie mit ihrem Landsmann Jóhann Jóhannsson, bei den Musiken zu Mary Magdalene und Sicario etwa. Mit ihm teilte sie sich lange ein Studio in Kreuzberg, bis zu dessen überraschendem Tod 2018 im Alter von 48 Jahren. Den Score zu Sicario 2 verantwortete sie dann alleine. Oft spielt sie dabei selbst Cello oder das davon abgewandelte Halldorophone, das mit elektrischen Rückkopplungen arbeitet und ein Freund für sie gebaut hat.Eingebetteter MedieninhaltIhr internationaler Durchbruch kam kurz danach mit einem Doppelschlag. Für ihren Score zur Serie Chernobyl erhielt sie einen Emmy und weitere Auszeichnungen, für die Musik zu Joker dann einen Oscar. Seitdem ist sie gefragt wie kaum ein anderer Komponist derzeit, kann sich die Projekte aussuchen. Und hat dafür ein gutes Gespür, bei der Oscarverleihung im März war sie gleich zweimal nominiert, für die Musiken zu Sarah Pollys Die Aussprache sowie Todd Fields Tár. Zwei höchst unterschiedliche Filme und Kompositionen, je auf ihre Art herausragend, auch wenn der Oscar am Ende an Volker Bertelsmann für Im Westen nichts Neues ging.Eine Routine für erfolgreiches KomponierenStrategisch sei ihr Werdegang nicht, sagt sie. Ohnehin sei jedes Projekt anders, oft sei sie schon sehr früh involviert, noch während das Drehbuch entsteht. „Durch den Austausch mit dem Regisseur kann ich meine Ideen einbringen, die dann wiederum Einfluss auf das Skript, die Schauspieler und die Bildgestaltung haben. Es ist im Idealfall eine echte Kollaboration, die fast lächerlich zeitaufwendig ist. Mit dieser Herangehensweise kann verständlicherweise nicht jeder etwas anfangen und ich kann auch unter Zeitdruck liefern, aber erfüllender ist es für mich anders.“ Als Nächstes steht die Joker-Fortsetzung an, die ohne ihre düsteren Klanglandschaften kaum vorstellbar wäre.In Berlin findet sie die Ruhe, um konzentriert arbeiten zu können, zumal in ihrem eigenen Studio. „Ich brauche Routine, habe einen klaren Tagesablauf. Nach dem Aufwachen meditiere ich, bringe meinen Sohn zur Schule, übe Cello, trainiere meine Stimme. Dann esse ich zu Mittag, nachmittags komponiere ich. Diese Routine ist mir wichtig. Nur so hat mein Geist den Freiraum, sich zu entfalten.“ Sie sagt das lächelnd, aber bestimmt. Diesen Rückzug will sie sich, trotz aller Erfolge und Erwartungen, so gut es geht erhalten.