Ich bin eine Frau! Ich bin eine Mutter! Ich bin eine Christin! Das war der Wahlkampfslogan von Giorgia Meloni. Das klingt so wunderbar einfach: „Sono una madre!“ Alle wissen, was die postfaschistische italienische Ministerpräsidentin damit meint, oder? Wer genau sie sein möchte: eine Mutter; die eine Mutter ihrer Familie. Wer aber möchte man sein, wenn man Stiefmutter in einer Patchworkfamilie ist, neben der Mutter? Wer ist eine Stiefmutter im 21. Jahrhundert?

Helen hatte Geburtstag, und sie lud mich zu ihrem Fest ein, mich und Bela. Es war eine große Sache, weil mein Partner Bela zum ersten Mal seit 15 Jahren eingeladen war: In der Kindheit meiner Stieftochter Arianna hatte er mit Ariannas Mutter Helen dermaßen darüber gestritten, in welchem Land sie leben sollten, dass so etwas jahrelang absolut undenkbar gewesen war. Aber jetzt stritten sie nicht mehr, und Helen und ich mochten uns, seit wir uns zum ersten Mal sahen: Sie in einem umwerfenden gelben Kleid, kurz nach einem Foto-Shooting in ihrem Café, und ich in einem Jeans-Overall, sie begrüßte mich warmherzig und rief: „Ich ziehe mich um!“, dann kam sie im Jeans-Overall wieder raus.

Und jetzt lud sie uns zu ihrem Geburtstag ein. Da lag ich nun, in Helens Café, unter einer Decke, auf einer Yoga-Matte auf dem Boden, auf der einen Seite Bela, auf der anderen seine Ex Helen, und lauschte dem Gong. Denn Helen hatte eine Gong-Künstlerin für eine Gong-Reise zu ihrem Geburtstag eingeladen und all ihre 50 Gäst*innen gezwungen, sich im Dunkeln auf Yoga-Matten zu legen, die Augen zu schließen und dem Gong zu lauschen. Der gongte. Er gongte ganz schön, ich lauschte ihm und lag zwischen 50 Freundinnen der Mutter der Tochter meines Geliebten, der neben mir lag, und es war absolut nicht absurd. Es war schön.

Die neue Patchworkfamilie ist wie die alte Großfamilie, nur nicht Bio

Der Gong bei Helens Geburtstag nahm alle Absurdität mit sich, er nahm auch meine Gedanken und meinen Körper mit sich, und so schwebte ich durch Helens Café und flog durch ihre Fenster hinaus zwischen den Baumwipfeln hindurch in die Nacht, und als der Gong versiegte, wollte ich nicht mehr zurück auf den Boden. Doch das musste ich, denn dann kam eine ältere Frau an Ariannas Seite auf mich zu und Arianna strahlte mich an: „Elsa, das ist meine Großmutter!“, und sie strahlte mich auch an, diese Frau. „Es freut mich sehr!“, sagte sie, sie habe schon viel von mir gehört, und ihr Gesicht sagte mir, dass es mehr Gutes als Schlechtes gewesen sein musste.

In gewisser Weise, dachte ich, hat eine Patchworkfamilie mehr mit den familias und Großfamilien des Mittelalters und der Aufklärung zu tun als mit der heutigen Kleinfamilie: Sie erstreckt sich über mehrere Mütter und Väter, mehrere Großelternpaare, viele Geschwister und Tanten und Onkel. Für die Kids spielen mein Vater und meine Mutter jetzt eine Rolle, ebenso wie ihre zwei Mütter in meinem Leben eine Rolle spielen, ob wir wollen oder nicht. Ich habe sie mir nicht ausgesucht, die Kinder nicht und ihre zwei Mütter nicht, und doch sind wir nun eine Familie.

Das widerspricht fundamental dem Dogma der negativen Wahlfreiheit, das die israelische Soziologin Eva Illouz unserer Gesellschaft diagnostiziert: Es widerspricht der Vorstellung, nur dann frei zu sein, wenn ich jede meiner Beziehungen autonom wähle und die Unabhängigkeit behalte, diese Bindung jederzeit aufzukündigen. Als Stiefmutter kann ich mir die Kinder meines Partners nicht frei aussuchen, ebenso wenig ihre Mütter, und doch lebe ich durch meine Partnerschaft mit all diesen Menschen in gegenseitiger Abhängigkeit. Wenn die Scheidung nach Illouz ein „glanzvolles Fanal der Freiheit geworden ist“, dann ist die Stieffamilie ein Ort der unfreiwilligen Bindung, in der Autonomie nicht durch Scheidung, sondern durch Beziehungsarbeit behauptet werden muss. Ganz schön oldschool.

Wie meine Stieftochter meine Mutter kennenlernte

Ariannas Großmutter erzählte mir ein bisschen über Helen als Kind, schließlich war ja Helens Geburtstag, also erzählte sie mir und Arianna und Bela, wie sie Helen bekommen hatte: Sie war in der Oper, mit Helens Vater, als die Wehen einsetzten, und sie wollte nicht einfach so aufstehen, mittendrin, deshalb hielt sie es bis zur Pause durch, um ins Krankenhaus zu fahren, wo Ariannas Mutter dann wenige Stunden nach den Arien zur Welt kam, was natürlich Helens Art ein bisschen erklärt, aus allem im Leben eine Oper zu machen.

Und dann begann ich Ariannas Großmutter zu erzählen, was für eine tolle Enkelin sie da hatte, obwohl sie das natürlich schon wissen musste, aber eine Geschichte kannte sie sicher noch nicht: Die Geschichte von Arianna und meiner eigenen Mutter. Sie hatten sich endlich kennengelernt.

Das kam so: Bei meinem ersten gemeinsamen Urlaub mit Bela, Arianna und dem Kleinen am Gardasee brach ich eines Abends weinend zusammen. Mir war klar geworden, dass meine verstorbene Mutter meine neue Familie, den Kleinen und Arianna, nie kennenlernen würde. Sie würden sich nie sehen, sie würden nie zusammen lachen, die Kids würden nie den großartigen Couscous meiner Mutter schmecken. Ich weinte den ganzen Abend in Belas Armen, Arianna war noch wach und häkelte drinnen an ihrem Bikini; sie traute sich nicht vor die Tür, wo ich schluchzte. Obwohl sie nicht zu uns rauskam, muss Arianna das alles mitbekommen haben, denn danach fragte sie mich viel nach meiner Mutter: wie sie so war; ob sie so ähnlich wie ihre eigene Mutter Helen war oder eher so wie die Mutter meines Stiefsohns; ob sie Arianna wohl mögen würde.

Mutterloser Todestag

Ich erzählte ihr immer wieder von meiner Mutter, und Arianna gefielen die Geschichten, und je mehr ich ihr Lachen über den Witz meiner Mutter sah, das Verständnis für die Schwächen meiner Mutter und die Verletzungen, die meine Mutter mir angetan hatte, desto mehr bekam ich das Gefühl, dass die beiden sich kennenlernten, dass sie sich mochten, und mehr noch: In dieser Sympathie zwischen Arianna und meiner Mutter fand ich immer mehr Sympathie für die Beziehung zwischen Arianna und ihrer Mutter. Ich glaube, wir haben sehr viel gemeinsam, Arianna und ich, in den Verhältnissen zu unseren Müttern.

Dann kam der 16. Januar, der siebte Todestag meiner Mutter, und ich war nicht in Berlin, um zu ihrem Grab zu gehen und ihr ihre Lieblingsblumen zu bringen. Ich war in Wilhelmshaven bei meinem Vater, meinem Bruder und meiner Stiefmutter, weil ich das Gefühl hatte, meine Trauer mit denen teilen zu wollen, die meine Mutter wenigstens gekannt hatten. Keine so gute Idee, so weit weg vom Friedhof und mit niemandem in Berlin, der meine Mutter besuchen konnte. Kein Mensch in Berlin, der meine Mutter kannte, der ihr Blumen bringen konnte. Kein Mensch?

Feminismus des 21. Jahrhunderts: Jungs entschuldigen sich

Da rief mich Arianna plötzlich an, in Tränen aufgelöst: In der Schule hatte sie an der Tafel gestanden, Mathe, und versucht, die Aufgabe zu lösen, und plötzlich gemerkt, wie drei Jungs über ihren Arsch gesprochen hatten. Erst leise, dann immer lauter: „Man kann einfach nicht weggucken, höhöhöhöhö“, schließlich so laut, dass die ganze Klasse es hören musste, war sich Arianna sicher. Arianna konnte sich auf nichts mehr konzentrieren, sie drehte sich um, alle starrten sie an, und die Lehrerin? Machte nichts. „Und weißt du, was das Schlimmste war? Danach habe ich einen der Jungs getroffen, auf dem Schulhof, und er sagte: ‚Hey, sorry, das war blöd vorhin‘, und weißt du, was ich sagte? Ich sagte: ‚Ach, alles gut!‘ ALLES GUT, Elsa! ALLES GUT?! Jetzt habe ich ihnen auch noch die Erlaubnis für ihr Scheißverhalten gegeben?! Was soll ich denn jetzt tun? Morgen sehe ich sie wieder! In MATHE!“ Wir überlegten zusammen: dass sie direkt zu ihnen gehen sollte, schnellen Schrittes, selbstbewusst, aber nicht zu wütend, einfach überzeugend, sich vor sie stellen und ihnen sagen: „Das, was ihr gestern hier abgezogen habt, geht gar nicht. DAS MACHT IHR NIE WIEDER.“ Wir haben lange daran gearbeitet, dass es keine Beschwerde sein darf und keine Bitte, so was zu unterlassen – sondern einfach eine trockene Feststellung: „Das macht ihr nie wieder.“

Ich fand es so schön, dass Arianna mich angerufen hatte, dass ich mich traute: „Du, Arianna, kann ich dich etwas fragen?“ „Ja!“ „Morgen ist der Todestag meiner Mutter, und ich bin ja nicht in Berlin, und ich dachte, vielleicht kannst ja du …“ – „Ja! Ja, das mache ich gerne! Auf jeden Fall!“

Sie klärte die Sache mit den Jungs in der Schule, die sich bei ihr entschuldigten, ganz ehrlich entschuldigten sie sich für ihr mieses patriarchales Scheißverhalten, ich war beeindruckt, Jugendliche im Jahr 2022.

Eine Stiefmutter tanzt sich frei – mit der leiblichen Mutter

Und dann bereitete sich Arianna für den Friedhof vor: „Sie mag Frühlingsblumen“, hatte ich ihr gesagt, „meine Mutter mag Frühlingsblumen, besorge so viel Frühling, wie du im Januar nur finden kannst.“ Arianna kaufte die Lieblingsblumen meiner Mutter im Blumenladen, sie organisierte, dass Helen sie zum Friedhof fuhr, aber zum Grab, entschied Arianna, wollte sie dann alleine gehen. Und das tat Helen wirklich: Sie fuhr ihre Tochter zum Grab der Mutter ihrer Stiefmutter, und sie wartete im Auto.

Am 16. Januar leuchtete dann mein Handy: Nachricht von Arianna. Ein Video. Arianna auf dem Friedhof, hinter ihr der graue Januarhimmel, sie stellte das filmende Handy in der Ecke des Urnengrabs auf den Boden, sodass man das Grab und sie sehen konnte. Sie kniete auf dem Rasen vor dem Grab, wie ich es nun schon jahrelang immer getan hatte, nie waren wir bisher zusammen hier gewesen, und nun war sie hergekommen.

Ariannas Gesicht war voller Liebe und Respekt. Sie hatte einen Strauß bunter Freesien und Gerbera dabei, einen richtig leuchtenden Frühlingsstrauß im grauen Januar, rot, gelb, rosa, weiß, lila, sie knüpfte ihn auf und verteilte die Blumen rund um den Stein, in aller Ruhe, eine nach der anderen, als würde sie den Stein mit Blütenblättern streicheln. Dann hielt sie eine Kerze hoch, schaute zu mir, zündete sie an und stellte sie in die kleine Laterne. Und dann hielt sie noch etwas hoch: einen Brief. Von Arianna. An meine Mutter.

Liebe Eve.

Die Stiefmutter und die Stieftochter können sich befreien, wenn die Mütter sich bewegen. Wenn es mehr als nur eine Mutter geben darf. Freie Eltern werden wir dann, wenn wir die Familie ins Schwingen bringen, wenn alle zum Tanzen und Spielen bereit sind: zum Miteinander. Nur miteinander können wir wirklich frei sein.

Wir tanzten. Als ich das alles Ariannas Oma erzählte, da auf dem Geburtstag von Helen, und die Augen der Großmutter leuchteten, da spürte ich, wir tanzten, alle zusammen, im Café der Mutter der Tochter meines Partners: Arianna, Ariannas Mutter, Ariannas Großmutter, meine Mutter und ich. Wir tanzten den Tanz der Mütter.

Elsa Koester ist Redakteurin beim Freitag und Stiefmutter geworden.



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Von Veritatis

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