Reportage Juraj Cintula, der den slowakischen Premier Robert Fico töten wollte, arbeitete acht Jahre in den Bergwerken von Handlová, der Stadt des Anschlags. Er schrieb Gedichte über die Kohle und sich. Martin Leidenfrost fuhr in seine Bibliothek
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Ausgabe 21/2024
Arbeiterdichter Juraj Cintula (rechts), der später in Levice Steinmetz wurde, und der 1987 in die KP eingetretene Arbeitersohn Robert Fico (links) haben nicht wenig gemeinsam
Fotos [M]: Istock, Getty Images
Nach den fünf Schüssen, mit denen der 71-jährige slowakische Dichter Juraj Cintula am 15. Mai den slowakischen Premier Robert Fico lebensgefährlich verletzte, stellt sich natürlich die Schuldfrage. Die einfache Antwort ist: Erstens, schuld ist der Attentäter. Die etwas kompliziertere Antwort: Zweitens, schuld ist die inhumane Aggressivität beider politischer Lager. Drittens, für ein genaueres Verständnis der Tat fahre ich nach Levice, in die Stadt des mutmaßlichen Täters.
Da sie seit Jahrzehnten ziemlich spezifisch ist, muss man aber zunächst die Lagerbildung in der Slowakei erklären: Das von Fico angeführte Spektrum ist linksnationalistisch und neutral bis prorussisch, das andere Lager bürgerlich-liberal und proukra
e Spektrum ist linksnationalistisch und neutral bis prorussisch, das andere Lager bürgerlich-liberal und proukrainisch-prowestlich.Als „Putin-Büttel“ geschmähtSeit der Pandemie wurden alle roten Linien überschritten: Fico persönlich nannte Politiker und Journalisten der heutigen Opposition „Vaterlandsverräter“ und „Prostituierte“, er stand lachend einer Straßenszene vor, bei der seine Anhänger skandierten, Präsidentin Zuzana Čaputová sei eine „amerikanische Hure“. Auch wegen gehäufter Morddrohungen entschloss sich die empathische Liberale Čaputová, zur Präsidentschaftswahl im April nicht mehr anzutreten. Auf der anderen Seite beschimpften prowestliche Politiker von Fico ermunterte Lockdown- und Impfgegner als „desolate Affen“, mit dem Ukraine-Krieg kam der Vorwurf des „Landesverrats“ durch „Putin-Büttel“ Fico hinzu, auf den Massendemos im Winter wurde „Fico ist ein Verbrecher!“ und „Fico ist das Böse!“ skandiert. Als besonders verhängnisvoll erwies sich – schon zu Zeiten der Vorkriegsukraine – die Unart der slowakischen Prowestler, sich den Lorbeerkranz des einzigen „demokratischen Lagers“ aufzusetzen. Als wären alle Andersdenkenden Feinde der Demokratie.Politische Gewalt lag nach dem Attentat in der Luft. Nach dem Schock riefen die abtretende Čaputová und ihr gewählter Nachfolger, Ficos gemäßigter Verbündeter Peter Pellegrini, zu einem Versöhnungsprozess auf. Ein Blick auf Postings in Medien beider Lager zeigt aber, dass viele der Aufgehetzten nicht zur Mäßigung bereit sind.Der erfolgreichste slowakische Politiker aller ZeitenRobert Fico (59) ist der erfolgreichste slowakische Politiker aller Zeiten. Auch wenn der Jurist schon mehrmals aussteigen wollte – 2014 etwa durch seine erfolglose Kandidatur für das repräsentative Präsidentenamt, später wegen eines gescheiterten Wechsels ins Verfassungsgericht –, ist er seit 32 Jahren ein Fixstern der slowakischen Politik. Mit seiner 1999 gegründeten Smer-SSD (Richtung – Slowakische Sozialdemokratie) hat er der slowakischen Mehrheit ein maßgeschneidertes Angebot hingelegt: eine zumindest in der Rhetorik sozialstaatliche Provinzlinke, die allergisch auf urbane Moden wie Gender reagierte, den katholischen Bischöfen stets Ehrerbietung entgegenbrachte und vor zehn Jahren gar die Ehe von Mann und Frau in der Verfassung verankerte. Fico war schon „linkskonservativ“, bevor dieses Label in Deutschland Sahra Wagenknecht zugeordnet wurde.Auch wenn ihn seine teuren Uhren und seine neureiche Entourage diskreditieren, blitzt in Fico gelegentlich immer noch der ehrlich empörte Arbeiterführer auf. Zuletzt gelang ihm das, als er den „Tag der Arbeit“ in der Nachtschicht einer großen Fabrik verbrachte: Die Slowakei, die als Werkbank für westliche oder auch südkoreanische Konzerne eine wahre Reindustrialisierung erlebt hat, verzeichnet den höchsten Anteil an Nachtarbeit in der EU.Ein Unterschied zu Viktor OrbánIm Unterschied zu seinem Alliierten Viktor Orbán strebte Fico nie nach Weltgeltung. Da ein russophiles Sentiment in der Slowakei fast so verbreitet ist wie in Bulgarien und Serbien, war einer seiner Wahlschlager: „Keine einzige Patrone für die Ukraine!“ Im Winter behauptete er, in Kiew gäbe es keinen Krieg. Einmal an der Macht, beließ es Fico beim slowakischen Anteil an der Aufrüstung der Ukraine, nun eben auf kommerzieller Basis. Und er stimmte in Brüssel kein einziges Mal gegen Militärhilfe für die Ukraine. Eine gewöhnlich gut informierte Quelle schilderte den bilateralen Gipfel Ukraine/Slowakei im April: Fico habe dem ukrainischen Premier Denys Schmyhal offen gesagt, die Ukraine möge keine Aufmerksamkeit an seine antiukrainischen Reden verschwenden, diese müsse er für den Hausgebrauch schwingen – in der Sache könne sich die Ukraine auf ihn verlassen.Das war Fico, wie er leibt und lebt, Barrikadensteher und Opportunist in einer Person. Seit seinem Comeback im Oktober 2023 war er härter als zuvor. Die Anti-Mafia-Regierungen der Jahre 2020 – 2023 hatten viele seiner Mitstreiter aus Partei und Justiz auf die Anklagebank gebracht, auch Fico selbst wurde kurz verhaftet. Sobald er sein viertes Kabinett gebildet hatte, tat er deshalb alles, um sich und den Seinen ein für alle Mal Straffreiheit zu garantieren: Er ließ die Sonderstaatsanwaltschaft auflösen, Strafen wie Verjährungsfristen für Korruptionsdelikte verringern und warf die öffentlich-rechtliche Fernseh- und Radioanstalt RTVS Verschwörungsspinnern aus der rechten Koalitionspartei SNS zum Fraß vor.Und nun zum Attentäter und zu seiner Stadt: Levice ist mit 31.000 Einwohnern ein für slowakische Verhältnisse bedeutendes Regionalzentrum im Süden. Akazien mit Rundkrone verleihen der Stadtmitte einen Touch Südlichkeit. Ab und an ist Ungarisch zu hören, drum herum bemalte Plattenbauten. Levice ist keine Fico-Hochburg, die letzte Parlamentswahl gewann hier die Progressive Slowakei (PS), eine den deutschen Grünen nicht unähnliche Elitenpartei, die wenig originell die Wirtschafts-, Sozial-, Klima- und Geopolitik des Brüsseler Mainstreams nachbetet, in ihrer Gesellschaftspolitik aber die Vorhut der Avantgarde sein will, etwa mit der Ersetzung von „schwangere Frauen“ durch „schwangere Personen“ im Wahlprogramm. In einer kulturell mehrheitlich konservativen, religiös bis abergläubisch provinzproletarischen Gesellschaft ist die Existenz dieser „Progressiven“ für Fico ein Glücksfall.Cintula rief zur Wahl der Liberalen Čaputová aufJuraj Cintula (71), der Attentäter, rief 2019 zur Wahl der PS-Vizevorsitzenden Čaputová auf und wurde 2024 auf mindestens einer der von der PS organisierten Anti-Fico-Demos fotografiert. Es ist daher zunächst das von dieser Partei angeführte Oppositionslager, das sich Asche auf das Haupt zu streuen hat – ihr Anhänger hat sich bis hin zu einem Mordversuch radikalisiert. Die der PS nahestehenden Zeitungen suchen fieberhaft nach Beweisen, dass Cintula kein Liberaler sein kann. Sie wurden durchaus fündig: Cintula scheint ähnlich abwehrend auf die Flüchtlingskrise reagiert zu haben wie Fico, veröffentlichte 2015 ein überhaupt nicht progressives, als rassistisch gebrandmarktes Buch „über Zigeuner und Roma“ und flirtete 2016 ganz kurz mit der rechten paramilitärischen Truppe „Slowakische Wehrmänner“. Überhaupt war 2016 für Cintula ein umwälzendes Jahr: Als Wachmann in einem Levicer Einkaufszentrum musste er einen mit Hähnchen jonglierenden Junkie zur Räson bringen, wurde übel zusammengeschlagen, woraufhin der spätere Attentäter eine nicht registrierte Partei namens „Bewegung gegen Gewalt“ gründete.Abgesehen von ein paar rebellischen Versen weiß man über das Werk des unbekannten Lyrikers nichts. 24 Stunden nach der abscheulichen Tat gehe ich daher in die „Tekov-Bibliothek“ von Levice. Cintula war oft zu Gast, sein ganz und gar nicht queerer „Literaturclub Regenbogen“ traf sich dort, laut dem Personal „kam er ab 2018 nicht mehr“. Ich treffe am Tag nach dem Attentat um halb vier ein, vor mir waren Massen von Journalisten da, „sogar ein Fräulein aus Frankreich“, ich bin aber der Erste, der nach Cintulas Büchern fragt. „Damit haben Sie gepunktet“, sagt ein Bibliothekar. Ich habe zweieinhalb Stunden, um mich in fünf seiner sechs Buchpublikationen zu vertiefen. Sie stammen aus den Jahren 2006 bis 2019, er begann erst mit 50 zu schreiben, immerhin. Die drei entstandenen Gedichtbände schaffe ich in Gänze.Das schmale Œuvre, offenkundig im Selbstverlag mit miserablen Auflagen von manchmal nur 200 Stück herausgegeben, enthält einige Überraschungen. So ist Cintula Atheist, was er mit dem jähen Verlust seines Zwillingsbruders im Alter von 17 begründet: „Er starb zu Hause, bei Tisch, zu den Klängen von Musik, in aller Stille.“ Cintula stellt sich als „Rebell“ und „Unruhestifter“ vor, „überall, wo er hinkam, rebellierte er, und weil er allein war, brannte er ab wie eine Fackel. Er hat soziale Sensibilität, ist gefährlich für das Gefährliche.“ Aus einer mit „Sommer 1971“ datierten Bemerkung, dass er „enttäuscht von einer Reise durch die UdSSR zurückkehrte“, lässt sich schließen, dass er als 18-Jähriger, also drei Jahre nach dem Prager Frühling und seinem jähen Ende, noch Hoffnungen in die Sowjetmacht gesetzt hatte. Das Gedicht aus der Sommerhitze von Batumi ist eines seiner dichtesten: „Anfang / Jahre des Träumens. Waren das. / Im Wasser ein Pinsel / Das Bett leer / Die Erinnerung schmerzt …“Glückwunsch für Che GuevaraIn einem anderen Poem singt sein Vater ein einziges Mal aus voller Kehle die Internationale, laut, für alle, unter Tränen – und wird zum Heizer degradiert. Von der „Samtenen Revolution“ 1989, an der das lyrische Ich aktiv teilgenommen hat, bleibt dann genauso eine Enttäuschung. Eine kommunistisch anmutende Utopie blitzt plötzlich im Gedicht Perspektive auf: Man erblickt dort in einer fernen Menschenmenge „Götter der Zukunft“, welche „die tausendjährigen Bänder der Sklaverei zerschlagen / Und so einen unendlichen Raum eröffnend / mächtiger / weiser / und schöner werden“. Cintula gratuliert noch 2017 mit einem Gedicht zum Geburtstag von Che Guevara. Es endet: „Sklaven! Köpfe zum Himmelszelt! / Und in die Hände Eisen!“Kalt läuft es mir über den Rücken, als ich lese, dass für die Schüsse auf Robert Fico das traurige untergehende Bergbaustädtchen Handlová keineswegs zufällig gewählt war: Fico wuchs nicht allzu weit von Handlová auf und hat in der Gegend seine Hochburgen, Juraj Cintula hat acht Jahre in den Kohlengruben von Handlová gearbeitet.Ich begreife, dass Arbeiterdichter Cintula, der später in Levice Steinmetz wurde, und der 1987 in die KP eingetretene Arbeitersohn Fico nicht wenig gemeinsam haben. Cintula schrieb wie ein Steinmetz, und Fico redete bis zu seiner schweren Verwundung so. Den Attentäter und sein Opfer verbindet eigentlich, was Fico ganz treffend „rustikale Sozialdemokratie“ nennt. Die ist ländlich und ungehobelt, ein wenig machistisch und ein wenig chauvinistisch, politisch höchst unkorrekt und doch irgendwie links.Cintulas Liebesgedichte sind weitgehend unbrauchbar, die Poeme aus der Produktion wie Handlover Kumpels hätten aber Leser verdient: „Ich lernte dich kennen, Kohle. / Deine Qualitäten. Tuffit. / Deinen Schmerz und Deinen glühenden Glanz. / (…) Fanfarenbläser verbreiteten die Kunde über die Kumpels. / Ich lernte die Sprache der Menschen mit der Kohle kennen. / Den rauen rhythmischen Dialog. Der Fäuste. / Aber doch zärtlicher / als die Sprache der Menschen untereinander.“