Man könnte es als eine bezeichnende Gleichzeitigkeit der Ereignisse betrachten: Dieser Tage jährte es sich, dass die Nordirin Shelby Lynn ihre Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann öffentlich machte. Sie schilderte in Social-Media-Postings, dass sie in eine Art Sex-Casting für Lindemann geraten sei, berichtete von einem Filmriss, blauen Flecken und ihrem Verdacht, von wem auch immer heimlich unter Drogen gesetzt worden zu sein.

Neben diesem Jahrestag ereignete sich im Mai 2024 aber noch etwas: Rammstein startete seine diesjährige Stadion-Tour 2024. Die ersten Konzerte waren allesamt ausverkauft.

„Ein Jahr ist das schon wieder her“ – der Gedanke stellt sich in solchen Momenten oft ein. Die große Aufregung, der mediale Rummel und das Vergessen, das Weiter-so-wie-bisher, liegen oftmals sehr nah beieinander. Ist das auch bei Till Lindemann der Fall? Immerhin kamen allein zu den vier Konzerten in Dresden über 200.000 Menschen. Die Staatsanwaltschaft Berlin hat das Ermittlungsverfahren gegen Lindemann im August 2023 eingestellt.

Dass die Vorwürfe gegen Till Lindemann nun einfach wieder vergessen werden, ist dennoch unwahrscheinlich. Das hat auch mit gleich zwei Podcasts zu tun, die dieser Tage veröffentlicht worden sind – beziehungsweise werden. Die Podcast-Serie Feuerzone der Süddeutschen Zeitung befasst sich laut Untertitel mit „dem System Rammstein und dem Machtmissbrauch in der Musik“. Sie startet am 1. Juni.

Schon jetzt ist dagegen die vierteilige Podcast-Doku Rammstein – Row Zero zu hören – eine Produktion von NDR und Süddeutscher Zeitung. Darin zeichnen die Reporter:innen das System der „Reihe Null“ nach: Im Zentrum stehen dabei Till Lindemann und junge Frauen, die den Rockstar zunächst verehren. Diese Bewunderung spielt eine nicht unwesentliche Rolle, denn aus ihr resultiert ein Ungleichgewicht zwischen Lindemann und seinen Fans und daraus das titelgebende System. Wir erinnern uns: Die jungen Frauen werden im Vorfeld von Konzerten gezielt angesprochen, werden zu Partys vor der Show eingeladen, es gibt Alkohol, später dürfen sie ihrem Idol von einem besonderen Ort noch vor der ersten Reihe aus zujubeln. Vor allem aber werden die Fans für möglichen Sex – zum Beispiel in der Konzertpause – mit Till Lindemann gecastet. Shelby Lynn will keinen Sex, andere weigern sich nicht, teilweise lassen sie es über sich ergehen. Am Ende bleiben oftmals Verletzungen – und die Frage, wie so etwas möglich ist.

Im Zentrum des Podcasts stehen die betroffenen Frauen. Abgesehen von Shelby Lynn wollen sie anonym bleiben. Aber sie haben eidesstattliche Versicherungen abgegeben, dass ihre Schilderungen wahr sind. Es bleibt ein großer Schritt, den die Frauen da gehen, um dieses System zu beschreiben. Denn dieses System mag nicht gegen Gesetze verstoßen – missbräuchlich ist es gleichwohl. Das zeigt sich auch daran, wie hörbar schwer es den Frauen fällt, das Erlebte noch einmal zu berichten. Und auch für Zuhörer sind die Berichte oft nur schwer erträglich.

So entsteht ein umfassendes Bild des Systems „Row Zero“, das in der hektischen Berichterstattung der ersten Wochen fehlte. Gründlich recherchiert und einordnend – es kommen auch Stimmen zu Wort, die den Sex mit Fans weit weniger dramatisch sehen –, aber eben doch mit einem Ohr für diejenigen, die es weit schwerer haben, in der Öffentlichkeit Gehör zu finden. Auch ein Jahr später noch.

Podcasttagebuch

Benjamin Knödler studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) und sammelte nebenbei erste journalistische Erfahrungen. Als Product Owner Digital überlegt er, was der Freitag braucht, um auch im Netz möglichst viel Anklang zu finden. Daneben schreibt er weiterhin Texte – über Mieten, Stadtentwicklung und Podcasts



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Von Veritatis

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