Analyse Nach der Abstimmung in Sachsen und Thüringen: Welche Wähler sind wohin gewandert? Warum haben so viele die AfD gewählt? Und wie geht es jetzt im Bund weiter?


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Ausgabe 36/2024

Die abgehängte Provinz wählt AfD. Weil sie die Nachteile der urbanen Ampelpolitik abkriegt

Collage: der Freitag, Material: Imago Images

Nur 35 Jahre nach dem Abriss der Mauer wurde vom Westen eine neue Mauer errichtet: eine Brandmauer. Als wäre das Ganze ein übler Scherz, nennt der Westen seine Mauer sogar so wie damals der Osten: „antifaschistischer Schutzwall“. 1.115.978 Bürgerinnen und Bürger haben am vergangenen Sonntag in Sachsen und Thüringen die AfD gewählt, 467.621 das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Das hätten sie nach Meinung vieler Meinungsführer im Westen auf keinen Fall tun dürfen, weswegen ihre Medien in einer beinharten Kampagne vor den linksrechts-autoritären Hetzern, Verführern und Putin-Knechten warnten. Trotzdem gaben 43,7 Prozent der Wähler in Sachsen und 48,6 Prozent der Wähler in Thüringen diesen Außenseiter-P

en Hetzern, Verführern und Putin-Knechten warnten. Trotzdem gaben 43,7 Prozent der Wähler in Sachsen und 48,6 Prozent der Wähler in Thüringen diesen Außenseiter-Parteien ihre Stimme. Das zeigt: Die Wirksamkeit der traditionellen Meinungsführer – man könnte auch sagen: ihre Glaubwürdigkeit – hat stark nachgelassen. Die Leute richten sich nicht mehr nach dem, was ihnen von oben oder von außen geraten wird. Sie sehen sich im Widerstand.Bodo Ramelow, unverdienter Verlierer des vergangenen Wahlabends, nannte die überraschend hohe Wahlbeteiligung einen „Festtag der Demokratie“. Er vergaß nur zu erwähnen, dass die hohe Wahlbeteiligung allein deshalb zustande kam, weil die AfD das Nichtwählerlager am besten mobilisieren konnte. Den „Festtag der Demokratie“ ermöglichten also jene „braunen Arschlöcher“ und „widerlichen Drecksäcke“, über die sich der Ministerpräsident von Thüringen so unschicklich empört hatte. Ein wenig konnten das Nichtwählerreservoir auch die CDU und das BSW anzapfen, während Linke, Grüne, SPD und FDP ihre resignierten Anhänger nicht an die Wahlurne locken konnten. Vielleicht gab es auch keine Anhänger mehr.Der Wahlabend präsentierte – wie viele Wahlabende zuvor – Parteistrategen, die sich ungeniert in die Tasche lügen: Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer feierte das schlechteste Wahlergebnis der CDU seit der Wiedervereinigung als überragenden Sieg seiner Partei. Die Linke, die in Sachsen vor 20 Jahren noch 23,6 Prozent erreichte, gab sich erleichtert über magere 4,5 Prozent, weil zwei Direktmandate in Leipzig ihren Verbleib im Landtag gesichert hatten. Die SPD, 1990 mit 19,1 Prozent gestartet, freute sich über eine „Stabilisierung“ bei 7,3 Prozent. In Thüringen das gleiche Bild. Ministerpräsident Bodo Ramelow, dessen Linkspartei 2019 noch stärkste Kraft war, vollführte mit einem Verlust von 18 Prozentpunkten eine Art Höllensturz, und trotzdem sang er das Hohelied einer „lebendigen Demokratie“. Für seine rot-rot-grüne Minderheitsregierung stimmten nur 22,4 Prozent.Vier Parteien für die StädteRamelow ist ein politischer Solitär. Der ehemalige Gewerkschaftssekretär prägte die Thüringer Linke erfolgreiche 25 Jahre lang. In seinem Wahlkreis Erfurt III erzielte er am Sonntag mit 42,4 Prozent das beste Erststimmenergebnis aller linken Wahlkreiskandidaten, während seine Partei im gleichen Wahlkreis nur 16 Prozent zuwege brachte. Vier Mal zwischen 2004 und 2019 hatte Ramelow Spitzenergebnisse geholt, von 26,1 über 27,4 und 28,2 auf zuletzt 31 Prozent. Den Absturz 2024 kann er aber nicht Sahra Wagenknecht anlasten.Die Linke hat sich, wie die drei Ampel-Parteien, über die Jahre zu einer reinen Groß- und Universitätsstadtpartei entwickelt. Alle vier konkurrieren um das gleiche Wählerpotenzial. Die Linke verlor auf einen Schlag ihre Spitzenposition in 33 der 44 Thüringer Wahlkreise an die AfD, in vieren an die CDU. Seit vergangenem Sonntag ist sie nur noch in den Städten Jena, Weimar, Erfurt, Leipzig und Dresden stark. Gleiches gilt für die Grünen und weitestgehend für die SPD. Die SPD rutschte in 16 sächsischen sowie in 16 Thüringer Wahlkreisen unter die Fünfprozenthürde. Die Grünen liegen außerhalb der Städte zwischen einem und zwei Prozent. Von der FDP sind nur noch Spurenelemente vorhanden.Diesen Rückzug aus der Fläche hat die AfD genutzt. Sie ist heute die beherrschende Provinzpartei. Während sie in den Städten nur mittelprächtige Ergebnisse einfährt, erreicht sie auf dem Land nicht selten 40 Prozent und darüber. Ihre Verbundenheit mit der Landbevölkerung drückt sich auch darin aus, dass ihre Direktkandidaten in den Wahlkreisen sehr viel stärker zulegen konnten als ihre Zweitstimmenergebnisse. Die Basisarbeit der vergangenen Jahre macht sich bezahlt.Nur zwei Parteien schafften es, sowohl in der Provinz als auch in den Großstädten verankert zu sein: CDU und BSW. Zwar erzielten sie selten herausragend gute oder dramatisch schlechte Ergebnisse, aber sie erreichten überall ansehnliche Quoten. Der Faktor, mit dem man das schlechteste Wahlergebnis multiplizieren muss, um auf das beste Wahlergebnis zu kommen, liegt bei ihnen mit 1,9 am niedrigsten. Am höchsten ist dieser Faktor bei den Grünen. Die Umweltpartei schwankt zwischen 1,0 und 21,4 Prozent in Sachsen und 0,9 und 15,2 Prozent in Thüringen. Das heißt, die Grünen polarisieren die Milieus, während CDU und BSW diese einigermaßen zu integrieren vermögen.Wer sich abgehängt fühlt, wählt AfDAuffallend ist auch das gewandelte Wahlverhalten der 18- bis 24-Jährigen. In dieser Altersgruppe gewinnt die AfD am stärksten hinzu, ganze elf Prozentpunkte, während die Grünen, die von den Jungwählern bislang bevorzugt behandelt wurden, zwölf Prozentpunkte verlieren. In keiner anderen Altersgruppe verzeichnen die Grünen höhere Verluste. Die Linke dagegen verliert am stärksten in der Gruppe der über 60-Jährigen, während das BSW dort überdurchschnittlich gut abschneidet.Deutlich höheren Zuspruch erhält die AfD bei jenen, die ihre wirtschaftliche Situation als schlecht bezeichnen, bei Alteingesessenen, bei Arbeitern, Selbstständigen und in Wahlkreisen, in denen die Bevölkerung stark schrumpft. Bei SPD, Linken und Grünen verhält es sich umgekehrt. Sie können dort überdurchschnittlich punkten, wo die Menschen ihre wirtschaftliche Situation als gut beurteilen, wo mehr Zugezogene leben und die Bevölkerung wächst.Kurz: Die abgehängte Provinz wird inzwischen von AfD, CDU und BSW vertreten, während die Ampelparteien Politik hauptsächlich für Besserverdienende und Besserausgebildete in Großstädten machen, was häufig zu mehr Belastungen in der Provinz führt: Dort fehlen dann Arbeitsplätze, Ärzte, Krankenhäuser, Nahverkehr, Bildungsangebote und Versorgungsinfrastruktur, dafür werden Rohstoffe abgebaut, Grundwasser abgepumpt, Windräder installiert, Trassen verlegt, Müll abgeladen und umweltschädliches Gewerbe angesiedelt. Das verfestigt die Auffassung: Die Städte haben den Nutzen, die Provinz hat das Nachsehen.Söder oder MerzWas lässt sich für die Bundestagswahl aus diesen Entwicklungen ablesen? Zuallererst: Die Aufsplitterung des Parteiensystems setzt sich fort. Jetzt konkurrieren schon neun Parteien – neben zahllosen Splittergrüppchen – um die Mandate: CDU, CSU, SPD, AfD, Grüne, BSW, Linke, FDP und Freie Wähler. Es wird nicht nur Dreier-, sondern auch Vierer- und Fünfer-Koalitionen geben müssen, um Mehrheiten bilden zu können. Zugleich polarisieren sich die von den Parteien vertretenen Interessen und sind zunehmend schwerer unter einen Hut zu bringen, insbesondere die Gegensätze von arm und reich, Stadt und Land, gebildet und ungebildet, woke und konservativ. Das damit verbundene Konfliktpotenzial erschwert nicht-autoritäre Lösungen und führt einerseits zu mehr Wut, andererseits zu mehr Kritik an demokratischen Prozessen. Der globale Trend, Konflikte nicht mehr durch Diplomatie beizulegen, sondern gewaltsam auszutragen, verschärft die nationalen Spannungen weiter.Welchen Kanzlerkandidaten sollen die Parteien in einer solchen Gemengelage aufbieten? Wer kann, wie es in Sonntagsreden gern heißt, „den gesellschaftlichen Zusammenhalt“ gewährleisten – oder ihn durch Politik überhaupt erst herstellen? Ein Moderator? Einer, der sagt, wo’s langgeht? Einer, der Kompromisse aushandeln kann? Einer, der gut „kommuniziert“? Das fragt man sich bei der Union, aber auch bei der SPD, bei den Grünen und vielleicht sogar bei der AfD.Die Union hat ja angekündigt, sich im Spätsommer in Sachen Kanzlerkandidatur zu entscheiden. Der Sommer endet am Tag der Brandenburger Landtagswahl. Viele glauben, es laufe auf Friedrich Merz hinaus, aber der vergangene Wahlsonntag hat die Union tief verunsichert, denn die Zahlen sind schwer zu lesen. Die Union wird nicht – wie 2021 – danach gehen, wer das erste Zugriffsrecht hat, sondern wer die Frage nach dem Zusammenhalt am besten beantworten kann. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) fürchtet, dass Schwarz-Grün die Hoffnung vieler einflussreicher Bildungsbürger in den Medien ist, aber er weiß auch, dass das Konfliktpotenzial dieser Kombination (siehe oben) Sprengkraft besitzt. Und dass Schwarz-Gelb, Schwarz-Grün oder Schwarz-Rot am Ende vermutlich nicht reichen. Söder ist der bessere Wahlkämpfer, der gewieftere Politiker, Merz der bessere Parlamentsredner. Robert Habeck könnte an einem Widerpart Söder über sich hinauswachsen. All das werden die Strategen bedenken. Aber vielleicht gibt es – wie in Sachsen und Thüringen – auch eine lachende Dritte.



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Von Veritatis

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