Die dritte Staffel „The White Lotus“ bot viel mehr als Ressentiment und Schadenfreude gegen Reiche. Eine Szene der finalen Folge brachte auf den Punkt, was die Serie zu einem Phänomen machte, über das plötzlich alle reden

„Das Mindeste, was wir tun können, ist: es zu genießen.“ So fasst Victoria Ratliff (Parker Posey), die beruhigungspillen-schluckende, beständig den Anstand ihres betrügerischen Geschäftemacher-Mannes preisende Südstaaten-Matriarchin noch kurz vor Schluss dieser dritten Staffel von The White Lotus ihre Lebenslage zusammen. Ihre Tochter Piper (Sarah Catherine Hook) ist gerade kleinlaut nach nur einer Nacht aus dem Buddhisten-Kloster zurückgekehrt, in dem sie ursprünglich ein Jahr hatte verbringen wollen.

Victoria versucht, der jungen Frau das schlechte Gewissen auszureden, das sie über ihr eigenes Unwohlsein angesichts des faden Essens und der kahlen Unterkunft empfunden hat. Ihr Leben, und damit meint sie selbstverständlich das Le

sichts des faden Essens und der kahlen Unterkunft empfunden hat. Ihr Leben, und damit meint sie selbstverständlich das Leben als reiche US-Amerikaner, sei nun mal besser und bequemer, als es selbst mächtige Könige und Königinnen je führten. Der Evolutionspsychologe Steven Pinker drückt es in seinen optimistischen Fortschrittsthesen kaum treffender aus. Nur dass Victoria in ihrer Lobpreisung des westlichen Wegs noch ein bisschen weiter geht: Man schulde es der restlichen, ärmeren Welt doch geradezu, sich an diesem guten Leben nun auch zu erfreuen.Placeholder image-4Die Szene ist unzweifelhaft einer der Höhepunkte der Staffel. In ihr kommt auf den Punkt, was The White Lotus zu einem jener Serien-Phänomene gemacht hat, über das plötzlich alle reden. Da ist der Aspekt der scharfen Sozialsatire, die in erster Linie die Bigotterie der Reichen und Privilegierten herausstellt.Nichts ist leichter, als sich über die verwöhnte Piper zu amüsieren, die sich aus dem Luxusferien-Ressort in Thailand heraus hingezogen fühlt zur buddhistischen Armut, nur um dann daran zu scheitern, dass die Matratze einen Fleck hatte, das Essen „ganz offensichtlich“ nicht bio war und es keine Klimaanlage gab. Wobei Serienschöpfer Mike White in seinen Figurenporträts die Schrauben immer noch ein paar Windungen weiterdreht: Man schaut den Reichen nicht nur beim Heucheln zu, sondern bei ihrer spezifischen Selbstquälerei. Piper weiß, dass sie verwöhnt ist, und leidet entsprechend. Wenn auch nicht zu lange. In ihrer Welt lässt sich fast alles durch einen kleinen Einkaufsbummel zumindest besänftigen.Placeholder image-5Am alten Klischee von „Geld macht nicht glücklich“ war The White Lotus aber nie wirklich interessiert. Im Gegenteil: die ganze Serie mit ihren spektakulären Schauwerten, den Luxus-und Wellness-Urlaubsorten in der Sonne, führt in voller Sinnlichkeit vor, dass Geld eben sehr wohl Freude und Wohlbefinden bereitet.Der besondere Reiz von The White Lotus besteht eher darin, dass Autor Mike White (selbst nicht zu bescheiden, um den eigenen Namen im Titel zu verewigen) eine gewisse Lust an der Revolte bedient, wenn er die eine oder andere Figur scheitern lässt. Wobei bislang die Privilegierten – mit Ausnahme von Tanya (Jennifer Coolidge), die dem eigenen Mord-Plot entfliehen konnte, nur um dann vom Boot zu stürzen – oft relativ ungeschoren davonkamen.Diesmal war es anders: Spätestens ab der dritten Folge stand fest, dass eben jener von Victoria so hochgepriesene Ehemann und Familienvater, Tim Ratliff (Jason Isaacs), mit einem Finanzbetrug aufgeflogen war, der den totalen Ruin für die Familie und seine sofortige Verhaftung nach Rückkehr bedeutete. Das verlieh der oben geschilderten Szene beim Zuschauen eine weitere Note, einen „cringe“, bei dem man Fremdscham und Scham über die eigene Schadenfreude kaum unterscheiden konnte.Der spannendste Handlungsfaden der dritten StaffelObwohl bis hin zu den allerletzten Minuten sich daran nichts mehr änderte, war das der spannendste der Handlungsfäden dieser dritten Staffel: Tim dabei zu beobachten, wie er zunächst nicht fassen konnte, was ihn da ereilte; wie er dann entschlossen das Angebot des „digital detox“ annahm und sämtliche Smartphones der Familie einsammelte und abgab, um die Nachricht von ihr fernzuhalten. Mit den Beruhigungsmitteln seiner Frau versetzte er sich selbst in einen Trance-Zustand, in dem er anfing, den „erweiterten Selbstmord“ zu fantasieren.Nach und nach schloss er, ganz der fürsorgliche Patriarch, darin die Familienmitglieder ein, von denen er glaubte, dass sie ein Leben ohne Geld nicht aushalten könnten. Zuerst seine Frau Victoria, die das genau so ausdrückte: Sie sei zu alt, um noch ein Leben ohne Komfort zu führen. (Mit ihren verschlafenen Bekenntnissen, in denen sie einerseits völlig ignorant Thailand und Taiwan gleichsetzte und andererseits die Dinge mit schmerzender Präzision auf den Punkt brachte, ist Parker Posey zum großen Fan-Favoriten dieser Staffel aufgestiegen.) Auch Sohn Saxon (Patrick Schwarzenegger), der als junger Geschäftsmann und Zögling der „Manosphere“ zum Vater aufschaut, meint er mit in den Tod reißen zu müssen. Und schließlich eben auch die aus dem Kloster heimkehrende Piper.Eine gewisse Erfahrung mit Andeutungen und Serienenden ließ zwar vermuten, dass das offensichtlich Scheinende, der Tod der Ratliffs, nicht passieren würde. Aber der Schluss, den die Serie nun bescherte, sorgte doch größtenteils für Frust. Statt auszuspielen, wie sie die Nachricht ihres Ruins verdauen, endet die Erzählung mit dem Moment, als Vater Tim seinen Lieben die Handys erneut aushändigt und große Veränderungen für zu Hause ankündigt.Aber in gewisser Weise passt der Frust auch gut zur Serie: Man bekommt als Zuschauer quasi in der Lust zur Schadenfreude die eigene Erbärmlichkeit vorgeführt. Es wäre auch zu billig gewesen, sich daran zu erfreuen, welches Gesicht der so wunderbar abstoßend Selbstgefälligkeit darstellende Patrick Schwarzenegger dazu macht.Wenn sich der Frust über das Ende gelegt hatÜberhaupt scheint das mittlerweile der zwangsläufige Verlauf einer populären Serie: Je beliebter sie wird, desto größer sind die Erwartungen, während gleichzeitig sämtliche Handlungsdetails überanalysiert und zerredet werden und man schließlich aufs Finale wie auf die Lösung eines Rätsels wartet – das dann nur enttäuschen kann.Wenn der Frust über das Ende dieser dritten Staffel Zeit hatte, sich zu legen, wird vielleicht der Blick frei auf das, was dieses Mal auch wieder sehr besonders war. Von den drei Staffeln war es jedenfalls das Ende mit der größten emotionalen Bandbreite. Es gab große Tragik: das Ende von Rick, der sich am Mörder seines Vaters rächen wollte und dabei selbst zu eben diesem Mörder wurde – eine Verstrickung wie aus dem alten Griechenland, dem die Zugabe der naiv-lebensklugen Chelsea (Aimee Lou Wood) als Ricks Freundin und Mitopfer plötzlichen Ernst beigab.Placeholder image-1Auch an anderer Stelle gab es überraschend glaubwürdiges Pathos: Die drei Freundinnen, deren Zickenstreit über sieben Folgen hinweg ein bisschen zu sehr die misogynen Klischees über mittelalte Frauen und ihre Konkurrenz um Jugendlichkeit und Beziehungserfolg bediente, saßen am letzten Abend zusammen und feierten eine neue Stufe ihrer Freundschaft.Wobei ausgerechnet diejenige unter ihnen, die sich am deutlichsten von den zwei anderen abgesetzt hatte, ausgesprochen berührende Worte für den Sinn dieser Freundschaft fand. Ihr sei klar geworden, erzählte Laurie (Carrie Coon), dass allein die Tatsache, dass sie sich kennen, seit sie Mädchen waren, und so die Zeit gemeinsam vergehen sahen, ihrem Leben Sinn verleihe. Und wo die Verbindung dieser drei Eitlen vorher noch oberflächlich und brüchig gewirkt hatte, wurde auf einmal eine Harmonie ganz ohne Schadenfreude sichtbar.Ob man Erpressungsgeld annimmt, ist keine Frage des PrinzipsZur größeren Variabilität der Emotionen passte auch das Ende, das Physiotherapeutin Belinda (Natasha Rothwell), eine der Figuren aus der ersten Staffel, erfuhr. Ihr Handlungsbogen gab indirekt Antwort auf einen der Vorwürfe an den Autor der Serie: Wie so viele seiner Zunft neige Mike White dazu, die nicht-weißen Figuren seines Erzählkosmos als marginal oder eindimensional gut oder beides zu schreiben. Nicht nur, dass White in dieser dritten Staffel den Kosmos aus einheimischen Angestellten und reichen weißen Gästen erweiterte, etwa um heimatlose Russen (die sich als harmlose Bösewichter entpuppten), einen tölpelhaften Deutschen (Christian Friedel in schöner Abkehr seiner Nazirolle in Zone of Interest) und eine kluge indische Therapeutin (Shalina Peiris), die allerdings einen entscheidenden Fehler macht.Placeholder image-2Belinda wurde zugleich die Ehre zu teil, in die Liga der Figuren aufgenommen zu werden, die man mit gemischten Gefühlen betrachtet. Am Morgen noch wacht sie auf und denkt, sie sei ein Mensch, der kein Erpressungsgeld annimmt. Doch dann stellt sich heraus, dass das auch für sie keine Frage des Prinzips, sondern eine des Betrags ist. 100.000 Dollar kann man abschlagen, sie würden das eigene Leben nicht verändern. Mit einer Million ist das was anderes. Und kaum, dass Greg (Jon Gries) ihr schließlich satte fünf Millionen fürs Stillschweigen über Tanyas Tod überwiesen hat, dreht sich Belinda um und hält dem armen Ressort-Angestellten Pornchai (Dom Hetrakul) in etwa die gleiche Rede, mit der Tanya sie in der ersten Folge auf ihren Träumen sitzen ließ.Aufmacherfoto: HBO/Avalon/Fabio Lavino



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Von Veritatis

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