Krawall im Willy-Brandt-Haus: Juso-Chef Philipp Türmer zerschmettert den Koalitionsvertrag – und setzt damit der SPD-Parteispitze mächtig zu. Warum er glaubt, dass „Nein“ sagen jetzt Pflicht ist
Will dem schwarz-roten Koalitionsvertrag nicht zustimmen: Juso-Chef Philipp Türmer
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Die Woche startete für die SPD stürmisch: Montagmorgen stellte sich Juso-Chef Philipp Türmer in die TV-Sendung „Frühstart“ und machte klar, dass die Jugendorganisation der Partei nicht für den gerade erst verhandelten Koalitionsvertrag (PDF) stimmen wird. „Unser Votum lautet Ablehnung“, so Türmer. Seine Jusos haben knapp 70.000 Mitglieder. Angesichts der Tatsache, dass seit diesem Dienstag die SPD-Mitglieder über den Koalitionsvertrag abstimmen dürfen, ist sein Votum nicht unwichtig. Der Freitag traf Türmer wenige Stunden nach dem öffentlichen Paukenschlag zum Gespräch im Willy-Brandt-Haus.
der Freitag: Herr Türmer, warum wollen Sie dem Koalitionsvertrag nicht zustimmen?
Philipp Türmer: Wir haben uns die
e Stunden nach dem öffentlichen Paukenschlag zum Gespräch im Willy-Brandt-Haus.der Freitag: Herr Türmer, warum wollen Sie dem Koalitionsvertrag nicht zustimmen?Philipp Türmer: Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht. Denn natürlich ist es eine schwierige Situation, in der wir uns befinden. Am Ende ist unser Bewertungsmaßstab folgender: Reicht das, was in diesem Koalitionsvertrag steht, inhaltlich aus, um eine wirklich andere Politik zu machen? Also eine Politik, die Vertrauen zurückgewinnt und das demokratische Lager wieder stärkt? Da haben wir einfach zu große Bedenken. Deshalb lautet unser Votum „Nein“.Warum?Ich nenne mal zwei Themen, bei denen man exemplarisch die Probleme dieses Koalitionsvertrags sichtbar machen kann. Das eine ist das Thema Asyl und Migration. Da verfolgt dieser Koalitionsvertrag eine härtere Asylpolitik als die Vorgängerregierung – dabei hat die Ampel schon die härteste Asylpolitik seit Jahren gemacht. In der Folge sind die Asylzahlen massiv gesunken. Und hat das dazu geführt, dass die Zustimmung zur AfD zurückgegangen ist? Nein, hat es nicht. Die Große Koalition scheint dem Motto zu folgen: immer mehr von der gleichen und falschen Medizin. Ein anderer Punkt ist für mich der Bereich Steuern und Finanzen. Was Umverteilung angeht, enthält dieser Koalitionsvertrag überhaupt keinen Fortschritt. Gleichzeitig stellt er alle Vorhaben unter Finanzierungsvorbehalt. Wenn Sie mich fragen, ist dieser Koalitionsvertrag zu viel vom Falschen und zu wenig vom Guten.Werden Ihnen die Jusos geschlossen folgen bei der Ablehnung?Ich kann natürlich nicht in die Köpfe der Leute schauen, aber ich nehme im Austausch mit den Landesverbänden und Bezirken eine große Einigkeit wahr. Wir standen im Vorhinein im engen Kontakt und haben uns auf diesen gemeinsamen Kurs verständigt. Am Ende entscheidet aber natürlich jedes Mitglied für sich selbst und das ist auch gut so.Sie haben gesagt, dass Sie den Vertrag nachverhandeln wollen. Angesichts des mageren SPD-Ergebnisses von 16,4 Prozent bei der Bundestagswahl: Wie hoch schätzen Sie die Bereitschaft der Union ein, den Vertragstext noch einmal aufzuschnüren?Die Union hat doch bereits am vergangenen Wochenende in Gestalt von Jens Spahn und Friedrich Merz die Vereinbarung zum Mindestlohn wieder aufgeschnürt. Da wird doch bereits nachverhandelt.Sie nehmen den Vorstoß von Merz und Spahn also als Verhandlungsangebot wahr?(schmunzelt) Ja, das wäre die positivste Sichtweise! Zumindest, wenn man sich dolle verbiegt. Der Punkt ist: Wenn die Zustimmung zu diesem Koalitionsvertrag alternativlos wäre, dann hätte man den SPD-Mitgliederentscheid nicht machen dürfen. Wir nehmen diesen Mitgliederentscheid aber sehr ernst. Unsere Parteispitze hat regelmäßig betont, dass die Koalition aus SPD und Union kein Automatismus sei und am Ende die Mitglieder entscheiden. Außerdem ist überhaupt nicht gesagt, dass es automatisch zu Neuwahlen kommt, wenn die SPD den Koalitionsvertrag ablehnt. Der verfassungsrechtliche Weg zu Neuwahlen ist voller Hürden. So sieht es unser Grundgesetz vor. Dementsprechend spricht alles dafür, diesen Koalitionsvertrag rein nach inhaltlichen Kriterien zu bewerten. Nichts anderes habe ich getan.Wenn der Koalitionsvertrag umgesetzt wird, müssten Schutzsuchende mit dem Fallschirm über Deutschland abspringen, um hier einen Asylantrag zu stellen. Das finde ich nicht verantwortungsvollWas sind die drei wichtigsten inhaltlichen Voraussetzungen, unter denen Sie einem verbesserten Koalitionsvertrag doch noch zustimmen könnten?Erstens brauchen wir eine Asylpolitik, die sich zum Recht auf Asyl bekennt und es nicht de facto unmöglich macht. Zweitens ist klar, dass wir nicht mitgehen können, wenn Errungenschaften wie der Acht-Stunden-Tag aufgekündigt werden. Wir sind die Partei der Arbeit – das geht ganz tief an unsere Identität. Von einer Tages- auf eine Wochenhöchstarbeitszeit umzustellen, wie es der Koalitionsvertrag vorsieht, ist mit mir nicht zu machen. Und der letzte Punkt: Meiner Meinung nach ist der Finanzierungsvorbehalt beim Steuer- und Finanzkapitel eine tickende Zeitbombe. Schließlich haben wir bei der Ampel gesehen, was daraus resultiert, wenn die wichtigen Finanzierungsfragen nicht geklärt sind.Was spricht dagegen, „Einwanderung in die Sozialsysteme“ zu reduzieren, wie es der Koalitionsvertrag vorsieht, irreguläre Migration zurückzudrängen und die Kommunen zu entlasten?In der Formulierung „Einwanderung in die Sozialsysteme begrenzen“ steckt bereits ein Framing, das ich zurückweise. Der Anspruch muss sein, schutzsuchende Menschen maximal schnell in unseren Arbeitsmarkt zu integrieren. Das entspricht in aller Regel auch dem Wunsch der Schutzsuchenden. Was ich an diesem Koalitionsvertrag kritisiere, ist die Kombination aus Zurückweisung an den Grenzen einerseits und Beendigung aller freiwilligen Aufnahmeprogramme andererseits. De facto schließt man damit alle Möglichkeiten, das Recht auf Asyl geltend zu machen. Wenn das so kommt, müssten die Schutzsuchenden mit dem Fallschirm über Deutschland abspringen, um hier einen Asylantrag zu stellen. Das finde ich nicht verantwortungsvoll. Es ist richtig, sich darüber Gedanken zu machen, wie man ein besseres Asylsystem hinbekommt und organisiert. Das muss in Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern geschehen. Aber sich abzuschotten und die Augen vor dem Leid der Welt zu verschließen: Das ist ein Weg, den ich unmöglich mitgehen kann.Der Präsident des Deutschen Städtetages, Uwe Brandl, hat noch im Januar von einer „teils brutalen Überforderung“ bei der Frage der Unterbringung gesprochen. Was ist Ihre Antwort auf die Überlastung der Kommunen in der Migrationspolitik?Ja, es gibt Überlastung. Aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht das Lied eines allgemeinen Staatsversagens anstimmen. Die Probleme haben ihre Wurzel insbesondere in drei Bereichen: Sie resultieren aus einer Verknappung von Wohnraum, der schlechten Finanzierung von Kommunen und einer extrem geringen Planbarkeit. Im Moment ist es so, dass Kommunen teilweise nur zwei Tage vorher informiert werden, dass demnächst wieder Geflüchteten bei ihnen ankommen. Ein solches System muss reformiert werden. Allerdings müssen wir auch sehen, dass 2023 gerade einmal eine Million Menschen in die Europäische Union als Geflüchtete gekommen sind. Auf einem Kontinent mit 450 Millionen Einwohnern sind das doch wirklich keine erschreckenden Zahlen. Wenn wir das solidarisch organisieren, auch zwischen den Mitgliedsländern, ist das sehr gut zu bewältigen.Placeholder image-1Nach dem Attentat in Solingen gab es eine Titelstory vom „Spiegel“, in der ein Arzt zu Wort kam, der Abschiebeflüge begleitet. Dort berichtete er, dass die Geflüchteten ihn am Ankunftsort nicht selten mit den Worten „bis bald“ verabschieden, weil sie sich ein Flixbus-Ticket kaufen und zurück nach Berlin fahren. Womöglich ist das ein Grund für die Stärke der AfD: Die Leute hatten zu lange das Gefühl, dass der Staat, für den sie Steuern zahlen, die Kontrolle verloren hat.Wie gesagt: Niemand hat bestritten, dass es Probleme in unserem aktuellen Asylrechtsregime gibt. Davor kann man nicht die Augen verschließen. Ich würde nur sagen: Das größte Problem ist, dass jedes Jahr Tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken. Und wenn ich mir den Koalitionsvertrag und die Lösungen ansehe, die darin skizziert werden, bin ich schlicht und ergreifend nicht überzeugt. Ich glaube sogar, dass die bestehenden Probleme dadurch eher verschärft würden.Werden die Dinge besser, wenn wir das Wort „Islamismus“ nicht mehr verwenden?Wie kommen Sie darauf? Ich verwende das Wort Islamismus.Aber die Berliner Jusos haben vorgeschlagen, auf den Begriff zu verzichten.Das war der Beschluss eines Landesverbandes. Wenn Sie in unser Jugendwahlprogramm schauen, stellen Sie fest, dass dort die konsequente Bekämpfung von Islamismus eine wichtige Rolle einnimmt. Das ist unsere Beschlusslage auf Bundesebene, und die ist für mich maßgeblich.Also distanzieren Sie sich von den Berlinern?So wie ich die Debatte im Landesverband Berlin verstanden habe, ging es dort um folgende Frage: Wie gelingt es uns, über islamistischen Extremismus zu reden, ohne dabei pauschal Muslime in Haftung zu nehmen? Das ist auch dezidiert mein Ziel. Gleichzeitig habe ich mich in der Vergangenheit sehr deutlich und klar dazu bekannt, dass die politische Linke stärker in der Bekämpfung islamistisch motivierter Gewalt werden muss. Dazu stehe ich auch weiterhin.Wie kommen Sie darauf, dass ich Pazifist bin? Allgemeinen Gewaltverzicht zu predigen, finde ich, geht zu weitSie haben vor einigen Tagen in der Talkshow von Markus Lanz gesagt, dass Sie hoffen, im Kriegsfall den Mut zu finden, auch selber an die Front zu gehen. Ist das jetzt links: Kämpfen für das Vaterland?Entschuldigen Sie mal: Natürlich ist es nicht links, für ein nationales oder nationalistisches Konstrukt zu kämpfen. Ich bin Internationalist. Für mich ist es Kern des Linkseins, dass man für demokratische Werte kämpft. Damit meine ich nicht, dass alles perfekt ist in unserer Gesellschaft. Aber die Demokratie – so unperfekt sie derzeit auch noch sein mag – halte ich im Ernstfall für verteidigungswürdig.Das ist keine sehr pazifistische Haltung.Wie kommen Sie darauf, dass ich Pazifist bin? Ich bin kein Pazifist, und die Jusos sind kein pazifistischer Verband. Wenn die Annahme ist, dass man Pazifist ist, weil man Sozialist ist, kann ich nur sagen: Da besteht keine ideengeschichtliche Notwendigkeit. Ja, man kann Sozialist und gleichzeitig Pazifist sein. Allerdings gibt es da meiner Überzeugung nach gewisse Spannungsverhältnisse. Ich bezeichne mich daher eher als Antimilitaristen.Wo ist der Unterschied?Antimilitarismus heißt, dass man sich gegen das Primat militärischer Lösungen ausspricht. Das tue ich: Ich werde nie daran glauben, dass Probleme allein militärisch gelöst werden und ich bin gegen eine militarisierte Gesellschaft. Aber ich mache mir keinen prinzipiellen Gewaltausschluss zu eigen – das unterscheidet den Antimilitarismus vom Pazifismus. Natürlich darf man seine Rechte, die Demokratie und die eigene Freiheit verteidigen, wenn sie angegriffen werden.Ihr Parteifreund Boris Pistorius fordert eine neue Kriegstüchtigkeit, und der Militärhistoriker Sönke Neitzel sagt, Europa erlebt gerade den letzten Sommer im Frieden. Macht Ihnen die Stimmung derzeit im Land keine Sorgen?Doch, das macht mir Sorgen. Deshalb setzen wir uns beispielsweise auch gegen eine allgemeine Wehrpflicht ein. Wir Jusos wollen keine militarisierte Gesellschaft. Ich empfinde es als kulturhistorischen Fortschritt, dass die deutsche Gesellschaft weitgehend friedliebend geworden ist. Aber allgemeinen Gewaltverzicht zu predigen, finde ich, geht zu weit. Linke Lösungen müssen immer einen universalistischen Anspruch haben. Das ist für mich ein Kern von Linkseins. Und ich habe Probleme, diesen Universalismus zu erkennen, wenn man sagt: Auch wenn es einen imperialistischen und faschistischen Aggressor wie Russland in meiner Nachbarschaft gibt, sollte man sich ihm nicht zur Wehr setzen dürfen.Der Publizist Ole Nymoen hat gerade ein Buch geschrieben, warum er nie für Deutschland kämpfen würde. Er sagt, er wäre lieber unfrei als tot. Können Sie das nicht nachvollziehen?Das verstehe ich sehr gut aus einer individuellen Perspektive.Placeholder image-2Könnte eine kritische Haltung nicht auch sein, zu sagen: Bei der NATO sind 5.817.100 Militärangehörige im Dienst, in Russland sind es lediglich 1.330.900. Angesichts dieser Überlegenheit des Westens stemmen wir uns als Jusos gegen die Aufrüstung – weil sie nicht so notwendig ist, wie oft behauptet wird?Als linksdenkender Mensch beginne ich aber lieber mit der Betrachtung der Realität, anstatt mir die Wirklichkeit so zurechtzubiegen oder nur einen ganz bestimmten Ausschnitt zu betrachten, der in mein Weltbild passt. Dazu gehört anzuerkennen, dass wir in vielen militärischen Belangen von den Amerikanern abhängig sind: Das reicht von der Luftabwehr über Raketenabwehrschildern, die wir in Europa nicht besitzen, bis hin zu Kommunikations- und Beobachtungssatelliten. Wenn man einen ehrlichen Vergleich der Fähigkeiten vornimmt, muss man feststellen, dass wir in wichtigen militärischen Bereichen enormen Nachholbedarf haben.Alle Militärausgaben über einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts sind von der Schuldenbremse ausgenommen, bei der Infrastruktur gibt es einmalig 500 Milliarden. Ist es nicht ein Problem, dass die Aufrüstung als einziger Politikbereich einen Blankoscheck bekommt?Da fragen Sie jetzt den Falschen, weil ich die Schuldenbremse prinzipiell ablehne. Und zwar unabhängig von meiner Haltung zur Bundeswehr. Aus einer neoliberalen Ideologie heraus dem Staat und dem Parlament solche Fesseln anzulegen, halte ich für falsch. Übrigens auch deswegen, weil das Budgetrecht beim Bundestag und den Landesparlamenten liegt.Was halten Sie davon, dass Lars Klingbeil und Saskia Esken noch an der Spitze der SPD stehen?Wir brauchen eine grundsätzliche programmatische Erneuerung in dieser Partei. Den Auftakt dazu und einen guten Fahrplan wird man sich auf unserem Bundesparteitag im Juni geben. Dort wird der gesamte Parteivorstand neu gewählt, und natürlich muss am Ende ein Personaltableau stehen, das einen Aufbruch verkörpert. Das wird man kaum mit genau den gleichen Leuten bewerkstelligen können, die es aktuell machen.Wen schlagen Sie vor?Das diskutieren wir dann schon noch. Es mag floskelhaft erscheinen, aber wir stellen Inhalte tatsächlich an erste Stelle. Die SPD hat in den letzten Jahrzehnten gezeigt, dass sie mit den unterschiedlichsten Gesichtern Wahlen verlieren kann. Das Problem reicht also tiefer als in die Personalpolitik. Klar ist: Die Gesichter müssen zum programmatischen Neuanfang der Partei passen.