In Seoul ist der Stolz auf den Nobelpreis für Han Kang überall zu sehen. Unser Autor hat die Südkoreanerin dort schon einmal getroffen


In ihren Büchern gibt es sehr explizite Stellen, wie sie sonst selten sind in südkoreanischen Werken: Literaturnobelpreisträgerin Han Kang

Foto: Jean-Francois Paga/Laif


Im Herbst blüht Südkorea noch einmal auf: Anfang November leuchten die Bäume in der Hauptstadt Seoul in Gelb, Orange und Dunkelrot, während die Sonne noch immer für fast spätsommerliche Temperaturen sorgt. Im Gegensatz zu Deutschland regnet es im Herbst in Seoul kaum und auch deshalb hat die Stadt an mehreren Orten im Zentrum „offene Bibliotheken“ aufgebaut, also Büchereien unter freiem Himmel.

Eine davon ist vor dem Königspalast im Zentrum. Vom Verkehr auf der breiten Gwanghwamun-Straße und den Touristen ungestört lesen Menschen, liegen auf Sitzsäcken, Kinder in Hängematten, Pärchen ziehen sich zum Kuscheln in durchsichtige Zelte mit Kissen zurück. Dazwischen stehen Regale mit Büchern von Han Kang, in 20

ang, in 20 Sprachen. Der Stolz der Südkoreaner über ihre erste Literaturnobelpreisträgerin ist hier besonders deutlich zu sehen.Die Bibliothekarin Yeon Yu-min hat Han Kangs Bücher gelesen. Die 36-Jährige mag vor allem Han Kangs Sprache. „Sie ist ungewöhnlich direkt, manchmal gibt es auch sehr explizite Stellen, das ist sonst selten in koreanischen Büchern.“ Auch inhaltlich seien ihre Bücher mutig. „Das Thema Gwangju wird in der Schule, wenn überhaupt, nur kurz behandelt“, sagt Yeon und meint das Massaker in Gwangju 1980. „Durch das Buch Menschenwerk habe ich erst davon erfahren.“Als 1980 das Militär einen Aufstand der Studenten in Gwangju niederschlug, wurde die Stadt abgeriegelt, Militär und Polizei verprügelte und erschoss Menschen, die gegen die Regierung auf die Straße gegangen waren. Heute sprechen die Behörden von 165 Toten, während Wissenschaftler von 600 bis 2.100 Todesopfern ausgehen. 2021 schrieb Han Kang außerdem ein Buch über das Massaker auf der Insel Jeju, bei dem zwischen 1948 und 1949 bis zu 30.000 Menschen getötet wurden. Sie hatten gegen Südkoreas ersten Präsidenten demonstriert, der für Jeju das Kriegsrecht ausrief und Hunderte Dörfer auslöschte.Konservative protestierenZwar gibt es aufwendig gestaltete Gedenkorte für beide Massaker, doch bis heute ist ihr Ausmaß nur wenigen in Südkorea wirklich bewusst. Han Kang hat sich deshalb mit ihren Büchern auch Feinde gemacht – so wollen einige konservative Verbände in Südkorea ihre Bücher vom Lehrplan streichen lassen, weil sie „schädlich“ für Kinder seien. Bisher haben rund 10.000 besorgte Eltern die Online-Petition unterschrieben.Vor der schwedischen Botschaft demonstrierte nach der Nobelpreis-Bekanntgabe eine kleine Gruppe von selbst ernannten Patrioten. Sie forderten, dass Han Kang der Preis aberkannt werde, weil sie in ihren Büchern „schlecht“ über Südkorea schreibe. Sie werfen der Autorin vor, eine „verdrehte Geschichtsauffassung“ in ihren Büchern zu präsentieren.Gleichzeitig ist Han Kang seit acht Jahren die wohl bekannteste Autorin Südkoreas im Ausland. Ihr Name klingt nicht nur zufällig genau wie der Fluss Hangang im Zentrum von Seoul. Ihr Vater, Han Seung-wong, ebenfalls ein bekannter Autor, hat sie nach dem majestätischen Fluss benannt, der sich durch Seoul windet. Mit 53 Jahren hat Han Kang nun den Nobelpreis bekommen, vor allem, weil sie „historische Traumata“ benenne und „die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens“ deutlich mache, so das Nobelpreiskomitee.Direkt nach Bekanntgabe des Preises zog sich die Autorin zurück, sagte auch eine Pressekonferenz kurzfristig ab. Sie sagt, sie wolle sich derzeit ganz auf ihre aktuelle Novelle konzentrieren, die sie noch vor der Übergabe des Preises am 10. Dezember beenden möchte. „Mein Vater wollte ein großes Fest veranstalten“, sagte sie im einzigen kurzen Interview mit dem schwedischen Sender SVT. „Aber das erscheint mir aufgrund der aktuellen Ereignisse in der Welt nicht angebracht.“ Sie habe lieber mit ihrem Sohn angestoßen – mit Kamillentee.Durchbruch 2007 mit „Die Vegetarierin“Bei einem Treffen im Jahr 2017 in Seoul trank Han Kang Kräutertee und sprach sehr leise. Sie musste lachen, als sie auf ihre Stimme angesprochen wurde. „Ja, es stimmt, ich kann nicht besonders laut sprechen, das war schon immer so.“ Sie unterrichte in Seoul Literatur und zu Beginn des Semesters säßen die Studenten immer im ganzen Hörsaal verteilt, sagte sie: „Am Ende des Semesters sitzen sie alle ganz nah bei mir.“Die heute 53-Jährige hatte im Jahr 1995 erste Kurzgeschichten veröffentlicht und im Jahr 2007 mit Die Vegetarierin einen weltweiten Bestseller. Eine Frau weigert sich, Fleisch zu essen, und wird darüber immer mehr selbst zu einer Art Pflanze. Eine britische Übersetzerin entdeckte das Buch erst in den 2010er-Jahren in Seoul und brachte die Koreanerin so auf die internationale Bühne. Im Jahr 2016 erhielt Han Kang dafür den Man Booker Prize und alle wollten die Koreanerin plötzlich kennen lernen.Dabei ist die Entstehung des Romans für sie mit einer schmerzhaften Erinnerung verbunden, erinnerte sie sich in dem Gespräch 2017. „Nachdem ich das zweite Kapitel beendet hatte, begannen plötzlich meine Gelenke zu schmerzen.“ Ein rätselhaftes Rheuma plagte sie über Monate, sie konnte keine Tastatur benutzen, nichts schreiben. Han Kang dachte, ihre Karriere sei beendet. „Ich ging zur Akupunktur, gab ein Vermögen für Medikamente aus.“ Schließlich lernte sie eine neue Art des Schreibens, bei der sie ihre Gelenke nicht bewegen musste, sie berührte die Tastatur nur leicht mit den Fingern. Das dritte Kapitel von Die Vegetarierin ist so entstanden. „Mein Sohn beobachtete mich dabei und sagte, das sehe so seltsam aus, ich solle bei einer Talentshow im Fernsehen auftreten.“Es ist das wohl intensivste Kapitel des Buches. Im Zentrum steht der Streit der Hauptfigur Yon-Hye mit ihren Eltern, die ihren Vegetarismus nicht akzeptieren wollen. Ihre Mutter sagt: „Wenn du kein Fleisch mehr isst, wird die Welt dich auffressen.“ Han Kang will damit auch auf die Brutalität der Welt hinweisen. Sie sagt, es gehe ihr damit nicht nur um die koreanische Gesellschaft, in der Fleisch eine wirklich wichtige Rolle spielt, sondern insgesamt um die Welt, in der Gewalt und Kriege immer vorhanden sein werden.Bücher als FreundeInzwischen kann sie wieder normal schreiben. Dafür habe sie häufig Migräne. Krankheiten, sagte sie, „halten sie bescheiden“. Am liebsten, so erzählte sie es, flüchtete sie sich schon immer in die Welt der Bücher. Als sie klein war, waren Bücher für sie wie Freunde. Sie ist mit ihren Eltern fünfmal umgezogen, musste sich jedes Mal neue Freunde suchen. Wie viele Teenager habe sie sich Fragen gestellt: Warum wurde ich geboren, warum muss ich sterben, wer bin ich? Die Antworten auf diese Fragen habe sie in Büchern zwar nicht gefunden, sagte sie, aber über das Lesen habe sie Menschen kennengelernt, die zumindest die gleichen Fragen stellten.Sie sprach in diesem Interview vor sieben Jahren immer wieder über ihre Familie, ihren Vater und ihren Sohn aus der früheren Ehe mit dem Literaturkritiker Hong Yong-hee. Ihr Sohn arbeitet jetzt in ihrem kleinen Buchladen westlich vom Königspalast. Aktuell ist der Laden geschlossen, zu groß war der Andrang von Fans und der Presse. An dessen Fenster sind jetzt immer wieder kleine Notizen angebracht mit Glückwunschkarten.Ihrem Sohn gegenüber hatte sie beim Schreiben des Buches Menschenwerk immer ein schlechtes Gewissen, weil so wenig Zeit für ihn blieb. Sie hatte damals ein kleines Schreibbüro gemietet, in das sie jeden Morgen ging, wie zur Arbeit. „Ich lieh den Figuren in meinem Buch meinen Körper, ich fühlte, was sie fühlten, das war sehr intensiv und ich brauchte dafür einen anderen Ort als zu Hause.“ Doch sie habe schließlich fast bereut, dieses Buch geschrieben zu haben, weil die Beziehung zu ihrem Sohn sehr darunter gelitten hatte. Es sei eine schwere Zeit für sie gewesen.Fortsetzung einer Erfolgsserie für die südkoreanische KulturAn einem Sonntagabend Anfang November steht die Studentin Hong Yeo-eun vor dem Rathaus von Seoul und kann nicht verstehen, wie jemand Han Kang für ihre Bücher kritisieren kann. Die 24-Jährige hat gerade erst Menschenwerk gelesen und ist begeistert. „Obwohl ich im Jahr 1980 noch nicht gelebt habe, hatte ich bei der Lektüre fast das Gefühl, dabei gewesen zu sein.“ Es sei wohl zum Teil tatsächlich sehr düster gewesen, sehr hart. „Aber ich denke, wir Südkoreaner sind nun bereit dafür, uns auch mit den dunklen Seiten unserer Geschichte auseinanderzusetzen.“Letztlich setzt Han Kang damit eine Erfolgsserie fort, die mit dem Sänger Psy im Jahr 2012 begonnen hatte: Sein viraler Erfolgshit Gangnam Style machte sich über die Bewohner eines Seouler Stadtteils lustig. Sowohl der oscarprämierte Film Parasite als auch die erfolgreiche Netflix-Serie Squid Game behandeln ganz offen die Brutalität der südkoreanischen Gesellschaft, die von sozialen und wirtschaftlichen Zwängen geprägt ist.Nach der Nobelpreis-Entscheidung kündigte Han Kang aber an, zukünftig nicht mehr nur schwere Themen behandeln zu wollen. Wörtlich sagte sie in einem Interview, sie wolle sich „nach einem langen Winter mehr in Richtung Frühling“ entwickeln.



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Von Veritatis

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