Als Fundamentalopposition alleinige Macht anstreben oder sich per „Melonisierung“ der Union andienen? Sechs Thesen zur Zukunft einer Partei, der ihr bisher bestes Bundestagswahlergebnis winkt
Hat da etwa Alice Weidel auf dem Weg ins Kanzleramt vor lauter Aufregung ihre Tasche stehen lassen?
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Die AfD bereitet sich auf die dritte Legislaturperiode vor und steuert auf ihr bislang bestes Ergebnis bei den Bundestagswahlen zu. Während sie in Umfragen bei knapp 20 Prozent steht, versucht die Partei etwas nervös, Landeslisten für die Bundestagswahlen aufzustellen. Viele fragen sich: Wird Björn Höcke von der Thüringer Landespolitik auf die bundespolitische Bühne wechseln? Wie wird sich die neue Bundestagsfraktion zusammensetzen? Kommt es zu einem Zerwürfnis zwischen den beiden Parteichefs Alice Weidel und Tino Chrupalla?
Antworten auf diese Fragen werden das Erscheinungsbild der Partei in den kommenden Jahren maßgeblich prägen. Doch die konkreten Personal- und Machtfragen lenken den Blick von den übergeordneten Fragen ab: Wie sieht
e Weidel und Tino Chrupalla?Antworten auf diese Fragen werden das Erscheinungsbild der Partei in den kommenden Jahren maßgeblich prägen. Doch die konkreten Personal- und Machtfragen lenken den Blick von den übergeordneten Fragen ab: Wie sieht die Zukunft der AfD aus, und welche Wege führen zur Macht? Sechs Thesen zum Ist-Zustand und zu den Entwicklungsmöglichkeiten der AfD und ihrer Vorfeldorganisationen:1) Die AfD ist ein rechtsradikales Machtprojekt, das wesentlich geprägt ist von einer Ideologie des völkischen Nationalismus, bei dem ein ethnisch wie kulturell als homogen konzipiertes Volk Ausgangspunkt jeglichen politischen Handelns ist. Aus dem Ziel, das Volk weitgehend rein zu halten, leitet sich etwa die migrationsfeindliche, geschlechterpolitisch reaktionäre und eine Wirtschafts- und Sozialpolitik ab, die bestehende Klassengegensätze verwischt.2) Dissens gibt es vor allem in der Frage, wie das völkisch-nationalistische Ziel erreicht werden kann. Grob gesagt stehen sich zwei Pole gegenüber: Während die Pragmatiker auf eine baldige Zusammenarbeit mit der Union hinarbeiten und bereit sind, Regierungsverantwortung auch als Juniorpartner zu übernehmen, betonen die Fundamentalisten, dass echte Veränderungen erst dann möglich seien, wenn die AfD allein die politische Macht hat oder mit einer geschwächten, geläuterten Union koaliert. Welche dieser Tendenzen sich durchsetzen wird, hängt nicht nur von Machtkämpfen innerhalb der AfD ab.Die AfD hat kein Hegemonieprojekt – noch nicht3) Bislang hat sich um die AfD herum kein Hegemonieprojekt formiert, also kein Projekt, das in der Lage wäre, die eigene Agenda für weite Teile der Gesellschaft zu universalisieren. Ein solches Hegemonieprojekt würde darauf abzielen, die „allgemeine Krise der Gesellschaftsordnung“ (Nancy Fraser), die sich seit etwa 15 Jahren auf unterschiedliche Weise manifestiert, zu bearbeiten. Hierbei ginge es vor allem um eine Modernisierung des Kapitalismus und die Einbindung führender Kapitalfraktionen.Aktuell ringen zwei Projekte um die Hegemonie: Das Hegemonieprojekt der ökologischen Modernisierung setzt auf grüne Kapitalfraktionen und eine nachhaltige Verteidigung des Bestehenden, der autoritäre Kapitalismus auf Disziplinierung und Repression nach innen und Konfrontation nach außen, wie Frank Deppe kürzlich in der Zeitschrift Marxistische Erneuerung analysiert hat.Die allermeisten Kapitalfraktionen, vor allem die für dieses Land wesentlichen exportorientierten, stellen sich gegen die AfD. Das geschieht nicht nur aus Imagegründen, sondern auch wegen politischer Differenzen. So würde die Umsetzung der bei den Fundamentalisten latenten und teils offen formulierten Vorschläge, etwa eine Abkehr von der Westbindung und ein Austritt aus der EU, die Verwertungsmöglichkeiten insbesondere der exportorientierten Kapitalfraktionen stark beeinträchtigen.Eine Einbindung führender Kapitalfraktionen in ein völkisch-nationalistisches Projekt ist derzeit nicht abzusehen. Zwar könnte man einwenden, dass die Kapital-Seite flexibel agiert, wenn es sein muss, wie die Geschichte des deutschen Faschismus in den 1930er Jahren und die Unterstützung von Tech-Kapitalisten wie im Fall von Donald Trump zeigen. Doch das politische System in Deutschland ist ein anderes als das in den USA, und auch mit Blick auf Deutschland ist 2024 nicht 1932. Trotz des Wahlerfolgs der AfD und ihres wachsenden Einflusses sieht es nicht zuletzt aufgrund eines einigermaßen fest im Sattel sitzenden und in der Fläche verankerten, etablierten Konservatismus nicht danach aus, dass die AfD schon bald das rechte Parteienspektrum dominieren wird, wie es sich die Fundamentalisten erhoffen.Taktische Mäßigung nach dem Prinzip Giorgia Meloni4) Kurz- und mittelfristig führt der Weg zur Macht für die AfD aller Wahrscheinlichkeit nach nur über einen pragmatischen Kurs. Eine taktische Mäßigung ist dabei nicht in allen Programmpunkten notwendig: Wirtschafts- und sozialpolitisch ist das Programm der AfD nicht weit von FDP und Union entfernt. Erst kürzlich hat Stephan Kaufmann im nd darauf hingewiesen, dass sowohl das rechte Spektrum wie das der Mitte in ökonomischen Fragen das gleiche Weltbild teilen. Auch migrationspolitisch gibt es nach diversen Rechtswendungen der politischen Mitte (einschließlich der Ampel-Regierung) immer mehr Überschneidungen. Zwischen der politischen Mitte und dem Rechtsradikalismus klafft keine unüberbrückbare Schlucht – die Übergänge sind fließend.Die AfD steht unter Anpassungsdruck, vor allem in Bezug auf NATO, Euro und EU. Diese geopolitische Anpassung nach außen könnte mit der Beibehaltung einer rechten kulturpolitischen Agenda im Inneren einhergehen, wie das Beispiel der rechtsradikalen Regierung in Italien zeigt. Eine „Melonisierung“ der AfD wird von den Fundamentalisten gefürchtet, während die Pragmatiker sie befürworten.Der Konservatismus ist rechts abgebogen5) Lia Becker von der Rosa Luxemburg Stiftung zeigt in einem aktuellen Aufsatz, dass es in der Union durchaus ein Potenzial für einen autoritären Kulturkampf gibt. Der etablierte parteienförmige Konservatismus bewegt sich gesellschafts-, wirtschafts- und sozialpolitisch deutlich nach rechts, verfolgt auch geopolitisch einen harten Kurs und setzt kaum noch auf eine grün-liberale Modernisierung. Die ideologischen Differenzen zwischen dem völkischen Nationalismus der Rechtsradikalen und einem nüchterner auf Verwertbarkeit des Humankapitals setzenden Standort-Nationalismus der sogenannten Mitte dürften überbrückbar sein.Gelingt den Pragmatikern eine Melonisierung ihrer Partei, könnte die AfD doch noch Teil eines Hegemonieprojekts werden: als rechter Flügel eines autoritär-neoliberalen Hegemonieprojekts.6) Eine solche Melonisierung könnte durch die bereits laufende Normalisierung der AfD unterstützt werden, die sich momentan vereinzelt kommunalpolitisch andeutet und sich auf Länderebene bald schon weiter vollziehen könnte, wenn eine längst im Raum stehende Regierungsbeteiligung der AfD oder zumindest eine Tolerierung durch die AfD ausprobiert wird: 2026 etwa, wenn voraussichtlich in Sachsen-Anhalt ein neuer Landtag gewählt wird, möglicherweise schon früher, wenn ohnehin prekär angelegte Landesregierungen scheitern.Es spricht vieles dafür, dass die AfD den Weg vieler europäischer Rechtsparteien gehen wird: von einer fundamentalistischen Oppositionspartei zu einer pragmatisch-rechtsradikalen Regierungspartei. Auf Bundesebene ist dies nach den nächsten Bundestagswahlen noch unwahrscheinlich, doch bei den übernächsten Wahlen könnte sich die Situation deutlich anders darstellen. Ein zu erwartendes Rekordergebnis der AfD bei den bevorstehenden Wahlen dürfte die Debatte über eine Zusammenarbeit mit den Rechtsradikalen zusätzlich befeuern.