Wie vertritt man eigentlich Ost-Interessen? Wie hält Michael Kretschmer es mit Friedrich Merz und Jens Spahn – in Sachen AfD und in der Ukrainefrage? Ein Gespräch über eine CDU, die versucht, nicht gejagt zu werden
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Foto: Thomas Victor/Agentur Focus
Als sächsischer Ministerpräsident muss Michael Kretschmer die Sichtweisen des Ostens vertreten – und darf sich doch nicht zu weit von seiner CDU entfernen. So kommt es zum Spagat: Er verurteilt den Ukrainekrieg, spricht sich aber lauter als seine Parteifreunde im Westen für Diplomatie und einen Waffenstillstand aus. Und wenn der russische Botschafter Sergej Netschajew im Vorfeld des 8. Mai zum Gedenken nach Sachsen reist? Ein Gespräch über Ostidentität, den Umgang mit der AfD und die Frage, ob Bürgernähe das Erstarken der Rechten verhindert.
der Freitag: Herr Ministerpräsident, ist Ihnen auch aufgefallen, dass bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages der Osten kein einziges Mal erwähnt wurde?
Michael Kretschmer: Und wie oft steht
28;hnt wurde?Michael Kretschmer: Und wie oft steht „Ostdeutschland“ oder „Neue Länder“ im Koalitionsvertrag?Das habe ich nicht nachgezählt. (Anmerkung der Redaktion: dreimal)Aus Ihrer Frage spricht die Vermutung, dass der Osten kein großes Thema war. Diese kleinmütige Haltung ist allerdings absolut unbegründet. Wir haben während der Koalitionsverhandlungen über das Thema Wirtschaft gesprochen und dort Vereinbarungen zu Gunsten der östlichen Länder getroffen. Wir haben über Finanzierungen gesprochen, über die Lebensleistung der Menschen, die hier leben. In diesem Kontext stehen im Koalitionsvertrag an den zentralen Stellen die Aussagen, die wir aus unserer Sicht brauchen. Darauf haben die SPD-Ministerpräsidentin Manuela Schwesig und ich sehr geachtet und für die Verankerung gesorgt, und wir haben große Zustimmung bei den Parteivorsitzenden bekommen.Wenn Sie nach „Ost-Interessen“ gefragt werden, was fällt Ihnen spontan ein?Jedes Bundesland hat seine besonderen Interessen. Wir bezahlen beispielsweise als Ost-Bundesländer über dreieinhalb Milliarden Euro für die Renten von ehemaligen SED- und Stasi-Leuten. Das muss der Westen nicht, und es ist unser Interesse, dass der Bund hier eine stärkere Verantwortung übernimmt. Wir haben auch nicht die Verkehrsverbindungen zu unseren europäischen Nachbarn wie Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg oder Bayern. Deswegen haben wir in dem Papier verankert, dass die Schnellzugverbindungen nach Polen oder Tschechien ausgebaut werden. Man könnte diese Aufzählung fortführen. Deshalb ist es ja so wichtig, dass wir mit am Tisch gesessen haben.Kann man immer noch von einem „Nachholbedarf Ost“ sprechen? Oder einfach nur von Regionalinteressen?Das ist ja der Sinn und Zweck eines Koalitionsvertrages, dass er unterschiedliche Interessen und Bedarfe in eine Balance bringt. Entscheidend ist, dass man mit guten Argumenten, aber auch mit Durchsetzungskraft bei solchen Gesprächen dabei ist. Ich denke, uns ist es sehr gut gelungen, unsere Interessen einzubringen.Ich würde auch zuerst sagen, dass ich Ostdeutscher bin, und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), dass er zuerst Franke sei. Das ist aus meiner Sicht eine schöne und unkomplizierte SelbstdefinitionGibt es eine übergreifende Identität? Spüren Sie diese in der Ost-Ministerpräsidentenkonferenz über Parteien hinweg?Mit Sicherheit. Die gemeinsamen Erfahrungen, aber auch gemeinsame Bedarfe wie die Themen Altschulden und Verkehrswege, Osteuropa oder SED-Renten bringen uns zusammen, und deren Lösung bestreiten wir gemeinsam. Darin besteht auch eine Identität.Ich fühle mich angesichts der verbreiteten Unzufriedenheit an die Kontinuität eines DDR-Paradoxons erinnert: Es gehört zum guten Ton, gegen den Staat zu sein und ihn abzulehnen, aber zugleich alles von ihm zu erwarten. Anspruchsgesellschaft Ost?Der frühere sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf hatte das gut auf den Punkt gebracht: Man kann die Menschen nicht dafür kritisieren, dass sie nach den Regeln leben, die der Staat aufgestellt hat. Man darf sich darüber auch nicht wundern. Ich kann mich mit meinem Vergleich zu den 1990ern nur wiederholen: Wir haben mehr Sozialstaat, wir haben weniger Notwendigkeit etwas zu leisten.Sollten wir unsere Mitbürger nicht auffordern, ihre tradierten Haltungen zu überprüfen?Wir müssen die Regeln dem anpassen, was Staat und Gesellschaft leisten können. Dann wird sich auch das Verhalten ändern.In der politischen und in der veröffentlichten Debatte um selbstbewusstere ostdeutsche Repräsentanz tauchen immer wieder dieselben Schlagwörter auf: „Quoten-Ossis“ in Führungspositionen, Ost-Beauftragte der Regierung, Zukunftszentrum Deutsche Einheit in Halle, Freiheits- und Einheitsdenkmal Leipzig. Sind das Mittel, am komplexbehafteten ostdeutschen Bewusstsein etwas zu verbessern?Die Geschichte der beiden deutschen Staaten darf nicht in Vergessenheit geraten, denn sie hat viele Menschen geprägt und beeinflusst unsere Gesellschaft bis heute. Es stimmt, dass sich Ost- und Westdeutschland unterschiedlich entwickelt haben, und diese Unterschiede sind auch nach der Wiedervereinigung nicht einfach verschwunden. Dennoch ist es beeindruckend, wie viel Zusammenhalt inzwischen gewachsen ist – gerade auch bei der jungen Generation, die mit einem ganz neuen Selbstverständnis in die Welt geht. Trotzdem ist es entscheidend, die Leistungen der älteren Generation nicht zu übersehen. Sie hat viel durchgemacht, Anpassungen bewältigt und oft große persönliche Opfer gebracht. Es ist nur gerecht, dass sie Solidarität erfährt – sei es in Form von Anerkennung oder Unterstützung im Alter. Aber genauso wichtig ist es, die Perspektive der jungen Menschen mitzudenken. Sie gestalten die Zukunft, und deshalb müssen wir auch in einer Sprache mit ihnen sprechen, die sie erreicht. Deutsche Einheit bedeutet nicht, dass alles gleich ist – sondern dass wir Unterschiede anerkennen und gemeinsam daran wachsen.Das starke Abschneiden der AfD im Februar hat mich nicht überraschtVon den über das Portal „MDRfragt“ erfassten mehr als 20.000 Bürgern aller Generationen nennen aber mehr als die Hälfte zuerst ihre Ost-Identität, dann erst folgen die Bundesrepublik und Europa.Ich würde auch zuerst sagen, dass ich Ostdeutscher bin, und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), dass er zuerst Franke sei. Das ist aus meiner Sicht eine schöne und unkomplizierte Selbstdefinition. Ich verstehe nicht, warum man das problematisieren muss. Ost-Identität muss ja auch nicht abwertend gegenüber dem Westen empfunden werden. Oder als Verklärung der DDR.Können Sie bitte Ihre Gefühle am Abend der Bundestagswahl vom 23. Februar schildern, als Sie auf die politische Landkarte geblickt haben? Die alte DDR klar umrissen und AfD-blau, die alte Bundesrepublik Unionsschwarz.Ich war nicht überrascht, weil ich diese Ergebnisse vorausgesehen habe und über Jahre daran gearbeitet habe, dass die Politik und die Ampel-Bundesregierung Probleme löst und sie nicht weiter ignoriert oder gar leugnet. In einer Demokratie stellt sich ein solches Ergebnis ein, wenn man sich über lange Zeit nicht um die Dinge kümmert, die aus Sicht der Bevölkerung notwendig sind.Das macht die CDU künftig besser und die neue kleine GroKo?Wir sollten ihr auf jeden Fall die Chance geben!Hindert dieser „blaue Osten“ möglicherweise daran, Ost-Interessen gegenüber Westdeutschland und der Bundesregierung insgesamt zu vertreten?Nein, das entspricht nicht meiner Erfahrung.Seit Ihrem Amtsantritt im Dezember 2017 verfolgen Sie hartnäckig eine Strategie, die mich an das Gerhard-Schöne-Lied „Mit dem Gesicht zum Volke“ erinnert. Sie haben in Foren viel zugehört, häufig genickt, aber den Trend zu immer alarmierenderen AfD-Wahlergebnissen nicht umkehren können.Es wird aber auch niemand rekonstruieren können, wie die Wahlergebnisse ausgesehen hätten, wenn wir in ähnlicher Weise wie Berlin an den Realitäten vorbei regiert und mehr über die Leute hinweg als mit den Leuten gesprochen hätten. Ich glaube, dass wir mit der Strategie einen Unterschied zu Berlin aufgezeigt haben, und ich würde es genauso wieder tun.Vermutlich unterstützen Sie den Kurs von Ihrem Parteifreund Jens Spahn, nicht mit der AfD zu kollaborieren, sie aber auch nicht durch parlamentarische Tricks auszugrenzen?Genauso ist es.Wir sollten nicht weiter Geld für Kriegswaffen ausgeben, sondern für ein Verteidigungssystem, das Schutz vor Angriffen bietetDer russische Krieg gegen die Ukraine bewegt und spaltet sowohl Politiker als auch Bürger. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass bei so vielen Ostdeutschen das alte Mitgliedsbuch der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft noch im heimischen Traditionskabinett zappelt?Im Kern widerspreche ich dem. Von 10 bis 15 Prozent BSW-Wählern kann man nicht auf eine Grundgesamtheit schließen. Wir haben auch in den Koalitionssondierungen gemerkt, wie schwer es einigen in dieser Partei fällt, sich zum westlichen Verteidigungsbündnis zu bekennen. Das kann man aber nicht verallgemeinern.Haben Sie Hoffnung, dass gegenwärtige Verhandlungsansätze zu einem Frieden in der Ukraine führen werden?Es wird am Ende nur Diplomatie helfen, und es wird in den nächsten Jahren auch keinen dauerhaften endgültigen Frieden geben. Was wir in den nächsten Wochen erreichen können und müssen, ist ein Waffenstillstand. Damit das Sterben und die Zerstörung aufhören. Wir sollten nicht weiter Geld für Kriegswaffen ausgeben, sondern für ein Verteidigungssystem, das Schutz vor Angriffen bietet.Aber der dafür unverzichtbare Partner Putin zeigt keine Neigung, darauf einzugehen.So ist es. Ich habe meine Haltung zu diesem Konflikt in den vergangenen drei Jahren nicht geändert und bin auf dramatische Weise immer wieder bestätigt worden. Wir sollten unser Blickfeld und die Handlungsoptionen erweitern. Aus dem „Nie wieder Russland“ muss eine Strategie werden, die für einen Waffenstillstand sorgt und auf die kommende Generation in Russland setzt. Aber es muss auch immer wieder klar sein, dass es keine Rechtfertigung für diesen Angriffskrieg gibt. Ansonsten würden wir erst recht den Anreiz schaffen, andere Länder anzugreifen.Von den gescheiterten Brombeer-Koalitionssondierungen in Sachsen mit dem BSW war schon die Rede in unserem Gespräch. Stimmen Sie zu, dass Minderheitsregierungen auch Ausdruck eines immer diverseren und damit auch unberechenbareren Wählerverhaltens sind?Ja. Das ist Demokratie, und das haben wir so zu nehmen, wie es ist.Positiv gefragt: Ist der Osten in dieser Hinsicht ein demokratietheoretisches Labor? Ein Experimentierfeld, angefangen vom Magdeburger Modell in Sachsen-Anhalt über die Jahre 2020–2024 in Thüringen bis hin zur aktuellen Situation in Sachsen? Welche Erfahrungen machen Sie als Regierungschef seither?Wir gehen mit Demut an die Arbeit und bekommen auch Unterstützung von anderen, die nicht in der Regierung sind, aber Interesse daran haben, ihr Heimatland voranzubringen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass es gelingen kann. Die Hand ist aus meiner Sicht immer ausgestreckt, wir gehen Schritt für Schritt voran.Ihr Thüringer Parteikollege Mario Voigt führt eine Regierung mit BSW und SPD. Von ihm wissen Sie, wie zäh und strapaziös die permanente Kompromisssuche werden kann. Die schwierigen laufenden Beratungen für einen sächsischen Haushalt dürften zur ersten Nagelprobe werden.Das stimmt. Aber jede Alternative ist eine schlechtere, und deswegen arbeiten wir auch als Minderheitskoalition. Am Ende ist das auch Ausdruck des Respekts vor Demokratie. Ich bin in der Kommunalpolitik großgeworden und habe die Momente immer als besonders wertvoll und verbindend empfunden, wenn Menschen das Anliegen einer Gemeinde oder eines Kreises über parteipolitische Interessen gestellt haben. Michael Kretschmer (1975 in Görlitz geboren) gehörte seit 2002 dem Bundestag an. Im Dezember 2017 wurde er als Nachfolger von Stanislaw Tillich zum sächsischen Ministerpräsidenten gewählt. Nach dem Scheitern der Verhandlungen mit dem BSW führt er seit Dezember eine Minderheitsregierung mit der SPD an.