Der Chemnitzer Linken-Parteitag sollte ein Signal der Einigkeit senden. Am Ende ging der Plan nicht auf: Weil manche Konflikte sich offenbar nicht deckeln lassen


Die Parteispitze mit Heidi Reichinnek, Sören Pellmannn, Ines Schwerdtner und Jan van Aken in Chemnitz

Foto: Chris Emil Janßen/Imago Images


Im alten Chemnitzer Industriegebiet, wo zwischen verfallenden Fabrikgebäuden die Messe steht, will Die Linke wieder zur sozialistischen Klassenpartei werden. „Die Hoffnung organisieren“ ist das Motto des Parteitags, des dritten innerhalb von sieben Monaten. Dafür scheint es in Chemnitz Nachfrage zu geben.

Eine Gruppe 14-Jähriger wartet am Freitagnachmittag vor der Halle, ihre Hoffnung: ein Selfie mit Heidi. Aber sie sind noch aus anderen Gründen hier: „Dass die Armen mehr entlastet werden, mehr Frauenrechte, dass queere Menschen nicht so runtergemacht werden und dass der Rechtsruck weggeht“, fasst Jo-Ann ihre Wünsche an die Politik zusammen. „Wenn man nichts macht, sind wir hier bald wieder bei 1988“, ergänzt Bella. „33

ld wieder bei 1988“, ergänzt Bella. „33!“, korrigiert Lilly.Im Saal hat die, auf die die Jugendlichen warten – Heidi Reichinnek, Co-Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag –, an diesem Vormittag die Eröffnungsrede gehalten. „Die AfD organisiert den Hass, wir organisieren die Hoffnung“, wiederholt sie das Motto, das auch von Bildschirmen strahlt, auf Bannern steht und von überall im Saal zu lesen ist. Und sie bekräftigt ihren Aufruf, den Kapitalismus zu überwinden, der schon tags zuvor für Schlagzeilen gesorgt hatte. „Ein solches Wirtschaftssystem hat mit Demokratie nichts zu tun.“Die Parteivorsitzende Ines Schwerdtner, die die zweite Auftaktrede hält, stimmt ein. Schwarz-Rot sei eine „Koalition der Hoffnungslosigkeit“, aber (für den Fall, dass es irgendwer noch nicht mitbekommen hatte): „Wir organisieren die Hoffnung.“ Glaubwürdig für eine solidarische Gesellschaft streiten könne allerdings nur, wer auch miteinander solidarisch umgehe. Weshalb das Führungsteam den Delegierten in Chemnitz wieder und wieder einhämmert: Streiten ja, aber bitte mit Respekt und „revolutionärer Freundlichkeit“.Unten gegen oben, Hoffnung organisieren, niemals allein, immer gemeinsam: Mit diesen Leitplanken sollen die Delegierten durch den Parteitag und die Partei durch die Neugründungsphase steuern. Eine Neugründung ist es, weil die Mitgliederzahl sich seit Jahresbeginn auf 112.000 verdoppelt hat. Die Neuen sind meist jung, mehrheitlich weiblich, oft aus dem Westen. Was wollen sie von der Partei? „Mietendeckel, Kampf gegen rechts, Widerstand gegen Merz aufbauen, viele wollen auch weiter Haustürgespräche machen. Es gibt nicht das eine bestimmende Thema“, sagt Violetta Bock. Bock, 37, ist neu gewählte Bundestagsabgeordnete aus Kassel. In Kassel ist sie vor zwei Jahren für Die Linke bei der Oberbürgermeisterwahl angetreten, hatte schon damals wachsende Armut und steigende Preise in den Mittelpunkt gestellt – und immerhin neun Prozent erreicht, im Jahr der BSW-Abspaltung ein Überraschungserfolg. Mit den vielen neuen Mitgliedern gebe es nun die Möglichkeit, auch jenseits urbaner Hochburgen Strukturen aufzubauen, das sei wichtig für die Kommunalwahlen nächstes Jahr, aber auch beim Kampf für einen Mietendeckel. Placeholder image-2„Hohe Mieten sind bei uns nicht so das Thema, der Wohnungsmarkt in Chemnitz ist recht entspannt. Im Wahlkampf waren es eher Krieg und Frieden. Hier sind viele Wähler zum BSW abgewandert“, berichtet Toni Späth. Der 26-Jährige mit der auffälligen blauen Brille ist Delegierter aus Chemnitz, wo er auch im Stadtrat sitzt. In Die Linke eingetreten ist er 2021, „auf dem Tiefpunkt“, wie er sagt. Auch in Chemnitz sind im Wahlkampf neue Mitglieder hinzugekommen, sagt Späth. „Bei vielen hat Antifaschismus eine große Rolle gespielt, auch Heidi war ein Faktor.“ Die neue Energie im Ortsverband möchte Späth nutzen, zugleich sieht er Herausforderungen: „Wie wir die Neuausrichtung hinbekommen, intern und in der Außenwirkung, gerade bei der Verteidigungspolitik oder beim Thema Nahost.“ Wie ticken die Neumitglieder der Linken?Wie die Neumitglieder bei diesen schon lange strittigen Fragen ticken, darüber wird viel gerätselt. Allerdings sind die Neuen in Chemnitz noch gar nicht als Delegierte vertreten, der Parteitag spiegelt also eher Debattenlagen wider, die es vor der faktischen Neugründung gab. Offen geführt werden sie hier allerdings kaum. Disput wird in die Antragsverhandlungen hinter den Kulissen verlagert, um öffentlichen scharfen Streit zu vermeiden und kontroverse Anträge konsensfähig zu machen.Über weite Strecken gelingt es so, das Bild einer einigen Partei zu zeigen: Am Leitantrag gibt es kaum Änderungen, selbst beim Thema Friedenspolitik setzt sich schließlich der Konsensvorschlag mit der Überschrift „Ohne Wenn und Aber: Sage Nein zu Aufrüstung und Kriegstüchtigkeit“ durch. Auch wenn es in der Debatte Kritik daran gibt, dass die russische Aggression gegen die Ukraine nicht benannt wird – eine Delegierte spricht von „Realitätsverweigerung“ –, am Ende erhält der Antrag eine deutliche Mehrheit. Der Appell zum internen Frieden reicht auch am zweiten Tag noch einmal gerade so, um einen echten Eklat zu verhindern. Aus dem Jugendverband solid und dem Studierendenverband SDS kommt ein Antrag, der die linken Minister*innen und Senator*innen aus Bremen und Mecklenburg-Vorpommern, die dem Sondervermögen Infrastruktur und der Aufhebung der Schuldenbremse für Rüstung im Bundesrat zugestimmt hatten, zum Rücktritt auffordert. Ines Schwerdtner hält dagegen: Auch sie finde das Abstimmungsverhalten falsch, aber bitte darum, kein Exempel an Einzelnen zu statuieren. Das überzeugt am Ende genügend Delegierte, der Antrag wird abgelehnt – aber knapp.Die meisten potenziellen Konflikte moderiert die Parteiführung so erfolgreich ab. Zum Krieg in Gaza, zu dem mehrere Anträge vorliegen, verhandelt sie bis zur letzten Minute eine Kompromissversion, die sich gegen die israelischen Besetzungspläne, das Aushungern und die Vertreibung der Zivilbevölkerung in Gaza wendet und ganz, ganz spät am Samstag, als quasi letzter Akt, verabschiedet werden soll – und mit großer Mehrheit wird.Antisemitismusdefinition: Mehrheit stimmt für Jerusalemer Erklärung (JDA)Dann aber, als Nachklapp zum Nachklapp, gerät die Choreografie der Geschlossenheit doch noch durcheinander. Eine Mehrheit der Delegierten votiert dafür, dass auch über die Antisemitismusdefinition, mit der die Partei arbeitet, noch abgestimmt werden soll. Gegen den Wunsch der Vorsitzenden beschließt eine knappe Mehrheit dann, dass sich Die Linke fortan an der Jerusalemer Erklärung (JDA) orientieren soll; die IHRA-Definition, die stärker auf israelbezogenen Antisemitismus fokussiert, wird als Einfallstor für autoritäres staatliches Handeln abgelehnt.Placeholder image-1Als wenige Minuten nach der Abstimmung die Teilnehmer*innen nach draußen drängen, hält sich die Aufregung in Grenzen. Violetta Bock aus Kassel zieht eine positive Parteitagsbilanz. Die Gesprächskultur sei besser gewesen als früher; den inneren Zusammenhalt sieht sie gestärkt. „Man merkt die neue Motivation, kollektiver zu arbeiten, die Themen von Partei und Fraktion besser zu verzahnen, das fand ich total gut.“ Auch mit dem Beschluss zur Jerusalemer Erklärung ist sie zufrieden: „Das wird sich auf unsere Praxis auswirken, weil es jetzt besser möglich wird, Solidarität gegen Repression zu organisieren.“Während die Delegierten die Heimreise antreten, ändert die mediale Rezeption des Parteitags die Richtung, nun dominiert der mit knapper Mehrheit in letzter Minute gefällte Beschluss zur JDA die Berichte. „Antisemitismus-Streit bei der Linken“ lauten die Überschriften. Ist der Parteiführung der Plan, strittige Themen nach hinten zu stellen, doch noch auf die Füße gefallen? Vielleicht hat die Spitze ein Anliegen eines großen Teils der Mitgliedschaft schlicht unterschätzt. Der Ordnungsappell von oben scheint bei vielen als Ausweis von Gleichgültigkeit angekommen zu sein.Wünsche und Hoffnungen können enttäuscht werden. Zumindest die von Bella, Lilly und Jo-Ann gehen dann aber noch in Erfüllung. Nach einigen Stunden Warten kriegen sie das, was sie sich an diesem Abend von der Linken am meisten gewünscht haben: ihr Selfie mit Heidi.



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Von Veritatis

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