Seit dem vergangenen Wochenende tobt, so könnte man meinen, erneut eine Debatte um das Verhältnis der Linken, vor allem der Partei Die Linkezum Antisemitismus sowie daran anknüpfend zu Jüdinnen und Juden in Deutschland. Auslöser war die äußerst knappe Entscheidung zum Ende des Bundesparteitags vom vergangenen Wochenende, sich der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (JDA) als richtungsweisendes Fundament für die künftige Beschäftigung mit Antisemitismus anzuschließen. Diese Definition von Antisemitismus wurde von renommierten, mehrheitlich jüdischen und israelischen Expert*innen der Antisemitismus- und der Holocaustforschung in Israel, Deutschland, den USA entwickelt.
Vorneweg: Auch ich, der sich auch aus unterschiedlichen Positionen heraus einige Jahre mit der Thematik beschäftigt hat, halte die JDA für die bessere, präzisere, geeignetere Rahmensetzung, um Antisemitismus zu erkennen und begrüße daher grundsätzlich, wenn diese Definition offiziell von Seiten der Partei anerkannt wird. Gleichzeitig müssen wir uns klar sein, dass Antisemitismus zu erkennen nicht nur mithilfe von Definitionen und Kriterien möglich ist. Es ist eine universelle Haltungsfrage, die eng verwoben ist mit dem Erkennen jedweder Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.
Eine aufmerksamkeitsökonomisch getriebene Schlammschlacht
Wie – leider – zu erwarten war, löste die Entscheidung für die JDA eher eine aufmerksamkeitsökonomisch getriebene diskursive Schlammschlacht, denn eine auf gegenseitiges Zuhören und Erkenntnisgewinn orientierte Debatte zu diesem für die gesellschaftliche und politische Linke essenziellen politischen Thema aus. Das liegt unter anderem daran, dass sowohl der Kontext dieser Entscheidung als auch der Großteil der seitdem wahrnehmbaren Reaktionen sich zuvorderst auf die Konsequenzen dieser Entscheidung für die künftige Positionierung der Linken zu Israel und Palästina beziehen.
So schrieb etwa der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, in einem kürzlich erschienenen Gastbeitrag für diese Zeitung unter anderem:
„So machen besonders die Aussparung der Negierung des Existenzrechts Israels sowie Shoah-Relativierung in Form von Gleichsetzungen Israels mit dem NS-Staat die JDA unbrauchbar. Auch der Hamas-Slogan ,From the River to the Sea‘ wird auf einmal zur Diskussion gestellt – von der BDS-Bewegung, die zum Boykott gegen alles Israelische aufruft, möchte ich gar nicht anfangen. Indem sich die Partei Die Linke nun endgültig auf diesen Pfad begibt, verlässt sie den Rahmen des breiten Spektrums jüdischen Lebens in Deutschland; sie lehnt die Lebensrealität der Juden in Deutschland ab und wir müssen uns die Frage stellen, inwieweit die Linke noch dieses jüdische Leben hier in Deutschland wünscht.“
Diffamierung der einzigen lautstark antifaschistischen Partei im Bundestag
Unabhängig davon, dass solche Sätze einer Diffamierung der derzeit einzigen lautstark antifaschistischen und antirassistischen Partei im Deutschen Bundestag gleichkommen, in Zeiten, in denen mit der AfD eine gesichert rechtsextreme Partei mit verharmlosenden und relativierenden Deutungen des Holocaust die zweitstärkste Fraktion im Bundestag stellt. Unabhängig davon, dass solche Sätze auch noch inhaltlich bewusst falsche Angaben machen, da die JDA es als antisemitisch bezeichnet, Jüdinnen und Juden im Staat Israel das Recht abzusprechen, sich kollektiv und individuell zu verwirklichen.
Unabhängig davon, dass die JDA sich zudem deutlich gegen die antisemitische Verharmlosung oder Leugnung des Holocaust positioniert, sehen wir, wie sich vor allem seit Oktober 2023 der Kampf gegen Antisemitismus zu einem politischen Schlachtfeld entwickelt hat. Ein Schlachtfeld, das weniger mit Antisemitismus als zu bekämpfendem gesellschaftlichen Phänomen in all seinen Ursprungsformen und historischen Spezifika zu tun hat, als vielmehr mit dem Deutungskampf um die Haltung zu Israel und Palästina.
Linke oft politisch in einer Minderheitenposition
Dabei ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die Linke oft politisch in einer Minderheitenposition steht – und das auch in Bezug auf die politischen Haltungen vieler gesellschaftlicher Minderheiten und marginalisierter Gruppen. Dasselbe mag auch für die Jüdinnen und Juden in Deutschland zutreffen.
Daher ist einerseits die Kritik sich progressiv verstehender Jüdinnen und Juden in Deutschland (etwa jene von dem Linke-Parteimitglied Rosa Jellinek) sehr zutreffend und wichtig, die bemängeln, dass man solch komplexe Fragen nicht durch eine Abstimmung auf einem Parteitag entscheiden kann, und dass sie die Betroffenenperspektive von Jüdinnen und Juden negiert. Es muss rückblickend ganz klar als zentrales Versäumnis benannt werden, dass der Entscheidung zur Annahme der JDA keine breite Debatte mit Betroffenen, Wissenschaftler*innen und Interessensgruppen vorangegangen ist.
Wer diese breite Debatte führen will, sollte verstehen, dass es hier lange nicht mehr nur um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung über Antisemitismus geht
Wer diese breite Debatte führen will, sollte, wie die Initiator*innen der JDA sowie zahlreiche linke jüdische und israelische Aktivist*innen und Intellektuelle, verstehen, dass es hier lange nicht mehr nur um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Antisemitismus und ihrer Anwendbarkeit auf den Schutz von Jüdinnen und Juden geht. Vielmehr geht es auch um eine missbräuchlich verwendete, politische Deutungshoheit über die Situation in Israel und Palästina, die für viele Menschen, gerade zahlreiche Palästinenser*innen in Deutschland, ganz reale politische Konsequenzen hat.
Eine plurale und universalistisch ausgerichtete linke Partei muss sich zu Antisemitismus positionieren
Rhetorisch zurückgefragt: Geht es bei Schusters Art der Kommunikation, sowie bei der Verwendung der IHRA-Definition zur Einschränkung grundlegender politischer – in progressiven Kreisen Israels ganz selbstverständlicher – Debatten über eine gleichberechtigte Zukunft für alle Menschen in Israel und Palästina nicht eher um die tatsächlich sehr divers zusammengesetzte Gruppe von jüdischen Betroffenen von Antisemitismus in Deutschland?
Sollte es nicht vielmehr um die Vielschichtigkeit des historisch gewachsenen Verständnisses von Antisemitismus in all seinen Ausformungen gehen? Soll und kann sich eine plurale und universalistisch ausgerichtete linke Partei, wie sie die Linke sein möchte, angesichts einer solchen diskursiven und politischen Gemengelage, einschließlich des rapide zunehmenden Antisemitismus in Deutschland, dazu etwa nicht positionieren?
Wie also weiter? Damit sich aus dieser jetzigen Aufmerksamkeit ein tatsächlicher politischer Erkenntnisgewinn und Fortschritt entwickeln kann, sollte die jetzige Entscheidung den Startschuss geben für eine offene, vertiefte und interessierte innerparteiliche und gesellschaftlich linke Debatte. Was vorher hätte passieren sollen, muss jetzt nachgeholt werden.
Dazu sollte man sich, um sich einem breiteren Verständnis des Themas Antisemitismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen anzunähern, unter anderem mit Vertreter*innen der diversen jüdischen Communities treffen (auch außerhalb Deutschlands), mit (jüdischen) Wissenschaftler*innen, die teils jahrzehntelang zum Thema forschen und auch wirklich etwas zur deutschen, linken Debatte beitragen wollen. So erhielt ich in meiner Rolle als Leiter des Israel-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung bereits Glückwünsche von israelischen Wissenschaftler*innen, die die JDA mitentwickelt haben, sowie von linken israelischen Politiker*innen zu dieser Entscheidung der Partei.
Konstruktives Erkenntnisinteresse und Kompass universeller Menschlichkeit
Ausgangspunkt könnte die Annahme sein, dass alle Vertreter*innen der Partei ein aufrichtiges Interesse am Schutz jüdischen Lebens in Deutschland, in untrennbarer Verbindung mit konsequentem Antifaschismus und Antirassismus, und einem würdevollen Leben für alle Menschen in Israel und Palästina haben. Dabei ist klar, dass wir die Themen Antisemitismus, jüdisches Leben in Deutschland heute und die Beziehung zu Israel und Palästina nicht voneinander trennen können – wir sollten sie aber auch nicht bis zur Ununterscheidbarkeit voneinander vermischen.
Wenn wir uns dieser Debatte mit konstruktivem Erkenntnisinteresse und dem Kompass universeller Menschlichkeit annehmen, dann kann diese Debatte so inklusiv und erkenntnisorientiert sein, wie es angesichts des erstarkenden Antisemitismus nötig ist, ohne sich anderen Formen der Diskriminierung/gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zu verschließen.