Die Mailänder Fondazione Prada zeigt eine Ausstellung mit dem Titel „Typologien. Deutsche Fotografie im 20. Jahrhundert“. Wer ist natürlich mittendrin – und was bleibt ausgespart?


Isa Genzkens Aufnahmen von Ohren scheinen den Kühen in Ursula Böhmes Serie „All Ladies. Cows in Europe“ zugewandt

Foto: Roberto Marossi/Courtesy Fondazione Prada


An einem warmen Sommertag im Jahr 1728 wurde der schwedische Naturforscher Carl von Linné, damals noch ein junger Medizinstudent, von einem mikroskopisch kleinen Tier gebissen – nur wenige „Linien“ lang, nicht dicker als ein Haar, dabei jedoch selbst haarig: der sogenannten Furia infernalis, der Höllenfurie. Die Wunde entzündete sich so stark, dass Linné beinahe daran starb. Das kleine Tier jedoch brannte sich so sehr in sein Gedächtnis ein, dass er es Jahre später in seinem Werk Systema Naturae beschrieb und klassifizierte. Linnés Systematik gilt bis heute als einer der Grundsteine der modernen zoologischen Nomenklatur – der Benennung der Lebewesen und ihrer Einteilung in „Naturreiche“. Die tatsächliche Existenz d

28;chliche Existenz der Höllenfurie hingegen gilt bis heute als höchst unwahrscheinlich.Mit der unter anderem durch Linné begründeten Systematik der Natur begann im 18. Jahrhundert die kleinteilige Einteilung der lebendigen Welt – mit der Erfindung der Fotografie knapp hundert Jahre später wurde sie dokumentiert. Kaum eine Fotoserie steht dafür so exemplarisch wie Karl Blossfeldts (1865 – 1935) Urformen der Kunst: photographische Pflanzenbilder. (Dass der Bildhauer Blossfeldt botanisch meist gar nicht so genau wusste, was er da eigentlich auf seinen Bildvorlagen fotografierte, sei hier nur eine Randnotiz.) Es ist also nur konsequent, dass genau diese Serie voll skulpturaler Flora – mit ihren gekringelten Farnblättern, fraktalen Disteln und architektonischen Schachtelhalmgewächsen – die aktuelle Ausstellung Typologien. Deutsche Fotografie im 20. Jahrhundert ausgerechnet in der Mailänder Fondazione Prada eröffnet.Kaum ein Ort könnte passender sein als die Stiftung der Modemarke, die selbst für die strengen Entwürfe ihrer Chefdesignerin Miuccia Prada, für ihre durchdeklinierten Kollektionen und den starken Hang zur Uniform bekannt ist.Der angeblich teuerste lebende Maler der Welt darf nicht fehlenWeiße Zwischenwände hängen von der Muschelkalkdecke des Ausstellungsraums und strukturieren so die ordentlich gehängten Werke. Ein bisschen Kunstmesse, ein bisschen Dorfgemeinschaftsraum kommt einem bei der konservativen Hängung in den Sinn – und unterstreicht damit passenderweise das Beklemmende, das Verklemmte der Bildstrecken, indem es dem eigentlich spektakulären Gebäude aus der Hand von Rem Koolhaas’ Architekturbüro OMA die Freiheit nimmt.Mittendrin hängt natürlich Gerhard Richter. Obwohl man beim angeblich teuersten lebenden Maler der Welt nicht unbedingt an deutsche Fotografie denkt, darf er natürlich nicht fehlen. Hier sitzt er nun gleich persönlich im Hauptraum der Ausstellung auf einem Ledersessel von Ray und Charles Eames – ihrem ikonischen Lounge Chair, dem Möbelstück gewordenen westlichen Patriarchat. Der Sohn auf dem Schoß, die Ehefrau mit der Tochter gespiegelt auf dem zugehörigen Ottomanen. Es ist ein fantastisches Foto, das sein Schüler Thomas Struth viele Jahre nach seinem Studium – das er beim Düsseldorfer Professorenpaar Hilla und Bernd Becher beendete – im Jahr 2002 aufnahm. In einem legendären Stück Kunstkritik beschrieb die amerikanische Autorin Janet Malcolm es im New Yorker einst als „ein wunderschön komponiertes Bild von vier Menschen, deren Körper starr vor Anspannung sind und deren starre Gesichter verschiedene Arten von Feindseligkeit illustrieren“.Wie in Linnés taxonomischen Studien sind auch in dieser überaus systematischen Ausstellung die Beziehungen zwischen den Positionen verbunden. Struths Portrait of the Richter Family kann dabei als eine Art zentraler Knotenpunkt der Ausstellung interpretiert werden. Es ist nicht die einzige Arbeit eines Becher-Schülers, die hier hängt – auch Candida Höfer, Andreas Gursky und Thomas Ruff sind mit Werken vertreten, selbstverständlich auch die berühmten Abwicklungen großer Industriebauten, deren Dokumentation die Bechers selbst ihr gesamtes Leben widmeten.Placeholder image-1Ebenso finden sich die Aufnahmen mehrerer Ohren von Richters ehemaliger Partnerin Isa Genzken sowie Arbeiten von Gerhard Richter selbst, der ab den 1960er Jahren eine lose Sammlung von Fotografien – die er zu Studienzwecken oder als Modelle aufnahm –, von Zeitungsartikeln und Collagen anlegte. Ich habe das gemacht wie ein privates Fotoalbum lautet der Titel des Atlas, in dem er sie ab 1972 in gerahmten Tafeln präsentierte. Zwischen Sonnenuntergängen und Blumensträußen, Familien- und Urlaubsfotos, pornografischen Bildern, dem Rhein (natürlich), Meer, Wolken und Alpen finden sich dort in irritierender Gleichwertigkeit auch Bilder der RAF sowie Fotos der Körper der ermordeten Menschen in Auschwitz und anderen NS-Konzentrationslagern.Es ist der visuell einzige Verweis auf den deutschen Faschismus, der in der von Susanne Pfeffer – der Direktorin des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt am Main – kuratierten Ausstellung hängt. In Richters Atlas löst sich auf verstörende Art die Singularität der Ermordeten auf. Die Leichen reihen sich ein in den deutschen (Nachkriegs-) Alltag, in die deutsche Landschaft – und betonen gerade dadurch die Singularität des deutschen Schreckens, des Holocaust.Die historische Kontextualisierung kommt zu kurzWährend Blossfeldt und August Sander das 20. Jahrhundert in der Ausstellung einleiten, bleibt die Zeit der 1930er und 1940er Jahre unbespielt. Dies macht Sinn – pervertierten doch insbesondere die Nazis in ihren Rassenlehren die systematische Kategorisierung von Menschen. Ein paar mehr als die wenigen Sätze im Ausstellungstext und -katalog (in der deutschesten aller typischen Designs mit Suhrkamp-Times-Black-Font) hätten es jedoch zum Zusammenhang von Wissenschaft, Systematik, Faschismus und Kolonialismus ruhig sein dürfen.Doch es ist nicht nur die Kontextualisierung der Vergangenheit, die etwas zu kurz kommt. Auch der Zusammenhang von visuellen Kategorisierungen und Algorithmen, von Datenbanken und künstlicher Intelligenz, von all diesen Werken als Vorläufern und Kommentaren zu einer noch ungewissen Zukunft, wird kaum erwähnt. Dafür konzentriert sich die Ausstellung auf die Qualität der einzelnen Serien – und die ist unbestreitbar hervorragend und errichtet mit ihren Querverweisen untereinander eine ganz eigene Taxonomie der Fotografie – inklusive fiktiver Höllenfurien in Form von Sigmar Polkes Palmen.Steht man vor den Schwarz-Weiß-Aufnahmen des zeitweiligen Freundes und Künstlerpartners Richters, kann man sich dem subtilen Humor inmitten dieser höchst ernsten Ausstellung kaum entziehen: Handschuhe, Gläsertürme, Luftballons. Die Palmen, sie entstehen im Kopf – und sprengen so subtil die starren Grenzen des Genres. Es bleibt zu hoffen, dass sich Polkes subversive Furia infernalis noch viele Jahrhunderte in der Systematik der ach so deutschen Fotografie hält.



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Von Veritatis

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