Es gelangt immer noch kaum Hilfe nach Gaza. Die Freunde unserer Autorin hoffen, dass sie es schafft, ihnen dringend benötigte Hilfsgüter mitzubringen


Eine ledierte israelische Fahne an der Grenze

Foto: Miriam Sachs


Die Richter des internationalen Gerichtshofes in Den Haag haben ein Urteil gefällt und der Klage gegen Premier Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joaw Galant stattgegeben. Das Urteil Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist auch begründet mit dem mutwilligen Aushungern der Zivilbevölkerung, der Zerstörung landwirtschaftlicher Flächen, dem Entzug lebensnotwendiger Versorgung. Von gezielter Tötung von Zivilisten ist die Rede – prompt denke ich an den achtjährigen Sohn meiner Freunde Deeb und Rula in Gaza, den eine Drohne ins Visier nahm.

Er wurde nicht getötet, aber ist seitdem querschnittsgelähmt. Um Fälle wie diesen kann es in der Klageschrift jedoch gar nicht gehen. Nach Artikel 7 im Rom-Statut müsse

müssen die Handlungen im Rahmen eines „ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung“ und in Kenntnis dieses Angriffs begangen worden sein. Dennoch ist der Haftbefehl gegen Netanjahu irgendwie ein Trost, wenn ich an den Jungen denke. Meinen Freunden in Gaza hilft das einstweilen nichts, dennoch denke ich: „In Israel festsitzen … geschieht ihm recht!“ Warum?***Ich bin entlang der Grenze zum Gazastreifen unterwegs, es ist Oktober. Die Hoffnung auf ein Interview mit den Koordinatoren der NGO Handicap International (HI), hat sich zerschlagen, kurz bevor ich zur Grenze fahre. Längst hat man mir nahegelegt zurückzufliegen, es ist die Zeit der iranischen Raketen auf Israel, der israelischen Bomben auf den Libanon. Aber weder gehen Flüge, noch habe ich die Interviews geführt, die mir wichtig sind, etwa mit den Fahrern, die ihr Leben riskieren, um Hilfsgüter über die Grenze zu bringen.Meine Freunde in Gaza hoffen, dass ich einreise – mit einem Koffer voll mit UnterstützungDie humanitäre Lage ist desaströs. Schon als ich Fotos vom Blick auf Gaza von der Grenzstadt Sderot aus gepostet hatte, dachten meine Freunde im Gazastreifen, ich käme nun bald und brächte einen vollen Koffer mit „stuff“. Dabei ist eigentlich klar: Da ist kein Anlass zur Hoffnung. Trotzdem schlägt sie mir in den Mails aus Gaza entgegen, egal wie oft ich schreibe, dass es nicht funktionieren wird. Keiner darf einreisen, Journalisten schon gar nicht, nein, auch nicht an der Seite einer Hilfsorganisation! Die NGOs dürfen nicht einmal alle ihre eigenen Leute mitnehmen; nur die „Skeleton crew“, wenn überhaupt der Grenzübergang Kerem Shalom ausnahmsweise für kurze Zeit geöffnet ist. „Skeleton Crew“, Notfall Besetzung – klingt auf Englisch noch gruseliger als auf Deutsch. Für die Leute in Gaza ist die Hoffnung auf einen rosa Koffer voller … Hoffnung im Zweifelsfalle wichtiger als sich meine Rechtfertigungen anzuhören, warum es nicht klappen kann. „Denk nicht mal dran!“, sagt R, der mich für ein kleines Honorar und Benzingeld zum südlichsten Punkt in Israel fährt, dem Grenzübergang Kerem Shalom. „Ich weiß, dass es nicht geht!“ – aber Nicht-Dran-Denken geht auch nicht. „I know …“, schrieb auch Deeb via Facebook. Dennoch träume er von einem nahenden Koffer voller Medizin, Verbandsmaterial, Badelatschen, Seife, Schokolade, Vitamine, „… und Tabak.“„Badelatschen?“ „Yes!“ Er will es nicht im Detail beschreiben, nennt es „eine Hygienesache“. Assoziation: matschige Wege „in ein Extra-Zelt mit Donnerbalken“, wo alle in ein gegrabenes Loch „aufs Klo gehen“, und wieder zurück ins eigene Zelt.Ich fahre nun also ohne Interview-Termin zur Grenze. Meine Reise folgt immer mehr dem Prinzip der Heisenbergschen Unschärferelation: Entweder weiß ich nicht, wo ich bin, erfasse aber die Dynamik, die mich weiterbringt, oder ich weiß, wo ich stehe, verliere aber mein „Ziel“. Auch ich sitze in Israel fest. Nach Gaza kann ich nicht. Zurück nach Deutschland will ich nicht.Erstmals leiste ich mir einen Fahrer, Teilzeit-Botschafts-Security-Mann, jetzt Organisator und Vor-Ort-Kontakt für ausländische Journalisten, einer der seine eigenen Quellen hat, um zu koordinieren. Wenn wir Glück hätten, träfen wir „Tzav Tisha people“. „Wen?“ Die radikale Organisation, die Hilfsgüter-Trucks angreift.Ich denke: wenn wir Glück haben, treffen wir Trucks.Die Grenze zu Gaza: Kerem Shalom„Wir haben Glück! Es gibt Trucks!“Der sehr leere Parkplatz am Grenzübergang Kerem Shalom. Der südlichste Punkt zwischen Israel und dem Gazastreifen. Jenseits des Areals Metallgitter, Drahtzäune, eine Grenzanlage. Dahinter ein kleiner Hügel, auf dem die israelische Fahne lädiert vor sich hin weht. Und linker Hand ebenfalls Zäune. Ägypten? Ein drahtiges Zwei-Bis-Drei-Ländereck, Zaun an Zaun. Den Parkplatz kennt man von Fotos, die meist Warteschlangen von Hilfs-Konvois zeigen. Ich sehe nur zwei LKWs am Rande, einer weiß, der andere grün, keine Fahrer am Steuer. „Vielleicht schlafen sie“, sagt R. Man könnte an die Kabinen klopfen, aber Hilfstruck-Fahrer aus dem Schlaf reißen, kommt mir sehr unhöflich vor. Auch schwer vorstellbar, dass jemand im LKW ist, alles wirkt so ausgestorben. Noch mehr im Abseits: die Randerscheinung eines derangierten Trucks.Immer wieder werden LKWs überfallen von radikalen Mitgliedern der Organisation Tsav 9. (Der Name „Order 9“ spielt auf die Notfallorder 8 an, die am 7. Oktober in Kraft trat, als das Massaker der Hamas Israel in den Ausnahmezustand versetzte). Dass bei diesen Gewaltakten auch neun UNRWA-Mitarbeiter beteiligt waren, ist erwiesen. Und aus Sicht der Betroffenen ist die Pars-Pro-Toto-Logik vielleicht noch nachfühlbar. Sie steht dennoch in keiner Relation zu den Millionen Menschen, die unter der radikalen Konsequenz zu leiden haben – des Arbeitsverbots für UNRWA in Israel. Wäre der Umkehrschluss: dann müssten alle Menschen in Israel verantwortlich sein für „Bibis Politik“, vor dem Gerichtshof in Den Haag Mit-Angeklagte?Der feine Unterschied zwischen Terroristen und ganz normalen MenschenDie Organisation Tsav 9 umfasste bei der Gründung 40 Mitglieder, jetzt sind es 400: religiöse Extremisten, zionistische Siedler – und Angehörige von Opfern des 7. Oktober. Auf sie ging die Initiative zurück: Mütter von gefallenen IDF-Soldaten; Familienangehörige von Geiseln, die in Gaza immer noch in der Hand der Hamas sind und die anders als die meisten der Geiselfamilien nicht Verhandlungen fordern, sondern ein konsequentes Aushungern der Hamas. Der Hamas oder der Bevölkerung in Gaza? Immer wieder hört man es in Israel: Das sei ja wohl mehr oder weniger dasselbe.Die Haltung, alle Menschen in Gaza seien Terroristen, ist weit verbreitet im Land. Wer an diese schwarz-weiß-Legende glaubt, hat es leichter, die Forderung „keinen einzigen Krümel Brot“ über die Grenze zu lassen, nicht zu hinterfragen. Die Vorstellung, dass religiöse Radikale, die das Gebot „Du sollst nicht töten“ anführen als Grund, keinen Militärdienst zu leisten, Hilfstrucks und deren Fahrer angreifen und Lebensmittel zerstören, damit alle verhungern, macht mich sprachlos.R. sagt: „Das sind nicht dieselben Religiösen! Nicht die, die du aus Jerusalem kennst in weißen Hemden, schwarzen Mänteln und zu großen Hüten. Das hier sind messianische Zionisten, die sich darauf berufen: In der Tora stehe zwar, dass man nicht morden dürfe, aber jemanden töten, bevor der einen selber töte, schon.“ Der Rest ist Projektion. Auch Verräter des eigenen Glaubens, die das von Gott versprochene Territorium des „gelobten Landes“ den Palästinensern zusprechen, fielen unter das „ausnahmsweise-doch-Töten.“ Von der ultrarechten Regierungskoalition geduldet und von Grenzsoldaten eher ermahnt als abgehalten, genießt Tsav 9 mehr oder weniger Narrenfreiheit. Klassische Orthodoxe dagegen hätten oft Vorbehalte gegen den Zionismus, einige hielten sogar die Staatsgründung Israels für falsch, denn nur der Messias dürfe einen Staat Israel ausrufen. Während jedoch die einen an eine friedliche Koexistenz mit den übrigen Nationen glauben und daran, dass erst der Frieden den Messias auf den Plan rufen werde, glauben die anderen, man müsse zur Gewalt greifen. Allen voran die berüchtigte Hilltop-Jugend.Die Hilltop-JugendNetanjahus Vorgänger Ariel Sharon, 1998 israelischer Verteidigungsminister, rief vier Jahre, nachdem die Westbank palästinensischer Verwaltung übergeben worden war, dazu auf, jeder solle sich in Bewegung setzen, „run and grab as many [Palestinian] hilltops“ wie möglich, um vollendete Tatsachen zu schaffen in Sachen jüdischer Besiedlung, denn „alles, was wir jetzt nehmen, bleibt unser, alles was nicht, bleibt bei denen“.Jugendliche brachen ihre Schulausbildung ab und folgten dem Aufruf. Zunächst als Aussteiger-Rabauken auf der Suche nach Identität angesehen, wurde die nicht hierarchisch, wenig organisierte Hilltop-Jugend-Bewegung bald zu gewaltbereiten Gruppen religiöser Fanatiker und als terroristisch eingestuft. Der rechtsradikale Minister für Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, entstammt der Hilltop-Jugend, fördert und begrüßt deren Aktivitäten. Die Notwendigkeit, sich das von Gott versprochene Land zu nehmen, ohne die sich alle weiteren Prophezeiungen nicht erfüllen können, rechtfertige angeblich nicht nur Steine-Schmeißen und Zerstörung von palästinensischem Eigentum, sondern auch Tötung und Mord.Alia backt Brot aus HundetrockenfutterImmer noch sehe ich mich um die Trucks herumschleichen, die Plane des grünen LKW erwies sich als abstraktes Gemüsemotiv. Ein Riss klafft. Fahrzeuge mit dem Namen der Hilfsorganisationen darauf würde man nicht finden, sagt R. Ein „UN“ Logo beispielsweise würde Anschläge noch mehr auf sich ziehen.Placeholder image-1In Ermangelung echter Menschen vor Ort google ich mir die Leute, die solche und schlimmere Dinge tun, etwas später im Internet zusammen: Die wild schläfengelockten religiösen Radikalen in T-Shirts oder Öko-Look, mutmaßliche Hilltops grinsen eher entrückt und schweigen, einige singen, Girls posieren. Die Frauen mit den Geisel-Reminder-Portraits sind voller persönlicher Wut. Und vielleicht nicht weniger fassungslos als ich: Ihren Hass auf die Hamas kann ich nachvollziehen. Er wäre ein kleinster gemeinsamer Nenner, könnte man sich nur darauf einigen, wer genau „die Hamas“ ist! Wären die Frauen überhaupt in der Lage zuzuhören, wenn ich ihnen sagte: meine Freundin Alia im Norden Gazas jedenfalls nicht! Alia, ebenfalls Mutter, deren mittlerweile zwei Jahre altes jüngstes Kind nicht laufen kann, auf Grund der Mangelernährung. Die sich schämt, weil sie manchmal Brot aus Hundetrockenfutter zu backen versucht, weint, wenn die Kinder es nicht essen wollen, und noch mehr weint, wenn’s der Hunger dann doch reintreibt.Ich gehe über den Platz auf das Grenzhäuschen zu. Linkerhand Ägypten, geradeaus das „in between“, in dem das israelische Militär sonst die Trucks der Hilfsorganisationen durchsucht. Unsichtbar rechts dahinter vermutlich die Grenze zu Gaza, nicht nur unerreichbar, sondern auch unsichtbar.R. findet es „crazy“ zum geschlossenen Grenzhäuschen zu gehen. Drehkreuze wie im Schwimmbad. Eine Kamera surrt. Ich gehe zurück über den leeren Platz. Nichts fällt einem ins Auge außer überfahrene Arbeitshandschuhe, eine plattgedrückte Sardinendose und Holzpaletten-Reste. „I told you so, it’s closed“, sagt R.„Yes. And I prooved it.“Nachts Facebook-Chat mit Alia.Es kommt wirklich kein Essen nach Nord-Gaza. Weil die Hamas es nimmt? Oder Kriegsgewinnler-Gangs? Oder weil nichts über die Grenze kommt?Sie weiß es nicht. Sie weiß nur: Eine Flasche Milch kostet 200 Schekel. Das sind rund 50 Euro.



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Von Veritatis

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