„Große Abneigung, nachmittags noch etwas zu tun“: Mit Tweets wie diesem aus Thomas Manns Tagebüchern erreichte Felix Lindner 30.000 Follower. Ein Gespräch über den Mythos vom disziplinierten Schriftsteller und die Relevanz von Darmwinden
Thomas Mann 1946 in Los Angeles, im Hintergrund Tochter Elisabeth
Foto: ETH-Bibliothek Zürich/Thomas-Mann-Archiv
Felix Lindner startete 2022 den Twitteraccount Thomas Mann Daily, auf dem er passend zum jeweiligen Datum Sätze aus den Tagebüchern von Thomas Mann veröffentlichte. Man las dort von Zerwürfnissen mit dem Pudel, Verdauungsproblemen und vertrödelten Nachmittagen. 30.000 Follower erreichte @DailyMann, 365 ausgewählte Zitate sind in dem Band Mit Thomas Mann durch das Jahr (S. Fischer) erschienen.
der Freitag: „Gab zu wenig Trinkgeld“, schrieb Thomas Mann vor 76 Jahren in sein Tagebuch. Wer kennt das nicht? Nur würden die wenigsten es in ihrem Tagebuch festhalten, so banal ist es. Aber genau das macht der Nobelpreisträger Thomas Mann.
Felix Lindner: Man muss zwei Funktionen der Tagebücher für Thomas Mann unterscheiden. Das eine nannte
Felix Lindner: Man muss zwei Funktionen der Tagebücher für Thomas Mann unterscheiden. Das eine nannte er die Tagesrechenschaften, eine Art reinigendes Ritual, das er an sich vollführt hat. Da kann es dann passieren, dass solche Allterweltssätze drinstehen. Was sie so identifikatorisch macht, ist sicher auch die Kürze, die man von Thomas Mann nicht erwartet. Eine andere Funktion, die mich mehr interessiert, ist die schreibende Beobachtung des Schreibens.Bei den erfolgreichsten Tweets ging es ums Nichtstun. „Große Abneigung, nachmittags noch irgend etwas zu tun.“ Oder „Nachmittags wieder einmal geschlafen.“Der Account war auch als kollektive Entspannungsübung intendiert. Die Erleichterung in den Reaktionen resultiert natürlich aus der PR von Thomas Mann, die er zeitlebens selbst betrieben hat. Es gab Interviews, Homestorys, man ging mit ihm spazieren, und immer hieß es: Kein Alkohol, keine Zigaretten beim Schreiben. Jeden Tag von 9 bis 12. Warum dieses Bild überlebt hat, ist noch mal eine andere Frage. Ich glaube, es hat unter anderem mit der irrationalen Verwandtschaft zu tun, die die Deutschen zu Thomas Mann spüren. Der große disziplinierte Mann am Schreibtisch, der Heimarbeiter, der Kunst nicht erratisch schafft, sondern wie ein Bildhauer ist, der jeden Tag am Werk feilt. Da gab und gibt es viel Identifikation.In den Zitaten geht es häufig um seinen disziplinlosen Verdauungsapparat, um Blähungen, „Darmwinde“ und Rektalentzündungen.Das Körperliche ist ja zentral in den Tagebüchern. Mich hat interessiert, wie schreibende Männer ihren Körper in Verbindung mit ihrem Schreiben bringen. Wichtig ist dabei zu bedenken, dass die Körperlichkeit nichts Intimes für diese Männer ist, da ist Thomas Mann nur einer in einer Reihe von Schriftstellern.Für wen gilt das noch?Im Grunde für alle, die man so kennt. Robert Musil, Heimito von Doderer, Franz Kafka zum Beispiel. Natürlich habe ich eine Dokumentationslücke, da viele Tagebücher und Notizhefte von unbekannteren Schriftstellern entweder schwer zugänglich oder nicht überliefert sind. Man darf sich diese Körperlichkeit nicht als etwas Persönliches vorstellen. Interessant ist, dass das Ich fehlt. Bei Thomas Mann heißt es nicht „Ich habe schlecht geschlafen“, sondern „schlechter Schlaf“. Diese Zurücknahme des Ichs zieht sich durch, die Vorstellung vom Körper als Literaturproduktionsapparat. Es geht darum, wie er sein Schreiben beobachtet, und wenn er über das Schreiben schreibt, denkt er an seinen Körper, er kann gar nicht anders.Weil der Körper zwischen ihm und dem Schreiben steht?Das ist eine Obsession von männlichen Schriftstellern.Gab es Sätze, bei denen Sie Skrupel hatten, sie so isoliert auszustellen? Sätze wie „Hosenträger in die Zahnschale gefallen“ oder „Verlor die Watte aus dem rechten Ohr“.Ich weiß, dass mir oft Amoralität vorgeworfen wurde, weil ich den Kontext nicht mitgeliefert habe. Es gab Sachen, die habe ich nicht auf Twitter veröffentlicht, weil ich sie selbst ohne Kontext seltsam fand. Im Buch hatte ich die Chance, ihn im Nachwort zu erklären, und habe andere reingenommen. Sätze wie: „Morgens Vollerektion, was schon lange nicht mehr vorkam.“ Es gibt in den Tagebucheinträgen eine gewisse Binnenhierarchie. Die größte Störung, die Thomas Mann an einem Tag hat, steht immer an erster Stelle. Die geschlechtliche Störung schlägt dabei jede andere, sei es das Wetter, sei es der Pudel, seien es die Kinder. Da geht es nicht so sehr um Sexualität an sich, sondern darum, inwiefern diese Störung ihn am Schreiben hindern könnte. Schreibende Männer in Thomas Manns jüngeren Tagen stellten sich ihren Körper wie ein Energiereservoir vor. Man dachte, dass man ein gewisses Gleichgewicht in der Körperhydraulik bräuchte, um ausdauernd und diszipliniert zu schreiben. Thomas Mann glaubt noch in den 1950ern daran, dabei ist es eher ein Phantasma unter jungen Männern in den 1910ern und 20ern.Als Sie vor zwei Jahren der „Welt“ ein Interview gaben, las man darunter viele erboste Kommentare.Einer bezeichnete mich als spätbürgerlichen Ikonoklasten, das fand ich toll. Es gibt ein Nichtwahrhabenwollen, dass Thomas Mann nicht der Ausnahmemensch war. Bei Lesungen merke ich, dass bei manchen da regelrecht etwas bricht. Mir geht es darum, Leuten auf eine freundliche Art zu verstehen zu geben, wie Literaturproduktion vor sich geht. Mit der Pandemie ging es los, dass Schriftsteller – männliche vor allem – zu Role Models für disziplinierte Tagesgestaltung wurden. Es erschienen Bücher dazu, im Feuilleton hieß es „Wie Sie jetzt wie Kafka arbeiten können“, oder Sartre und Kafka wurden wie Automodelle verglichen. Auf einmal waren das die Helden der Arbeit. Das kam einerseits sicher aus dem Wunsch in der neuen Arbeitskultur nach Vorbildern, die es fürs Homeoffice nicht gab. Andererseits eignet es sich bestens für Arbeitgeberpropaganda. Arbeite doch wie Thomas Mann – der ein Heer von Haushälterinnen und Frauen um sich hatte, die dafür sorgten, dass er jeden Tag seine Routine hatte.Felix Lindner ist Dokotorand an der Humboldt Uni und arbeitet als Lektor bei Zeit Online. Auf X und Bluesky findet man ihn unter @focusabonnent, auf Instagram als @schuhbecks_gewuerze