Vor 150 Jahren kam Thomas Mann auf die Welt. Und im Jubiläumsjahr fällt auf: Konservative und Linke, Demokraten und Reaktionäre – alle scheinen ihn zu lieben. Wie der queere, antifaschistische Großbürger zu Everybody’s Darling wurde
Thomas Mann trägt einen beigen Zweireiher und Hut. In der einen Hand hält er ein Buch, die andere ist auf den Stock gestützt. Er hat den charakteristischen Oberlippenbart – und ist siebeneinhalb Zentimeter groß. Zum 150. Geburtstag kommt er ganz klein daher – als freundliche Playmobilfigur mit rundlichem Kopf. Doch in der Verzwergung steckt die Größe: Diese Ehre ist bisher nur zwei weiteren Schriftstellern zuteilgeworden. Der Spielzeug-Kanon der deutschen Literatur lautet also, Stand 2025: Goethe, Schiller, Mann.
Klar, ein Marketing-Gag zum Jubiläumsjahr. Doch schon seit ein paar Jahren geistert in Bezug auf Thomas Mann die Formulierung „größter deutscher Schriftsteller des 20. Jahrhunderts“ durch die Feuilletons. Man m
ahren geistert in Bezug auf Thomas Mann die Formulierung „größter deutscher Schriftsteller des 20. Jahrhunderts“ durch die Feuilletons. Man möchte sich mindestens am Kopfe kratzen: War das nicht Kafka? Gut, der ist „nur“ deutschsprachig. Aber klopft da gerade Günter Grass gegen den Sargdeckel, um sich in eigener Sache zu beschweren?Placeholder image-6Derlei Superlative sind immer Unsinn, nicht zuletzt, weil es keine „deutsche“ Literatur im Sinne nationaler Grenzen gibt. Aber die Popularität Thomas Manns im Jubiläumsjahr ist auffällig und nicht nur mit dem üblichen Betriebsgeklappere zur Förderung des Absatzes zu erklären. Vielmehr kann man der Verfertigung eines Nationaldichters in Echtzeit zusehen.Rückblick zum Februar: Der designierte Kulturstaatsminister Wolfram Weimer muss seine demokratische Gesinnung unter Beweis stellen und findet im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur die etwas kuriose Formulierung: „Die liberale, weltoffene Demokratie ist mein Gehäuse.“ Und fügt an: Wenn die Demokratie zu verteidigen ist, solle man aber auch „nicht jeden in die rechte Ecke stellen, der lieber Thomas Mann als Bert Brecht liest“.Thomas Mann, eine Ikone der (demokratischen) Rechten? Dabei hatte doch gerade erst die Zeit, das Hausblatt des Linksliberalismus, den „Zauberer“ Thomas Mann auf dem Titel. Doch Moment mal: Auch die rechtsextreme Postille Sezession hat ihn im April getitelt. Konservative und Linke, Demokraten und Reaktionäre – auf Thomas Mann, so scheint es, können sich alle einigen. Ein intellektueller „people pleaser“?150 Jahre Thomas Mann: Den Vergleich mit Goethe oder Kafka muss er nicht scheuenIn der Zeit sah Adam Soboczynski den Grund für Thomas Manns anhaltende Popularität – neben der Faszination für die Biografie – vor allem in der Literatur. Diese sei „der eigentliche Grund für die andauernde Beschäftigung mit Mann“. Sicher, Thomas Mann hat große Literatur erschaffen. Die Buddenbrooks stehen bis heute wie ein Monument im stets beliebten Genre der Familienromane. Und der Zauberberg wird seit der Pandemie und vor dem kriegerischen Hintergrund der Zeit mit Recht als hochaktueller Roman gepriesen.Manns Umgang mit der deutschen Sprache ist von unvergleichlicher Eleganz und Präzision; seine Fähigkeit, mit Ironie, ohne Zynismus, aber auch mit nur selten in Pathos kippendem Ernst mal kurze, mal ausufernde, aber immer packende Geschichten zu verfassen, ist beispiellos. Und tatsächlich wird Thomas Mann nach wie vor – oder wieder? – viel gelesen, im Gegensatz zu vielen anderen Klassikern.Bis heute arbeiten sich Schriftsteller an ihm ab – von Christian Krachts Faserland, an dessen Ende die Suche nach Thomas Manns Grab steht, bis zu Heinz Strunks Zauberberg 2. Auch im nicht-deutschsprachigen Ausland hält die Beschäftigung an, zum Beispiel in Olga Tokarczuks Empusion. Nein, den Vergleich mit Goethe oder Kafka muss Thomas Mann wahrlich nicht scheuen.Das ist ja ein leidender Mensch! Und schwul obendrein!Marcel Reich-Ranicki, Aber Hand aufs Herz: Gute Schriftsteller gibt es viele, gute Schriftstellerinnen auch (Ingeborg Bachmann! Christa Wolf! Elfriede Jelinek!) – da gäbe es einige zu lesen, zu ehren und zu Playmobilfiguren zu verarbeiten. Nein, die Gründe für Thomas Manns Popularität müssen über die Literatur und den Familienmythos hinausgehen.Vor allem aber ist sie ein recht junges Phänomen. Bis weit in die 1970er hinein war Thomas Mann in der Bundesrepublik geradezu verpönt, als wirkte das Verdikt der Nazis nach. In der Zeitung Das schwarze Korps hatte ein anonymer Autor am 29. Juli 1937 verkündet: „Herrn Thomas Mann, seit 1933 jenseits der Grenzen befindlich, wurde jüngst die deutsche Staatsangehörigkeit abgesprochen. Er gilt damit für uns in gewisser Hinsicht als verstorben.“Placeholder image-8Zunächst schätzte man nach dem Krieg noch die Literatur, verzieh ihm aber den dezidierten Antifaschismus nicht, der die Bombardierung deutscher Städte als gerechte Konsequenz der deutschen Barbarei ansah. Als Thomas Mann 1949 erstmals wieder nach Deutschland reiste, um Goethe zum 200. Geburtstag die Ehre zu erweisen, setzte er sich zwischen alle Stühle. Er ging nach Frankfurt und Weimar und erklärte: „Ich kenne keine Zonen. Mein Besuch gilt Deutschland selbst.“In Frankfurt wurde ihm der Goethe-Preis verliehen, doch er konnte zur Rede in der Paulskirche nur unter Polizeischutz anreisen. In Weimar ernannte man ihn zum Ehrenbürger. Der DDR ermöglichte die Vereinnahmung des bürgerlichen Antifaschisten den Bezug auf die deutsche Kultur über den Abgrund des Krieges hinweg. Außerdem galt er im Formalismusstreit als positives Beispiel realistischer Literatur – ganz im Gegensatz übrigens zu Bertolt Brecht. Womit Wolfram Weimer ironischerweise eher in der Tradition der SED steht als in der des deutschen Konservatismus.Placeholder image-3Für die Jüngeren im Westen färbte das Bild vom Großbürger auf sein Werk ab: Es galt als beige Bügelfaltenliteratur, als Text gewordener Stehkragen. Umso größer war das Erstaunen, das die ab 1977 erscheinenden Tagebücher auslösten. „Das ist ja ein leidender Mensch! Und schwul obendrein!“, hat Marcel Reich-Ranicki zusammengefasst, wie sich Germanistik und Feuilleton die Augen rieben.Der bisexuelle Literat mit MigrationshintergrundIn der Tradition dieser Neuentdeckung steht auch das diesjährige Jubiläum. Und weil die Zeiten wieder bedrohlich sind, steht der politische Mann im Fokus. Als 2018 das Thomas-Mann-Haus in Los Angeles eröffnete, erkannte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Thomas Manns Arbeitszimmer dort „das Oval Office der Exil-Opposition gegen Hitlers Terrorherrschaft in Berlin“. Genau das, was man ihm früher übelnahm, wird nun gefeiert: Zahlreiche Publikationen heben den politischen Mann hervor, diese Woche eröffnet in seiner Geburtsstadt Lübeck die Ausstellung Meine Zeit. Thomas Mann und die Demokratie.So erscheint Thomas Mann heute so vielschichtig wie nie: An die Stelle des strengen Bürgers, des „hochgezüchteten Marzipanmanns aus Lübeck“, wie ihn Theodor Lessing 1910 geschmäht hatte, tritt der sensible, bisexuelle Literat mit Migrationshintergrund (seine Mutter war Brasilianerin), der Antifaschist und Demokrat. In der einst angestaubten Literatur sieht man nun scheiternde Männlichkeitsentwürfe, geschlechtliche und sexuelle Grenzgänger und eine unheimliche Aktualität.Doch während sich das Bild vom deutschen Großschriftsteller in einer komplexen kosmopolitischen Matrix von Paraty über Los Angeles bis zur Kurischen Nehrung auflöst, findet paradoxerweise zugleich eine Heimholung nach Deutschland statt. Dabei ist es gerade die Vielschichtigkeit, in der die breite identifikatorische Attraktivität Thomas Manns heute liegt: Für Linke und Linksliberale stehen der Antifaschismus und die (Re-)Lektüre des Werks vor dem Hintergrund identitätspolitischer Marker im Vordergrund. Placeholder image-4Für demokratische Rechte und Liberale ist es der bürgerliche Mann, der gegen die Nazis war, aber kein Kommunist wurde. Und die nationalistische Rechte kann den frühen deutschtümelnden Mann als „deutschen Klassiker“ vereinnahmen. Damit sticht er zahlreiche Zeitgenossen aus: Die waren zu links (Heinrich Mann, Bertolt Brecht) oder zu rechts (Ernst Jünger) – oder haben selbst als Linke historisch befleckte Biografien (wie das SS-Mitglied Günter Grass).Thomas Mann droht das Schicksal Bertolt Brechts: WirkungslosigkeitDer Bezug auf Thomas Mann ermöglicht so, an eine alternative deutsche Geschichte anzuknüpfen: Er ist der bekehrte Deutsche, der sauber blieb. Thomas Mann hat sich zum ideellen Übervater der Republik gemausert, zum Nationaldichter des geläuterten Deutschlands. Einerseits liegt darin eine späte Bestätigung seines Selbstbilds, hatte er doch 1938, als er in den USA ankam, erklärt: „Wo ich bin, da ist Deutschland.“ Andererseits hat er selbst die deutsche Kultur nie aus der Verantwortung entlassen. Im Gegenteil, er hat nie einen Zweifel daran aufkommen lassen, dass sie als ganze schuldhaft geworden war – meisterhaft aufgeschrieben im Doktor Faustus.So müssen all diese Identifikationen und Zuschreibungen mit Auslassungen operieren: Die Linken müssen den Großbürger ausblenden, der sich auf seinem unverdienten Wohlstand ausruhte; die demokratischen Rechten müssen die antideutsche Rhetorik und ihre eigene Schmähung Manns vergessen; und die ganz Rechten müssen 1918 einen Schnitt ansetzen. Auch Manns Engagement für den Zionismus, das Kai Sina in seinem Buch Was gut ist und was böse jüngst herausgearbeitet hat, passt sicherlich nicht allen in den Kram.Placeholder image-5Ganz ohne Unbehagen kommt die neue Begeisterung für Thomas Mann also nicht aus – wo immer Deutsche sich einig sind, ist Vorsicht geboten. Thomas Mann kann sich nicht wehren. Auf das heutige Deutschland, das ihn feiert und sich zugleich bürgerlicher Kälte zuwendet, hätte er sicher mit Skepsis geblickt.So droht Manns Erbe in der allgemeinen Begeisterung das Schicksal Bertolt Brechts: die durchschlagende Wirkungslosigkeit eines Klassikers. Wenn Thomas Manns Erbe mehr sein soll als das freundliche Gesicht einer Playmobilfigur, die es in die große Tradition deutscher Dichtung fügt, wenn es mehr als Stoff für Sonntagsreden besorgter Politiker bieten soll, ist sein radikaler Gehalt in Erinnerung zu rufen: eine grundlegende, tiefe Skepsis gegenüber Deutschland und seiner Kultur.