Fast rund um die Uhr kann man in einem Berliner Supermarkt russische Pelmeni und ukrainische Süßigkeiten kaufen. Für unseren Autoren ist es ein imaginäres Land auf wenigen Quadratmetern


Rossiya – ein Supermarkt, der neben ukrainischen und russischen Lebensmitteln auch Döner anbietet

Imago/Roland Hartig


Am Bahnhof Berlin-Charlottenburg gibt es einen Laden mit dem Namen Rossiya – Waren aus Osteuropa und einen kleinen Imbiss mit Schaschlik. Die Preise sind hoch, die Auswahl mäßig, aber es ist rund um die Uhr geöffnet. „Rossiya“ bedeutet Russland – für alle, die es nicht gleich erkennen, leuchten die Buchstaben in den Farben der Trikolore.

Im Frühling 2022, als Russland die Ukraine überfiel, entfernte mein Lieblingskefir die Zwiebeltürme von der Verpackung und vermarktete sich fortan als Getränk aus dem Kaukasus. Ein Freund von mir, geboren in Moskau, brachte mir bei, dass ich auf die Frage nach meiner Herkunft besser „Kasachstan“ antworten solle. Ich habe es ein paarmal versucht, aber ich wurde so rot vor Scham, dass

cham, dass es natürlich sofort aufflog. Meine Nerven waren derart strapaziert, dass ich bei der Frage „Wo bist du geboren?“ fast anfing zu weinen.Doch der Laden schlug nicht denselben Weg ein – er änderte seinen Namen nicht, nahm die Trikolore nicht ab. Die Monate vergingen. Geflüchtete aus der Ukraine kamen nach Berlin – direkt nach Bombenangriffen stießen sie auf einen Laden mit diesem Namen und versuchten voller Wut, sich mit den Besitzern oder Verkäufern anzulegen. Aber das „Rossiya“ blieb unbeugsam: Trikolore, leicht angestaubte Waren, auch sonntags geöffnet. Ich wohne in der Nähe und ging hin, um Smetana oder Pelmeni zu kaufen, wenn das Wochenende zu plötzlich kam. Es war dort immer viel los.Anfangs hat mich die Existenz des Ladens genervt. Später habe ich genauer hingeschaut – und begriffen, dass das Ganze doch etwas komplizierter ist. Dort werden nicht nur Fähnchen mit dem russischen Wappen verkauft, sondern auch „I love Ukraine“-Caps und ukrainische Produkte. Wenn die Inhaber starrsinnige Putin-Fans wären, wäre das unmöglich. Es gibt nur eine Erklärung: Das „Rossiya“ aus dem Ladennamen ist eben nicht das Russland, das die Ukraine bombardiert. Es ist ein imaginäres Land, das es gar nicht gibt. Eine Fantasie von einem normalen Staat, der meine Heimat hätte sein können. Ein himmlisches Russland mit schlechter Wurst – aber ohne Krieg. Meine Meinung über diesen Laden habe ich jedenfalls grundlegend geändert.Die Russen haben sich in zwei Gruppen aufgeteiltDenn das „Rossiya“ in Charlottenburg ist das einzige Rossiya, das ich seit Februar 2022 noch betreten kann. Ich habe für das Medium Meduza gearbeitet, das von den russischen Behörden zur „unerwünschten Organisation“ erklärt wurde – gegen die Redaktion laufen jetzt Strafverfahren. Vielleicht kann ich eines Tages doch nach St. Petersburg reisen und heil zurückkehren, vielleicht bekomme ich acht Jahre Haft – für das, was ich in den ersten Kriegsmonaten gesagt oder geschrieben habe. Das weiß niemand. Und ausprobieren will ich es auch nicht. Jeder schätzt heute seine Risiken selbst ein, die Russen haben sich in zwei Gruppen aufgeteilt – die einen fahren still durch Kaliningrad oder Estland nach Russland, die anderen können vielleicht erst in Jahrzehnten zurück.Früher warteten wir, die oppositionellen Russen im Westen – auf eine ukrainische Offensive, auf den Zusammenbruch der russischen Wirtschaft, auf das Kriegsende, auf Putins Tod. Heute warten wir auf nichts mehr. Auch, weil wir begriffen haben: In diesem Warten kann das ganze Leben vergehen. Und wir wollen auch noch etwas anderes erleben als Tod und Schmerz. Es hat keinen Sinn, dass jeden Tag Tausende Menschen sterben. Es ist unmöglich, all diese Tode im Kopf zu behalten – man verdrängt sie einfach. Ich habe seit zwei Jahren niemanden mehr über das Kriegsgeschehen sprechen hören.Das Land, in dem ich aufgewachsen bin, rückt jeden Tag vor, zerstört ein weiteres Dorf in einem weiteren ukrainischen Gebiet. Es hat kein Ende, nicht mal in Sicht. Aber wenn man mich heute fragt, woher ich komme, sage ich ruhig: aus Russland, aus St. Petersburg. Ich zeige ohne Zögern meinen roten Pass mit dem russischen Adler, wenn man mich nach Dokumenten fragt. Ich empfinde dabei nichts.Picknick, Party, Rave in BerlinIm ersten Kriegsjahr sagten die Russen: Die Ukrainer haben es schwerer. Heute sagt das niemand mehr. Manchen Ukrainern geht es schwerer, manchen leichter – aber im Grunde ist jeder auf sich alleine gestellt. Bei meinen ukrainischen Freunden klingeln manchmal morgens um sechs blasse Jungs an der Tür – Deserteure, die einen Fluss durchschwommen oder tagelang durch Berge gelaufen sind, um die Grenze zur EU zu überqueren (Männer dürfen aus der Ukraine offiziell nicht ausreisen). Sie registrieren sich in Berlin, bekommen Bürgergeld. Ich weiß nicht, was sie empfinden, aber nach einem halben Jahr sehen ihre Instagram-Storys aus wie die von anderen jungen Leuten in Berlin: Picknick, Party, Rave. Sie lernen Deutsch, weil der deutsche Staat ihnen dafür Geld zahlt, und ich glaube, sie werden nicht zurückkehren, wenn der Krieg zu Ende ist. Wenn wir uns treffen, reden wir nicht über den Krieg – natürlich nicht. Wir reden darüber, dass die Jobcenter jetzt wirklich anfangen, Druck zu machen und die Ukrainer zur Arbeit drängen: Aus den verständnisvollen Sachbearbeiterinnen sind im vierten Kriegsjahr zornige Tigerinnen geworden. Genug mit dem Deutschlernen – geh arbeiten. Mit den Ukrainern reden wir auf Russisch.Mein Land führt im vierten Jahr einen grausamen, unmenschlichen Krieg – aber ich werde nicht darüber sprechen, weil ich dir nichts mehr zu sagen habe.Der belarussische Schriftsteller Sasha Filipenko, der in Europa lebt, hat ein Buch über die russische Gesellschaft im Krieg geschrieben – mit dem Titel Elefant (auf Deutsch: Die Jagd). Die Metapher ist klar: Der Krieg ist der Elefant im Raum, über den niemand spricht, obwohl es immer schwerer wird, ihn zu ignorieren. Wir, im Exil, sind dagegen freie Menschen – wir könnten offen über diesen Elefanten reden. Ein Buch zu schreiben braucht Zeit. Während Filipenko in den letzten Jahren schrieb, änderte sich alles: Jetzt reden auch wir nicht mehr über den Elefanten, obwohl wir es könnten. Wenn du über den Krieg reden willst, findest du niemanden. Du musst dann wohl zu den ehemaligen DDR-Bürgern auf dem Platz, die dort Flaggen mit weißen Tauben schwenken und fordern, keine Waffen an die Ukraine zu liefern. Mein Land führt im vierten Jahr einen grausamen, unmenschlichen Krieg – aber ich werde nicht darüber sprechen, weil ich dir nichts mehr zu sagen habe.Heute ist Sonntag. Ich werde wieder mein Fahrrad nehmen und in sieben Minuten beim Laden sein. Dort liegen auf einem Regal Süßwaren aus Russland oder der Ukraine – sie heißen unterschiedlich: Pryaniki, Sushki oder Suchari – aber im Grunde sind sie eine Mischung aus Teig, Zucker und Farbstoffen. Wir haben sie als Kinder gegessen, nach der Schule, zum Tee, während im Fernseher Serien liefen – und deshalb sind sie für uns überhaupt nicht gleich. Es sind sehr verschiedene Produkte, aber alle gibt es bei „Rossiya“. An der Kasse, wo in deutschen Läden die Kaugummis liegen, liegen auch Tarotkarten-Sets (kein Scherz) und eine einsame CD des russischen Sängers Leonid Agutin. Ich würde euch gerne eines seiner Lieder vorspielen:Du wirst mich auf dem violettfarbenen Mond vergessen.Vielleicht nur für einen Augenblick,Und mir bleibt nur ein dünner Faden.Nur ein Tropfen Bedauern.Ich werde „Rossiya“ mit meinem Fahrrad verlassen – und nie wieder zurückkehren.Dmitry Vachedin, 42, lebt seit 1999 in Berlin. Als Journalist hat er u.a. für das russischsprachige Exilmedium Meduza gearbeitet



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Von Veritatis

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