Am 1. Juni griffen ukrainische Kamikazedrohnen mehrere russische Militärflughäfen an. Dabei wurden zahlreiche strategische Bomber des Typs TU-95 und TU-160 zerstört. Die wahre Bedeutung dieses Angriffs und der damit einhergehenden möglichen Konsequenzen ist von den Mainstreammedien und der Politik bislang nicht wirklich erfasst worden – dies zeigt die geäußerte Häme bis hin zum infantilen Jubel über diesen Angriff. Es war nicht weniger als ein direkter Angriff auf die nukleare Triade Russlands und somit auf das nuklearstrategische Gleichgewicht zwischen den beiden größten Nuklearwaffenmächten der Welt. Die ukrainische Seite hat ganz bewusst diese Ziele ausgewählt, obschon die Zerstörung dieser strategischen Bomber keine Auswirkungen auf die Kämpfe an der Front, wohl aber auf die nuklearstrategische Stabilität hat. Von Alexander Neu.

Dieser durchaus auf den ersten Blick erfolgreiche Angriff ist nicht nur hinsichtlich der hohen Anzahl der beschädigten und zerstörten fliegenden Plattformen ein Schlag für die Kapazitäten der russischen Luftwaffe, ein psychologischer Schock für das russische Militär und die Politik sowie ein Schlag gegen das Vertrauen der Bürger in die Fähigkeiten ihres Staates und des eigenen Militärs, Russland zu schützen. Denn bei diesen Flugzeugen handelt es sich nicht bloß um den Verlust irgendwelcher fliegenden Waffensysteme im konventionellen Kriegsgeschehen, wie beispielsweise ein Kampfflugflugzeug oder eine Transportmaschine, die im Zweifel etwas zynisch formuliert unter die Kategorie „verkraftbare Materialverluste im Kriegsgeschehen“ fallen.

Bei diesen Flugzeugen handelt es sich durchgängig um Trägersysteme für konventionell wie auch – und das ist entscheidend – für nuklear bestückbare (Hyperschall-)Raketen und Marschflugkörper. Daher auch die Bezeichnung strategische Bomber (T-95 und TU-160). Ihre Aufgabe besteht darin, im Spannungsfall Atombombensprengköpfe – entweder auf Luft-Boden-Hyperschallraketen oder Marschflugkörper montiert – an die Ziele heranzufliegen, ohne selbst über das Zielgebiet fliegen zu müssen. Mit einer Reichweite von 12.000 bis 15.000 Kilometern ohne Luftbetankung können diese strategischen Bomber über zwölf Stunden ohne Unterbrechung fliegen und somit im Luftraum kreisen, bis der Einsatzbefehl zum Abbruch des Fluges oder aber zum Abschuss von nuklearbestückten Marschflugkörpern oder (Hyperschall)Raketen gegeben wird. Angesichts der Reichweite der Marschflugkörper und der Raketen (300 bis 5.500 Kilometer) müssen diese strategischen Bomber nicht unbedingt in den gegnerischen Luftraum eindringen. Die USA verfügen über entsprechende fliegende Plattformen wie den strategischen Bomber „B-52H Stratofortress“ und nuklear bestückbare Waffensysteme.

Nukleare Triade

Die strategischen Bomber stellen eine Ecke der nuklearen Triade dar. Diese besteht aus 1. landgestützten (Silos oder mobil auf LKWs), 2. seegestützten (U-Boote und auch Schiffe) und 3. luftgestützten (Flugzeuge) Atomwaffenträgern. Über diese Nukleartriade verfügen auch die USA. Für beide Seiten ist ihre jeweilige Triade so etwas wie eine Lebensversicherung im Kontext der gegenseitigen Abschreckung: Greift Atomwaffenstaat A den Atomwaffenstaat B an, so reagiert dieser ebenfalls mit Atomwaffen auf den vorangegangenen nuklearen Angriff. Die nukleare Triade spielt hierbei die zentrale Rolle – sie verhindert einen nuklearen Erstschlag als erfolgreichen Enthauptungsschlag. Sollte Staat A tatsächlich das Nuklearpotenzial von Staat B als Enthauptungsschlag angreifen, beispielsweise die landgestützten, in Silos untergebrachten Interkontinentalraketen sowie die strategischen Bomber, so verblieben Staat B noch die seegestützten Atomwaffensysteme zur Reaktion, die Staat A zerstören würden. Dem nuklearen Erstschlag durch Staat A folgt also der nukleare Gegen- oder Zweitschlag von Staat B. Damit wäre die gegenseitige nukleare Zerstörung für beiden Seiten garantiert, was nach gesundem Menschenverstand weder für Staat A noch für Staat B akzeptabel ist. Denn nach der bis heute gültigen Philosophie des Kriegsphilosophen Carl von Clausewitz sei der Krieg der Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln zwecks Erreichung politischer Ziele. Ist indessen das politische Ziel nicht erreichbar, sondern die eigene Zerstörung nahezu garantiert, ist der Krieg kein taugliches Mittel mehr.

Daher führen Nuklearwaffenstaaten bislang – ausgenommen von ein paar überschaubaren Grenzscharmützeln zwischen Indien und Pakistan oder China und Indien – eben keinen Krieg miteinander. Deshalb führen und führten die USA und die Sowjetunion/Russland bis heute keinen direkten Krieg miteinander, sondern „nur“ über Stellvertreter wie Nord- und Südvietnam, Nord- und Südkorea oder eben jetzt die Ukraine. Die gegenseitig garantierte Zerstörung (MAD-Doktrin = Mutual Assured Destruction) hat auf ihre perverse Weise dazu geführt, dass der Kalte Krieg nicht zum heißen Krieg mutierte. Sie bewirkt, dass der westlich-russische Stellvertreterkrieg in der Ukraine bislang nicht zu einem direkten Schlagabtausch zwischen russischen und westlichen Armeen geführt hat – zumindest nicht zwischen offiziellen Kräften, sondern „nur“ über Söldner. Sie führt dazu, dass wahrscheinlich doch keine westlichen Truppen in der Ukraine stationiert werden etc. Hätte Jugoslawien über Atomwaffen verfügt, hätte es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keinen NATO-Angriffskrieg auf Jugoslawien gegeben.

Die gegenseitige nukleare Abschreckung, garantiert durch die nukleare Triade, ist also auch ein Instrument – ob man es mag oder nicht – der Stabilitätsschaffung. Dass sie indessen keine 100-prozentige Garantie ist, zeigte der Vorfall 1983 mit dem sowjetischen Offizier S. Petrov, der eben nicht den „roten Knopf“ drückte, als die sowjetischen Frühwarnsysteme einen vermeintlichen amerikanischen Atomwaffenangriff anzeigten – es war ein technischer Fehler, und der Faktor Mensch hat richtig analysiert: nämlich, dass ein US-amerikanischer Angriff mit nur wenig startenden Interkontinentalraketen keinen Sinn ergebe. Ob dieses menschliches Analysevermögen auch bei KI-gesteuerten Systemen so funktioniert, sei dahingestellt.

Angriff auf die Nukleartriade

Fällt eine Ecke der nuklearen Triade aus oder wird signifikant beschädigt, wirkt sich dies auf die nukleare Abschreckungsfähigkeit unmittelbar negativ aus. Daher geht die Bedeutung des ukrainischen Drohnenangriffs auf die strategische Bomberflotte Russlands weit über die Frage der Drohnenfähigkeiten in der modernen Kriegsführung hinaus. Denn der Angriff auf die strategische Nukleartriade hat eine unmittelbare Bedeutung für die Nukleardoktrin Russlands und betrifft die USA als nuklearen Counterpart ebenfalls direkt auf zweifache Weise:

Erstens könnte dieser Angriff auch als Angriff der USA gewertet werden. Es ist davon auszugehen, dass die russische Seite eine mögliche US-amerikanische Unterstützung an dem Angriff, wie auch immer diese aussehen möge, analysiert. Sollte die Analyse eine US-amerikanische Unterstützung nachweisen, so stellte sich die Frage, ob diese mögliche Unterstützungsleistung ein Puzzlestück im Gesamtbild einer versuchten Schwächung oder Ausschaltung der russischen nuklearen Zweitschlagskapazitäten ist. Denn es darf nicht vergessen werden, dass bereits im Mai 2024 die Ukraine zwei strategische Frühwarnsysteme in Russland, die den potenziellen Anflug US-amerikanischer strategischer Atomraketen identifizieren sollen, mit Drohnen angegriffen und diese beschädigt wurden. Damit handelt es sich um Angriffe auf zwei strategische Komponenten (strategisches Frühwarnsystem sowie strategische Bomber) der atomaren Zweitschlagsfähigkeit, also der nuklearen Abschreckung, die während des Kalten Krieges wesentlich dafür verantwortlich waren, dass der Kalte Krieg nicht zu einem heißen zwischen Ost und West wurde.

Aktualisierung der Nukleardoktrin Russlands

Im Jahre 2024 hat Russland nicht nur, aber auch vor dem Hintergrund des ukrainischen Angriffs auf die strategischen Frühwarnsysteme die Nukleardoktrin mit dem Titel „GRUNDLAGEN der staatlichen Politik der Russischen Föderation zur Nuklearen Abschreckung“ erneuert, d.h., die Hemmschwelle für den Einsatz von Nuklearwaffen gesenkt. Siehe dazu auch diesen Beitrag auf den NachDenkSeiten.

Darin heißt es unter Punkt „19. Folgende Bedingungen sind für den möglichen Einsatz der Nuklearwaffen durch die Russische Föderation bestimmend:

c) die Einwirkung des Gegners auf kritisch wichtige staatliche und militärische Objekte der Russischen Föderation, deren Ausfall zur Vereitelung der Antworthandlungen der Nuklearstreitkräfte führt;“.

Und weiter heißt es unter Punkt 11: „Eine Aggression gegen die Russische Föderation und/oder seine Verbündeten durch einen Nichtnuklearstaat mit der Involvierung oder der Unterstützung durch einen Nuklearstaat wird als ein gemeinsamer Angriff durch sie betrachtet.“ Dieser Punkt bezieht sich v.a. auf die Unterstützung der Ukraine durch westliche Staaten, mithin auch den USA.

Aber auch allein das Wissen der USA um einen solchen Angriff der Ukraine, ohne diese davon abzuhalten, dürfte als eine Art Angriff gewertet werden. Aus diesem Grunde hat das Weiße Haus, hat der US-Präsident Donald Trump im Telefonat mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ein Mitwissen abgestritten. So oder so entsteht durch die partielle Beschädigung oder Zerstörung der nuklearen Triade bereits für die andere Seite, hier für die USA, ein strategischer Vorteil. Sicherheitspolitisch jedoch wächst damit die Gefahr eines atomaren Präventivschlags durch Russland, um einem möglichen US-Angriff zuvorzukommen.

Mit anderen Worten: Die Ukraine hat mit ihrem Angriff auf die strategischen Flugzeuge die gesamte Welt einen Schritt näher an den Abgrund gebracht. So manche im Westen jubelnde und vor Schadenfreude ihr Wasser kaum haltende Journalisten und Politiker kapieren im Zweifel gar nicht, welche Gefahr aus der ukrainischen Drohnenoffensive auf die nukleare Triade Russlands erwächst. Und ja, selbstverständlich hat die angegriffene Ukraine das völkerrechtlich verbriefte Recht, auch auf russischem Staatsgebiet Gegenangriffe zwecks Neutralisierung der russischen Angriffspotenziale zu realisieren. Und ja, die russische Luftwaffe fliegt wohl auch Angriffe mit TU-95-Bombern auf ukrainische Ziele mit konventionell bestückten Marschflugkörpern. Die Nutzung strategischer Bomber Russlands ist aus vielen Gründen abzulehnen. Aber ein Grund wiegt besonders schwer: Die Ukraine begründet damit ihre Drohnenangriffe auf diese fliegenden Plattformen, was auf den ersten Blick auch als nachvollziehbar erscheint.

Aber nicht alles, was nachvollziehbar erscheint oder rechtlich erlaubt ist, ist auch militärisch oder gar politisch sinnvoll oder gar verantwortbar – vor allem dann nicht, wenn die Gefahr einer nuklearen Eskalation und damit ein nuklearer Schlagabtausch befördert wird.

Zweitens wird durch diesen Angriff der ohnehin labile New-Start-Vertrag weiterhin beschädigt. Der New-Start-Vertrag regelt die Rüstungsbegrenzung strategischer Atomwaffen und ihrer Trägersysteme, worunter eben auch strategische Atombomber zu fassen sind. Und in jedem Rüstungskontrollabkommen sind auch sogenannte Verifikationselemente, d.h. Kontrollmomente festgehalten, um zu prüfen, ob die Gegenseite sich an das Abkommen hält. Hierzu zählen Vor-Ort-Inspektionen, aber eben auch solche aus dem Luft- und Weltraum. Dieses wiederum bedeutet, dass US-amerikanische sowie russische strategische Atombomber nicht versteckt werden dürfen. Sie müssen auch aus der Luft und dem Weltraum via Aufklärungsflugzeuge (wobei zunächst die USA 2020 einseitig aus dem Open-Sky-Vertag, der eine Luftraumüberwachung ermöglichte, ausgestiegen sind) und Satelliten permanent gezählt werden können. Und um eine Zählung aus der Luft bzw. dem Weltraum zu ermöglichen, können die strategischen Atombomber nicht in gesicherten Hangars versteckt werden, womit sie im Prinzip schutzlos unter freiem Himmel stehen.

Genau das hat sich die Ukraine als Ziele ihrer Drohnenangriffe zunutze gemacht. Damit stellt dieser Angriff der Ukraine auch einen Angriff auf den bilateralen US-amerikanisch-russischen New-Start-Vertrag dar, dessen Laufzeit ohnehin 2026 enden soll und der bislang angesichts der angespannten Lage zwischen Russland und den USA hinsichtlich der Ukraine keinerlei formelle Verhandlungen über eine Verlängerung erfahren hat. Mit der Nicht-Verlängerung des Vertrages droht ein Rüstungskontroll-Vakuum, womit einem Rüstungswettlauf im Bereich der strategischen Atomwaffen wieder Tür und Tor geöffnet wird. Der Angriff auf die russischen strategischen Bomber wird Russland ein weiteres Argument an die Hand gegeben, dieses wichtige Abkommen nicht verlängern zu wollen.

Kurzum: Die Schadenfreude in westlichen Redaktionsstuben und bei so manchem Politiker ist völlig fehl am Platze. Sie dokumentiert lediglich das kognitive Unvermögen, die aus den Angriffen resultierenden Gefahren zu antizipieren. Die USA und insgesamt die westlichen Verbündeten sollten aus Eigeninteresse, d.h. dem Schutz der eigenen Bevölkerung, der ukrainischen Führung sehr dezidiert verdeutlichen, dass solche Operationen, die die nuklear-strategischen Kräfte der Russischen Föderation betreffen, absolut inakzeptabel sind, soll der Stellvertreterkrieg nicht der konkreten Gefahr ausgesetzt werden, zu einem unmittelbaren (Atom-)Krieg zwischen der NATO und Russland zu eskalieren. Diese Erwartungshaltung ist von der Bevölkerung an ihre eigenen Regierungen zu formulieren. Eine Unterstützungsleistung für die Ukraine darf, wie immer man diese auch bewerten mag, mitnichten zu einem bedingungslosen „whatever-it-takes“ degenerieren.

Titelbild: Shutterstock / Klyona_2



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Von Veritatis

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