Die UN-Feindstaatenklausel erlaubt militärische Interventionen gegen Deutschland. Offiziell gilt der Passus als obsolet. Doch gestrichen wurde er nicht. Die Bundesregierung hat damit kein Problem.
von Dietmar Pietsch
Gleich drei Mal ist die Feindstaatenklausel in der Charta der Vereinten Nationen (UN) verankert – in den Artikeln 53, 77 und 107. Explizit erlaubt sie «Maßnahmen, welche die hierfür verantwortlichen Regierungen als Folge des Zweiten Weltkrieges in Bezug auf einen Staat ergreifen oder genehmigen, der während dieses Krieges Feind eines Unterzeichnerstaats dieser Charta war». Gemeint ist insbesondere Deutschland. Da eine – im Zweifel auch rückwirkende – Kriegserklärung an die Achsenmächte Voraussetzung für die UNO-Aufnahme bei deren Gründung war, gilt dies für praktisch alle 1945 bereits unabhängigen Staaten. Sie könnten unter Umgehung der UNO in Deutschland einmarschieren. Real käme dies wohl vor allem für die USA in Frage.
Deutschland zahlt acht Prozent des UN-Haushalts, ist hin und wieder nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat und trägt UN-Kampfmissionen mit, während es doch eigentlich der Feind ist.
Was bislang als Verschwörungstheorie oder allenfalls Historienfolklore galt, bekommt angesichts der NSA-Spähaffäre urplötzliche Brisanz. Zwar lässt die Feindstaatenklausel militärische Interventionen nur «bei der Wiederaufnahme einer Angriffspolitik» zu, doch solche Formalitäten bedürfen letztlich nur der Auslegung. «Die übergroße Neugier der US-Dienste hat die Frage nach der Souveränität von Staaten wieder aktuell gemacht, die, wie die Bundesrepublik Deutschland, zugleich Objekt und Subjekt intensiver nachrichtendienstlicher Zuwendungen waren und weiterhin sind», schreibt der frühere Berater von Altkanzler Helmut Kohl, Michael Stürmer, in der Welt. «Ob die UN-Feindstaatenklausel noch immer für Deutschland gilt, mögen Historiker und Völkerrechtler unter sich ausmachen. Für US-Geheimdienste lautet die schlichte Antwort: Ja!», bringt es die Oldenburger Nordwest-Zeitung auf den Punkt.
Ist Deutschland als Feind souverän?
Formal hat die Feindstaatenklausel heute keine Bedeutung. 1995 bezeichnete die 50. Generalversammlung der UNO den Passus sogar offiziell als obsolet, also überholt. Doch zumindest gewisses Bauchgrummeln bereitet die Feindstaatenklausel inzwischen auch Teilen der bundesdeutschen Elite. «Wir haben offensichtlich verdrängt, dass Deutschland (…) in der UNO-Charta fast drei Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg noch immer als „Feindstaat“ rangiert. Es ist höchste Zeit, dieses Überbleibsel der Realität anzupassen», schrieb im Juli die CSU-Parteizeitung Bayernkurier. Einen Schritt weiter ging die Frankfurter Allgemeine Zeitung, als sie die Klausel angesichts der NSA-Affäre thematisierte. «Proteste gegen die Überwachung sind vorerst nutzlos, denn es ist mehr als unklar, ob Deutschland überhaupt souverän ist.»
«Auch ein Feind ist souverän», differenziert der Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider gegenüber der Redaktion. «Souveränität ergibt sich, auch, wenn man frühere Auffassungen von Staatssouveränität zugrunde legt, einfach aus der Staatseigenschaft Deutschlands.»
Beim Auswärtigen Amt wird die Skandal-Klausel jedenfalls heruntergespielt. Berlin tut, als sei Deutschland nur aus Bequemlichkeit als Feind gelistet. «Eine Streichung aus der Charta ist ein gewaltiger Aufwand und wird wohl eher im Rahmen einer grundlegenden Reform der UN stattfinden», sagte UN-Botschafter Peter Wittig. Doch eine solche Reform ist nicht in Sicht. So darf Deutschland noch einige Zeit acht Prozent des UN-Haushalts bezahlen, hin und wieder als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat sitzen und UN-Kampfmissionen mittragen, während es doch eigentlich der Feind ist.
Tatsächlich dürfte gegenwärtig wohl kein Land ernsthaft erwägen, in Deutschland einzumarschieren. Doch könnte sich dies ändern, wenn Berlin seinen strikten Unterordnungskurs unter die US-geführte Weltordnung aufgibt. «Allemal würde es das erleichtern, wenn man einen Austritt Deutschlands aus der NATO als feindlichen Akt betrachtet», gibt Schachtschneider zu bedenken. Immerhin existiert nicht einmal eine verbindliche Festlegung, was überhaupt ein feindlicher Akt ist. «Das definieren die früheren Feinde».
Einschränkungen deutscher Souveränität haben Bestand
Es ist nicht die einzige fortdauernde Beschränkung Deutschlands aus der Zeit vor 1990. Weiterhin Bestand haben alle Regelungen, die zum «Zwecke der Reparation oder Restitution oder aufgrund des Kriegszustandes» gegen das «deutsche Auslands- oder sonstige Vermögen durchgeführt worden sind». Diese Verordnung wurde 1990 unter Ausschluss des deutschen Gesetzgebers auch auf die östlichen Bundesländer ausgeweitet. Auch das in den 1960er Jahren mit Zusatzvereinbarungen versehene Truppenstatut ist weiterhin in Kraft und sorgte angesichts der aktuellen Ausspähaffäre für Aufsehen. Die Übereinkunft erlaubt es den USA, unter Umständen am Bundestag vorbei Sonderrecht in Deutschland einzuführen. Nur nebenbei: Einen Friedensvertrag zwischen Deutschland und seinen früheren Kriegsgegnern gibt es bis heute auch nicht.
Ein Zustand, der auch Linken-Fraktionschef Gregor Gysi sauer aufstößt. «Wäre es nicht doch mal an der Zeit, dass wir mal als Land souverän werden und die Besatzung beendet wird?», fragte er im Deutschlandradio. «Dazu muss eben auch das Besatzungsstatut aufgehoben werden. Jetzt haben sie nur die Verwaltungsvereinbarung zwischen den Geheimdiensten aufgekündigt, das reicht nicht», meinte Gysi in Anspielung auf ein Abkommen zur Kommunikationsüberwachung zwischen der Bundesrepublik und den USA von 1968.
Acht Mal angewendet
Bereits acht Mal wurde die Feindstaatenklausel angewendet – wenn auch vor Jahrzehnten. 1948 verhinderte die Sowjetunion per Veto, dass die Blockade West-Berlins vor der UN-Generalversammlung thematisiert wurde. Mit Verweis auf Artikel 107 der UN-Charta.
1950 belehrte sie das höchste UN-Gremium über seine Nicht- Zuständigkeit in der Frage der deutschen Kriegsgefangenen. Ebenfalls unter Bezug auf die Feindstaatenklausel. 1968 erinnerte Moskau Bonn per Aide-Mémoire – in der Diplomatie eine schriftliche Notiz – an die Klausel. Auch die Moskauer Verhandlungen über einen Gewaltverzicht zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik fuhren sich unter anderem aufgrund sowjetischen Beharrens auf dem Recht zur Intervention 1969 zügig fest. Doch in der Regel vermieden es die Staaten eher, sich des Arguments zu bedienen. Es war wohl in Zeiten der Blockkonfrontation gegenüber den jeweiligen frontnahen deutschen Vasallen nicht opportun und schlicht unnötig.
Zumindest vor 1990 hatte Bonn schlicht kein Problem mit der Feindstaatenklausel. «Nun hat gerade die Bundesrepublik selbst gegenüber den Westmächten nicht nur die „Prinzipien“ der UN-Charta, zu denen möglicherweise auch die Feindstaatenklausel selbst zu rechnen ist, anerkannt, sondern sie hat vor allem die Viermächteverantwortung „für ganz Deutschland“ anerkannt. Dass diese „gesamtdeutsche Verantwortung“ der vier Mächte etwas anderes sein sollte als die „Verantwortlichkeit“ der Feindstaatenklausel, ist nicht anzunehmen», schätzte der Direktor des Instituts für Internationales und Ausländisches Recht an der Freien Universität Berlin, Wilhelm Wengler, 1987 ein.
Drei Jahre später legten die vier Alliierten ihre Rechte über Deutschland im Zwei-plus-Vier-Abkommen nieder. Doch galt dies nur für die im Frühjahr 1945 selbst deklarierte «oberste Gewalt» über das besiegte Land. Auswirkungen auf Vereinbarungen der Vereinten Nationen und ihrer Mitglieder hatte das nicht.
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