Erst verschläft, dann fördert Politik die Digitalisierung der Schulen mit Milliarden, jetzt macht man sich Sorgen um die Auswüchse. Wie sinnvoll ist die Verbotsforderung von Bildungsministerin Karin Prien?
Ein französisches Örtchen, etwa eine Stunde mit dem Auto von Paris entfernt, in der Hauptrolle ein Bürgermeister mit dem poetischen Namen Vincent Paul-Petit, der eines Tages seine Gemeinde zur handyfreien Zone erklärt – was nach einem Drehbuch für eine nette Komödie klingt, die sich so ein Großstadtmensch ausgedacht hat, ist in Wahrheit eine wahre Geschichte.
In Seine-Port stimmten 54 Prozent für handyfreie Zonen
Seine-Port gibt es wirklich. Samt seinem Bürgermeister und den etwa 2.000 Einwohnern. Über die „Verordnung zur Smartphonenutzung“ wurde kommunal abgestimmt. 54 Prozent stimmten im Frühjahr 2024 für die Missbilligung von Handynutzung im öffentlichen Raum; bei mäßiger Wahlbeteiligung. Die Ver
eteiligung. Die Verordnung ist kein Verbot im juristischen Sinne, das wäre gar nicht möglich, aber in Seine-Port ticken die Uhren seither wieder analoger, und es geht auch in Ordnung, dass einige von den 46 Prozent mit ihren Smartphones im „La Terrace“ sitzen und über die Einschränkung ihrer Freiheitsrechte meckern.Ich wäre zu gern selbst dort gewesen, ich fasse aber leider nur eine sehr lesenswerte Reportage aus der NZZ hier zusammen, die ich natürlich online gefunden habe.Typisch kartoffelig hingegen ist mal wieder, wie die Debatte über Handyverbote an Schulen hierzulande gerade verläuft, die von der neuen Familienministerin Karin Prien (CDU) angestoßen wurde. Hier Bedenken. Da große Zustimmung. Dort Abschmettern. Unionskollege Söder hält den Vorstoß für „totalen Quatsch“, für „altbacken“ und „realitätsfremd“ liest man, in der FAZ ist ein Artikel dazu mit einem Foto von Söder bebildert, der auf sein Handy guckt.Wie würde Deutschland ohne Smartphone aussehen?Gelangweilt dreinschauen, sogar abschätzig, okay, aber ist es nicht eine krasse kommunikative Unart herumzuscrollen, während vorne eine*r spricht? Es ist jedoch Alltag im Bundestag. An den Anblick von Politiker:innen mit ihrem Handy vor der Nase haben wir uns schon lange gewöhnt. Und nicht nur hier, insgesamt steht im öffentlichen Raum ein Elefant, dessen Rüssel ein riesiges Handy umklammert.Deshalb wird aus Priens Vorschlag nur umgekehrt ein Schuh: Handys gehören an Schulen nicht verboten, allenfalls reguliert, stattdessen sollte es wie in Seine-Port Verordnungen für den öffentlichen Raum geben. Wie würde Deutschland ohne Smartphone in der U-Bahn, auf dem Bürgersteig, im Freibad, im Café, auf der Parkbank aussehen? Vielleicht legen Sie jetzt einfach mal das Gerät kurz weg und stellen Sie das Kopfkino an.Das omnipräsente Handy genießt eine gesellschaftliche Akzeptanz, die absurd ist. Oder nicht? Wer sich eher zur Fraktion Söder oder zu den 46 Prozent von Seine-Port zählt, kann mal überlegen, warum es uns zwar vulgär erschiene mit einem Bier auf dem Spielplatz zu stehen und womöglich eine Zigarette zu rauchen, aber die Mutter mit dem Handy sich in unseren Augen normal verhält, wobei – im Prenzlauer Berg geht es natürlich schon achtsamer zu, oder an vergleichbaren Orten. Aber vielleicht haben Sie zuletzt mal versucht, bei einem Livekonzert den Musiker durch all die hochgereckten Handys zu sehen.Studie zum Internetkonsum: Acht von zehn sind fast immer onlineWenn das Handy großräumig aus dem Blickfeld geriete, es wäre zu unser aller Besten, vor allem für den allgemeinen Gesundheitszustand der Bevölkerung. Eine Studie der Techniker Krankenkasse – es gibt natürlich zahlreiche Studien – zum Internetkonsum von Erwachsenen zeigt, wie die Situation ist: „In der Freizeit nutzen rund acht von zehn Befragten das Internet mehrmals täglich beziehungsweise sind fast immer online“. 21 Prozent der Erwachsenen gaben an, „deshalb einen weniger guten oder schlechten Gesundheitszustand zu haben“. 38 Prozent der Vielsurfer litten unter Nervosität, depressiven Symptomen, Konzentrationsstörungen, Erschöpfung und Müdigkeit.Placeholder image-2Für die Weltgesundheitsorgansisation (WHO) gilt Internetabhängigkeit seit 2022 als „substanzungebundene Abhängigkeit“. Man könnte also sagen, dass das Handy für einen Großteil der Deutschen ein sehr guter Freund ist, ähnlich wie der Alkohol. Und man kann natürlich auch mehrere zweifelhafte Freundschaften pflegen. Nur solange eine Krankheitseinsicht fehlt, werden acht von zehn Erwachsenen in Deutschland Kindern und Jugendlichen kaum sinnvolle Ratschläge geben können, geschweige denn ihren Medienkonsum sinnvoll zu regulieren in der Lage sein. Böser Verdacht: Es wirkt so, als wollten die Erwachsenen heimlich weiter digital verwahrlosen, wovon die Kids in den Schulen nichts mitkriegen sollen. Wozu auch der ständige Ruf nach Ganztagsschulen gut passt, weil sie Kinder wenigstens bis zum Nachmittag von der digitalen Bronx da draußen Gott sei Dank fernhalten.Die Tech-Bros halten es lieber wie die Leute in Seine-PortWährend sich also ein alarmierender Teil der Bevölkerung ständig die Droge gibt, halten es die Tech-Bros, die alles erfunden haben, lieber wie in Seine-Port. Peter Thiel, der mit Paypal und Facebook reich wurde, soll seinen Kindern eine Bildschirmzeit von 1,5 Stunden pro Woche erlauben, genauso wie der CEO von Snapchat, Evan Spiegel. Im Silicon Valley ist längst eine Low-Tech-Bewegung entstanden. „Mitarbeiter großer Tech-Konzerne wie Google, Apple und Yahoo schicken ihre Kinder vermehrt an Schulen, die auf eine technologiefreie Lernumgebung setzen“, schrieb der Journalist Adrian Lobe schon 2019 im St. Galler Tagblatt. Bill Gates und Steve Jobs erzogen ihre Kinder technikfrei. Die Gates-Kinder sollen ihr erstes Handy erst mit 14 Jahren erhalten haben. Selbst heute noch, die Kinder sind erwachsen, seien zu Tisch Handys nicht gestattet.Placeholder image-1In der Zwischenzeit stolpert der Rest der Welt wie Lemminge durch eine durchdigitalisierte Umwelt, derweil macht KI uns menschliche Arbeitsbienen in rasendem Tempo entbehrlich, übernehmen die Tech-Leute, die für all die digitalen Verheerungen von Europa aus bislang nur sehr bedingt in Haftung genommen wurden, auch noch Regierungsgeschäfte. Es wundert nicht, dass sie sich für allmächtig halten, die User für armselig und obendrein die Regierungen in Europa nicht ernst nehmen, wenn sie erst zig Milliarden in die Digitalisierung der Schulen stecken, damit die Kids die Tech-Bros von morgen werden und nun wieder irgendwie die Geister in die Büchse der Pandora kriegen wollen.Zu mehr Bildungsgerechtigkeit sollte die Digitalisierung an Schulen führen, stattdessen ist neben der sozialen eine „digitale Schere“ entstanden, hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Unterricht mit Tablets und Laptops besonders die Jüngeren nicht schlauer, sondern dümmer macht. Wer es sich leisten kann, erzieht seine Kinder lieber analog. Der Rest verblödet digital. So drastisch muss man es einfach sagen.Karin Prien hatte neben dem Handyverbot an Schulen ein Social-Media-Verbot für Jugendliche bis 16 Jahren angeregt. Was weder totaler Quatsch ist noch realitätsfremd. Prien adressiert ein extrem wichtiges Thema, das mit der kartoffeligen Handydebatte wahrscheinlich untergehen wird.Die digitale Überwachung in China hat eine pädagogische, fürsorgliche SeiteWenigstens werden woanders inzwischen Handbremsen und die Konzerne zur Verantwortung gezogen. In den USA waren 2024 in mindestens 30 Staaten mehr als 140 Gesetzesentwürfe zur Nutzung sozialer Medien anhängig. Um die zehn Bundesstaaten verklagen TikTok und Facebook wegen „Ausbeutung und Schädigung der psychischen Gesundheit von Kindern“. Die Kläger wollen zum Beispiel beweisen, dass die Verantwortlichen von TikTok wussten, dass ihr Design ein hohes Suchtpotenzial hat. In China ist die Nutzung von Online-Diensten zeitlich begrenzt, eine weitere Verschärfung ist geplant, auf maximal 40 Minuten pro Tag für Kinder bis acht Jahre. Absurd auch das: Chinas Politik der totalen digitalen Überwachung kriegt hier eine pädagogische, fürsorgliche Seite.Oder Australien. Dort wurde vor einem halben Jahr Priens Vorschlag als Gesetz verabschiedet, ein Mindestalter von 16 Jahren für die Nutzung sozialer Medien festgelegt. Die Konzerne haben ein Jahr Zeit, Alterskontrollen einzuführen. Es drohen Strafen von bis zu 31 Millionen. „Na geht doch!“, will man rufen, warum nicht gleich so.Zurück zu Seine-Port. In den drei örtlichen Metzgereien wird man nicht bedient, wenn man mit Handy ansteht, schief angeschaut, wenn man auf der Straße beim Telefonieren erwischt wird. Was an den Kulturwissenschaftler Thomas Macho erinnert. In einem Interview mit dem Freitag prognostizierte er, es würde den Fleischessern irgendwann so gehen wie den Rauchern. Lange war Rauchen kulturell toleriert, sogar erwünscht, aber heutzutage müsse man sich entschuldigen, wenn man fürs Rauchen vor die Tür trete. Man würde belächelt als jemand, der es noch nicht geschafft hat, vom Rauchen loszukommen. So sollte es dem Handy ergehen.