Stehen wir kurz vor der globalen rechten Machtübernahme? Oder dreht sich der Wind auch mal wieder? Über mögliche linke Perspektiven angesichts unseres zunehmend dystopischen Alltags


Nach dem Tod von George Floyd fordern Demonstranten „No Trump, no KKK, no racist USA“

Foto: Odd Andersen/AFP/Getty Images


Wer braucht heute noch Dystopien? Die Realität übertrifft jede finstere Science-Fiction. Seit Donald Trump vor wenigen Monaten zum zweiten Mal ins Amt kam, erleben wir täglich Schlimmeres: unrechtmäßige Internierungen von Migranten, brutale Razzien der Einwanderungspolizei und brachiale Aufstandsbekämpfung, sobald sich irgendwo Widerstand regt oder friedlich demonstriert wird. Nahezu harmlos wirkt da das Katastrophenszenario der unlängst bei Netflix angelaufenen Serie Zero Day über einen rechten Putsch in den USA gegen das, was die Faschisten unter Trump veranstalten.

Auch der Booker-Prize-Gewinner 2023, Das Lied des Propheten von Paul Lynch, griff diesen Zeiten schon vor: Nach einem parlamentarischen Rechtsruck werden in Irland Internierungslager ge

r-Prize-Gewinner 2023, Das Lied des Propheten von Paul Lynch, griff diesen Zeiten schon vor: Nach einem parlamentarischen Rechtsruck werden in Irland Internierungslager gebaut, politische Gegner ermordet und das Ende der Demokratie endet in einem Bürgerkrieg. Den amerikanischen Bürgerkrieg nach einer Abspaltung Kaliforniens hatte auch schon Alex Garland im Kinofilm Civil War inszeniert. Am Ende richtet eine schwarze kalifornische Soldatin den rechten Third-Term-Präsidenten im Oval Office hin. Doch droht wirklich die dauerhafte globale rechte Machtübernahme von Washington über Paris bis Warschau? Oder steckt in der verfahrenen Situation womöglich sogar eine Chance, linke Politik, die so im Abseits zu stehen scheint wie nie, plötzlich wieder nach oben zu bringen? Sind die rechten Erfolge nicht auch ein Stück weit Reaktionen auf die vielen transnationalen Protestbewegungen der vergangenen 15 Jahre im Zuge der Finanzkrise, über diverse Aufstände in der Türkei (2013), in Chile (2019) und der Kampagne der Black-Lives-Matter-Bewegung, um nur einige zu nennen. Für emanzipatorische Ziele und gegen die Rassisten und Neofaschisten gingen im letzten Jahrzehnt mehr Menschen weltweit auf die Straße als zuvor. Denn wenn der Klimawandel in manchen Regionen das Wasser knapp werden lässt, Tech-Milliardäre mitregieren, Mieten noch unbezahlbarer werden, man die Sozialarbeiter in den Schulen feuert, weil es angeblich kein Geld mehr gibt, und rassistische Polizeigewalt immer mehr zum Alltag wird – Themen für linke und progressive Politik gibt es genug und immer mehr. Zohran Mamdanis linksradikale Agenda in New York: Kostenloser Nahverkehr und günstige SupermärkteDoch es gibt Hoffnung. Einige linke Parteien und Politiker befinden sich gerade im regelrechten Höhenflug. In New York könnte der 33-jährige Zohran Mamdani (Sohn der preisgekrönten Regisseurin Mira Nair, und unter anderem Regisseurin von so wundervollen Filmen wie Salaam Bombay) nächster Bürgermeister werden. Der tritt an mit einer geradezu linksradikalen Agenda für kostenlosen Nahverkehr, günstige Supermärkte und einer Mietpreisbremse.Seine Kandidatur gilt als Gradmesser für die Ausrichtung der Demokraten bei den kommenden Präsidentschaftswahlen. Hat die zuletzt in den US-Medien gehypte, aus der Bronx stammende, prominente Figur des linken Flügels der Demokraten, Alexandria Ocasio-Cortez, doch Chancen als Kandidatin für die kommende Präsidentschaftswahl gegen Trump oder seinen derzeitigen Vize, J.D. Vance anzutreten. Mit Bernie Sanders mobilisiert sie auf der „Fighting Oligarchy Tour“ seit Februar Zehntausende im ganzen Land, die auf die Straße gehen. Die Kommunismus-Keule Marke „Red Scare“, mit der gerade Demokraten sonst vor zu radikalen Politikansätzen warnen und die man keinesfalls in die Hand des politischen Gegners geben will, spielt hier keine Rolle. Die holte Trump schon gegen Kamala Harris raus, die er fortwährend als Marxistin beschimpfte. Diese Waffe ist stumpf und wird gegen jede*n eingesetzt, der/die Trump und J.D. Vance die Stirn bietet. Könnte da jener Linksruck Realität werden, der sich schon mal ganz vorsichtig zeigte, als vor Jahr und Tag die Democratic Socialists of America massenhaft Zulauf erlebten und manche glaubten, jetzt wird die Demokratische Partei umgebaut? Als „links sein“ in Amerika plötzlich für viele „in“ wurde und etwa mit Jacobin ein sozialistisches Magazin auf dem Markt Bildungsbürgern klassenkämpferische Positionen erklärte. Kurz nach Trumps Wahl gingen überall in den USA junge Menschen auf die Straße und skandierten „No Trump, No KKK, No fascist USA“. Mit der Black-Lives-Matter-Bewegung gingen so viele Menschen für eine antirassistische Agenda gegen die Neofaschisten auf die Straße wie nie zuvor. Soziologen verglichen diese Zeit mit der 68er-Bewegung. Zeitgleich hauten HBO, Netflix und Amazon eine Antifa-Serie nach der anderen raus. Und im Anti-Trump-Master-Narrativ Watchmen (2019) wurde eine kämpferische Utopie erzählt, in der Robert Redford Präsident der USA war. Gerade schien in Amerika doch noch eine linke Aufbruchsstimmung zu herrschen, die unsereins hier richtig neidisch machte. Das hatte natürlich mit Trumps erster Amtszeit zu tun und kommt auch genau aus diesem Grund jetzt wieder. Machen die Rechten mit ihrer aggressiv-autoritären Ideologie ein Stück weit auch die Tür auf für linke Gegenbewegungen? Dass auch außerhalb der Parlamente Druck aufgebaut werden kann, zeigten die Demonstrationen der vergangenen Monate. Etwa als Union und AfD gemeinsam im Bundestag abstimmten.In den Dystopien schlummert utopisches PotenzialFür die Niederlande, wo gerade erst Grüne und Sozialdemokraten der höheren Schlagkraft wegen fusionierten, wird bei den anstehenden Wahlen, nachdem Geert Wilders das Handtuch geworfen und die rechte Regierung beerdigt ist, ein Linksruck erwartet. In Brasilien folgte auf Jair Bolsonaro auch eine linke Regierung. US-Präsident Trump und sein Kabinett produzieren eine Panne nach der anderen – genauso wie das auch im Management zahlreicher Wirtschaftsunternehmen üblich ist. Vor allem, weil die dazu gehörenden Expertisen von Leuten kommen, die in erster Linie wegen ihrer unbedingten Loyalität zu fragwürdigen Führungsfiguren und ideologischer Standhaftigkeit ausgewählt werden.In Frankreich sieht es für die Rechten, nachdem Marine Le Pen womöglich aus dem Rennen genommen wurde, auch nicht mehr so gut aus. Ob Jordan Bardella als Nachfolger aufgebaut werden kann, bleibt abzuwarten. Könnte dann der nächste Mann, der in den Élysée-Palast einzieht, gar der Ex-Trotzkist Jean-Luc Mélenchon heißen? Und was passiert eigentlich hierzulande, wenn die Union fortwährend mit „Fähnchen“ in Richtung AfD Signale aussendet, wie Jens Spahn, der sich einen anderen Umgang mit der AfD im Bundestag vorstellen kann oder zuletzt auch Julia Klöckner, die gerade mit dem Verbot der Teilnahme des Regenbogen-Netzwerks des Bundestages am Berliner CSD Schlagzeilen macht.Diese vermeintlich wohldosierte Strategie, um Wähler „zurückzugewinnen“, könnte auch hierzulande eine linke und progressive Dynamik entfesseln. Vielleicht käme es dann zum geharnischten Lagerwahlkampf, um eine demokratische Mehrheit jenseits von CDU/CSU und AfD herzustellen. Womöglich im äußerst komplizierten Bündnis von Grünen, SPD, Linken und BSW.Klein und hässlich in der Ecke sitzen? Nein! Die Linke läuft sich gerade warm, um nach dem Verlust in Thüringen wieder eine Landesregierung zu stellen und das Berliner Rote Rathaus im Herbst 2026 zu erobern. Zumindest in der Neuköllner Grundschule meiner Töchter ist die linke Hoffnung in dystopischen Zeiten sehr real: Zur Bundestagswahl durften auch die 5. und 6. Klassen wählen. Das Ergebnis: 77 Prozent Linke, CDU und AfD gingen leer aus. Und in der Hauptstadt wäre das nur der Aufschlag für weitere Regierungs-Ambitionen, frei nach dem Lied von Leonard Cohen: First we take Berlin und dann den ganzen Rest!So bedrohlich wie alles gerade wirkt und es wird nicht besser: Es macht keinen Sinn, sich klein und hässlich in die Ecke zu setzen und das Lied vom bevorstehenden Ende aller emanzipatorischen Politik anzustimmen. Das würde den Rechten so passen! „Kein Fußbreit dem Faschismus“ heißt eben auch: Innere Dämonen und Ängste zu zähmen und das Gesicht stur in den Wind zu strecken! Denn noch ist nichts entschieden. Ein paar Schlachten sind verloren, aber das große Ganze noch lange nicht. In den Dystopien schlummert einfach mehr utopisches Potenzial, als manche*r denkt. Die globale linke Mobilisierung mit Zohran Mamdanis Wahlkampf, jeder Menge Demonstrationen und dem alltäglichen Kampf gegen Rassisten und Neofaschisten – er geht weiter.

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Von Veritatis

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