Vokabelkritik ist zu Kriegszeiten das Gebot der Stunde. Ich veröffentliche ab jetzt in unregelmäßigen Abständen eine Sammlung teils lügenhafter Wörter oder Formulierungen, deren Sinn und Funktion es ist, unsere Gesellschaft möglichst geräuschlos in Richtung „Kriegstüchtigkeit“ umzukrempeln. – Die ersten drei Folgen erschienen am 29. Mai, am 2. Juni und am 22. Juni. Von Leo Ensel.

Figuren
„Es gibt ja bereits Bilder aus dem Iran, die angeblich zeigen, wie die Familienmitglieder der Führungsschicht fliehen. Russland hat gesagt, dass es bereit ist, wichtige Figuren des Iran bei sich aufzunehmen. Die Israelis haben schon gegen die Hisbollah im September letzten Jahres einen großen Teil der Führungsebene ausgeschaltet.“ So der Journalist Richard Chaim Schneider am 16. Juni in einem Deutschlandfunk-Interview. – „Figuren“. Die „ausgeschaltet“ werden… (vgl. „Machthaber“, „Regime“)

letzter Friedenssommer
Den postulierte am 22. März diesen Jahres, ausgerechnet in der BILD-Zeitung, der – früher durchaus auch mit vernünftigen Büchern an die Öffentlichkeit getretene – Militärhistoriker Sönke Neitzel. Womit er den von Kriegstüchtigkeitsminister Pistorius proklamierten russischen Angriff gleich mal um ein halbes Jahrzehnt nach vorne verlegte. Der medienpräsente Militärhistoriker musste sich dazu allerdings von General a. D. Wolfgang Richter vorhalten lassen, seine Aussagen entbehrten einer nüchternen Analyse der militärischen Fähigkeiten und politischen Absichten Moskaus. Beides sei – wie auch die US-Geheimdienste unisono bestätigten – hier nicht gegeben. Neitzels völlig überzogene Aussagen, so Richter, seien unverantwortlich, weil sie die Bevölkerung verunsichern und Kriegspanik schüren würden. (Was sie ja vermutlich auch sollen …) (vgl. „2030“)

lodernder Glutkern
„Das Sicherheitsbündnis ist der Glutkern der transatlantischen Partnerschaft“, lautet der Eröffnungssatz des Kapitels „Nato: Mehr Verantwortung wagen“ im Strategiepapier „Transatlantisch? Traut Euch!“ vom Januar 2021. In klarer deutscher Prosa hieß das bereits damals so: „Die europäischen Nato-Staaten – mit Deutschland an erster Stelle – erhöhen ihre Fähigkeiten zur konventionellen Verteidigung erheblich. Dadurch entlasten sie die USA in Europa und erleichtern es ihnen, im Indo-Pazifik die Interessen der liberalen Demokratien zu schützen. Im Gegenzug bekräftigen die USA ihr Bekenntnis zur Verteidigung des Bündnisgebietes. Sie untermauern dies durch ihre dauerhafte militärische Präsenz in Europa sowie durch ihre nukleare Schutzzusage, die Deutschland durch die Nukleare Teilhabe unterstützen sollte, solange es Nuklearwaffenstaaten außerhalb der Nato gibt.“ Denn: „Diese Nato ist unsere Nato. Und Deutschland hat es mehr als jede andere Nation in der Hand, durch mehr Initiative und verstärkte Beiträge die Allianz so zu formen, dass sie als Glutkern des Westens weiter lodert.“ – Weiter lodert … leidenschaftlicher und poetischer ist das nordatlantische Militärbündnis niemals besungen worden! (vgl. „Neue Übereinkunft“)

Lumpen-Pazifismus
Originäre Erfindung des (laut Wikipedia) Publizisten, Autoren, Journalisten, Hörbuchsprechers, Podcasters und Internetunternehmers Sascha Lobo, dem – wozu man ihm nur gratulieren kann – auch im zarten Alter von 50 Jahren der Kamm noch recht ordentlich schwillt. Die originelle Wortkreation verdankt sich in erster Linie dem berühmten ‚Dominoprinzip‘ der deutschen Sprache, das x-beliebige Wortkombinationen, im Zweifelsfalle auch ohne Rücksicht auf jegliche Semantik, ermöglicht. – Liebe Lumpen-Pazifisten, sollen wir nun, wie im Kindergarten, diesen von Herzen kommenden inhaltsarmen Rülpser mit der ebenso geistreichen analogen Retourkutsche „Lumpen-Bellizismus“ kontern? Nein, wir wollen ja nicht die Vierjährigen beleidigen …

Neue Übereinkunft
Für eine Neue Übereinkunft zwischen Deutschland und Amerika“ lautet der Untertitel eines kokett „Transatlantisch? Traut Euch“ überschriebenen, 60.000 Zeichen langen Strategiepapiers, unterzeichnet von Atlantik-Brücke, Aspen Institute, German Marshall Fund und Brookings Institution, European Council on Foreign Relations, der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, der Hans-Seidel-Stiftung, dem Kieler Institut für Sicherheitspolitik sowie der Münchner Sicherheitskonferenz und im Januar 2021 punktgenau zur Amtseinführung Joe Bidens der Öffentlichkeit stolz präsentiert von der damaligen Co-Vorständin der Heinrich-Böll-Stiftung, der Theologin Ellen Ueberschär, in deren heiligen Hallen zu Berlin. Nach der erratischen (ersten) Trump-Ära sollte endlich wieder ein transatlantischer ‚Ruck‘ in Gestalt einer „Neuen Übereinkunft“ durch Deutschland und die gesamte westliche Welt gehen. Und zwar, notabene: mit großem „N“! (Um diese Formel möglichst im Senkrechtstart als Begriff im gesellschaftlichen Diskurs solide zu verankern, wurde der Anfangsbuchstabe des ersten Wortes gleich durchgängig großgeschrieben.)

Opferbereitschaft
Mehr Opferbereitschaft forderte am 11. März diesen Jahres der Althistoriker Egon Flaig in seinem Gastbeitrag „Kann die Demokratie ohne Opferbereitschaft überleben?“ in der FAZ. Und legte in der 3sat-Sendung „Kulturzeit“ vom 2. Juni noch einen drauf: Deutsche Schüler und (selbstverständlich) Schülerinnen sollten – wie ihre Gleichaltrigen in Polen – in den oberen Klassen der Gymnasien Schießübungen absolvieren. Im Unterricht. Und ihre Eltern müssten bereit sein, ihre Kinder zu geben. – Dazu wurde in einem Song von „Lumpen-Pazifisten“ bereits vor Jahren alles Notwendige gesagt.

Opfermut
Steigerung der „Opferbereitschaft“. Doch am Opfermut bei Eltern und ihren Kindern fehle es, klagt der brave Althistoriker Flaig. Schuld daran sei ein jahrzehntelanger Pazifismus. Flaig postuliert eine „kulturelle Umprogrammierung einer weitgehend postheroischen Gesellschaft“. Da hilft nur noch der Klassiker Max Liebermanns: „Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte!“

Pazifist
Gerne auch „Lumpen-Pazifist“. Als solcher galt bis zu „Trump 2.0“ jeder, der im Ukrainekrieg auch nur Diplomatie und ein möglichst schnelles Ende der Kampfhandlungen einforderte. (vgl. „Realitätsverweigerung“)

postheroisch
„Zivile demokratische Gesellschaften tendieren dazu, sich von heroischen Werten wie ‚Ehre‘ oder ‚Opferbereitschaft‘ zu distanzieren, weil das Kriegerische nicht mehr im Zentrum des Selbstverständnisses steht.“ So beschrieb der Beitrag „Wenn Helden nicht mehr nötig sind“ im Oktober 2014 den Begriff „postheroisch“ noch neutral in Deutschlandfunk Kultur. Fünfeinhalb Jahre später fragte, ebenfalls im Deutschlandfunk, ein Feature bereits „Gibt es ein Comeback von Helden?“ und zitierte – man weiß nicht, ob kritisch oder affirmativ – den diesen Begriff besonders gerne verwendenden Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Charakteristikum postheroischer Gesellschaften sei, „der menschlichen Opfer- und Leidensbereitschaft eine Absage zu erteilen“. Heute kommt die „postheroische Gesellschaft“ schwer unter Beschuss: „Opferbereitschaft“, nein: „Opfermut“ werden im öffentlich-rechtlichen Fernsehen eingeklagt, weshalb eine „kulturelle Umprogrammierung“ dringend geboten sei. – Schlagen wir stattdessen lieber nach bei Brecht: „Unglücklich das Land, das keine Helden hat. … Nein, unglücklich das Land, das Helden nötig hat!“

Putin
Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass – und zwar nicht erst seit „Putins Angriffskrieg“ – in zahllosen Überschriften und Meldungen unserer Medien das Wort „Putin“ verwendet wird, wo die Worte „Russland“ oder „die russische Regierung“ inhaltlich erheblich besser passen würden? So waren sowohl die Olympischen Winterspiele in Sotschi 2014 als auch die Fußballweltmeisterschaft 2018 in Russland natürlich „Putins Spiele“. Letztere sogar „Putins Meisterwerk“. Das Jahr 2017 wurde von der ZEIT zum „Super-Putin-Jahr“ gekürt, eine „Generation Putin“ ausgerufen, Ex-Bundeskanzler Schröder als „Putins Laufbursche“ apostrophiert, der ehemalige Leiter des deutschen Koordinierungsausschusses des Petersburger Dialogs, Ronald Pofalla, als „Lobbyist in Putins Diensten“ und russische Hacker als „Putins Bären“. „Sputnik V“ war nicht nur „Putins Impfstoff“, sondern bisweilen sogar „Putins Giftbrühe“. „Putins Kriegskasse“ muss durch Sanktionen ausgetrocknet werden. Und durchlebt Russland gegenwärtig eine Kartoffelkrise, so heißt es: „Putin fehlen Kartoffeln“. (Als ob dieser deswegen nun auf Schmalkost gesetzt würde.) Die Liste ließe sich ad infinitum verlängern. Bisweilen scheint es, als würde der größte Flächenstaat der Welt nur von einem einzigen Menschen, nämlich dem „zweiten Hitler“ bewohnt. Weshalb gegen diesen Staat auch alles erlaubt ist. Aber es gibt auch noch ganz banale Gründe. Vor Jahren plauderte der Journalist Maxim Kireev etwas verdruckst-gewunden aus dem Nähkästchen: „Die deutschen Redaktionen orientieren sich sicher auch an den Interessen der Leser, denn Putin ist eine polarisierende Persönlichkeit und er bringt online sehr viele Klicks.“ Na, wenigstens zu etwas ist der „russische Machthaber“ gut!

Putin-Versteher
Noch einmal. Auch wenn es oberlehrerhaft-penetrant klingen mag: Das korrekte – und wunderschöne – Substantiv für das Verb „verstehen“ lautet immer noch: „Verständnis“. Und nicht anders! – Das Wort „Versteher“, so viel ‚Germanistik für Dummies‘ muss sein, gibt es erst seit circa 25 Jahren und war von Anfang an abwertend konstruiert. Es begann mit dem berühmten „Frauenversteher“, womit jener bemitleidenswerte Jammerlappen gemeint war, der Nähe zu Frauen (in welcher Form auch immer) nur herstellen kann, indem er sich – gefragt oder ungefragt – in die Damen noch besser einfühlt, als die das selbst vermögen. Kurz: ein Mann mit dem Sexappeal eines „Warmduschers“ – auch so eine Abqualifizierungsvokabel aus jenen Tagen. Einmal in die Welt gesetzt, war es dann, namentlich in Krisenzeiten, zum „Russland-“, gar „Putinversteher“ nicht mehr weit. Ein Wort, ohne das heute niemand mehr auskommt, wenn es darum geht, Menschen, die sich trotz allem – oder gerade jetzt! – um ein besseres Verhältnis zu Russland bemühen, prompt der Lächerlichkeit preiszugeben. Ohne Auseinandersetzung mit deren Argumenten, versteht sich. Und eine Vokabel, die umgekehrt die so apostrophierten Personen dazu zwingt, zum gefühlt hundertundfünfzigsten Mal klarzustellen, dass ‚Verstehen‘ nicht ‚Rechtfertigen‘ bedeutet, sondern schlicht den Versuch, sich einmal in die Schuhe des anderen zu stellen und die Welt probeweise aus dessen Perspektive wahrzunehmen – eine für jegliches menschliches Zusammenleben unabdingbare ‚conditio sine qua non‘.

Realitätsverweigerung
Betreiben, wie jüngst die Unterzeichner des SPD-Manifests, alle, die sich dem aktuellen Kriegskurs – sprich: der bedingungslosen, im Worst Case suizidalen Unterstützung der Ukraine („as long as it takes“), der irrwitzigen, billionenschweren Aufrüstung („whatever it takes“) und der totalen Subordination unserer Gesellschaft unter die Logik des Militärs („Operationsplan Deutschland“) – verweigern oder zumindest vorsichtig Bedenken anmelden. Welche Aspekte der Realität diese unliebsamen Opponenten angeblich verweigern und ob diese relevant oder etwa selbst Resultat einer verdrehten oder manipulierten Realitätswahrnehmung sind, entscheiden selbstverständlich diejenigen, die diesen Vorwurf lauthals erheben. Also die den Kriegskurs betreibenden Politiker und die sie anfeuernden Leitmedien.

rechtsoffen
Ist heute jede Veranstaltung, bei der auch noch ein paar uneingeladene AfDler mitlatschen. Also jede Friedensdemo. Merke: Für den Frieden, will sagen: für ein schnellstmögliches Ende der Kampfhandlungen im Ukrainekrieg, gegen die atemberaubende Aufrüstung, die flächendeckende Militarisierung der Gesellschaft und die wachsende Kriegsgefahr einzutreten, gilt heute als ‚rechts‘! Wer zu hundert Prozent sicher gehen will, sollte daher nur noch an Demonstrationen „Gegen Rechts“ teilnehmen. Aber wer weiß …

(wird fortgesetzt)

Mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge.

Titelbild: arvitalyaart/shutterstock.com



Source link

Von Veritatis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert