Präzise wie ein Laser und Wirkung fast wie ein Atomsprengkopf – die Unterscheidung zwischen konventionell und nuklear ist verschwommen. Die im Westen gefürchtete russische Wunderwaffe Oreschnik geht in Serienproduktion. Eine Analyse.
In der Nacht zum 21. November wurde das Yuzhmash-Werk in Dnipro in der Ukraine mit einer neuen Hyperschallrakete angegriffen, was Augenzeugen als besonders intensives Licht- und Erschütterungserlebnis beschrieben. Es war der erste Einsatz einer Waffe, die möglicherweise einen Wendepunkt in der Entwicklung moderner Waffentechnologie darstellen könnte.
Denn der Angriff vom 21. November 2024 war nur der Anfang. Wie Business Insider berichtet, kündigte der russische Präsident Wladimir Putin am 23. Juni 2025 vor Militärabsolventen die Serienfertigung der Oreschnik-Rakete an. Die Waffe habe sich “unter Kampfbedingungen sehr gut bewährt” und werde nun industriell produziert.
Hyperschall mit Vervielfachung
Nach Angaben von The Eurasian Times verfügt Russland mit Kinzhal, Tsirkon, Avangard und der Oreschnik (“Haselstrauch”) über vier einsatzbereite Hyperschallwaffen. Die USA besitzen dagegen – angeblich – über noch keine einzige funktionsfähige Hyperschallrakete.
Die russischen Streitkräfte griffen das Yuzhmash-Werk in der Nacht zum 21. November 2024 nicht zum ersten Mal an. Es war bereits der siebte Angriff auf die ukrainische Rüstungsfabrik. Doch diesmal war einiges anders.
Die Oreschnik markierte den historisch ersten Einsatz der MIRV-Technologie in einem bewaffneten Konflikt. MIRV steht für “Multiple Independently Targetable Reentry Vehicle” – sechs Hauptgefechtsköpfe, die sich jeweils in sechs weitere Submunitionseinheiten aufteilten und insgesamt 36 Ziele gleichzeitig bekämpfen konnten.
Ob die Gefechtsköpfe auch MARV-Fähigkeiten besitzen, ist umstritten. MARV steht für “Maneuverable Reentry Vehicle”-Gefechtsköpfe, die bis zum Einschlag ihre Flugbahn aktiv verändern können und dadurch extrem schwer abzufangen sind. Die auf Satellitenbildern sichtbaren Einschlagsmuster könnten für MARV sprechen: Die Treffer zeigen eine sehr hohe Genauigkeit.
Das Ziel war sorgfältig gewählt. Yuzhmash gilt seit Jahrzehnten als ein Zentrum der ukrainischen Rüstungsindustrie. Die Fabrik war einst in der Lage, jährlich bis zu 100 Interkontinentalraketen zu produzieren und verfügte über unterirdische Produktionsanlagen, die selbst einem direkten Atomschlag teilweise standhalten sollten.
“Mehr als nur eine Rakete”
Was Augenzeugen in Dnipro erlebten, war kein gewöhnlicher Raketenangriff. Statt Explosionen und Feuersäulen berichteten Anwohner von einem “erdbebenartigen Ereignis“, das Häuser in einem Kilometer Umkreis erschütterte. Der Grund: Die Oreshnik setzte erstmals kinetische Gefechtsköpfe mit Hyperschallgeschwindigkeit ein.
Die 36 Submunitionseinheiten schlugen mit einer Geschwindigkeit von um die Mach 11,4 ein – das entspricht etwa 3.900 Metern pro Sekunde. Die Gefechtsköpfe bestanden vermutlich aus Wolfram oder Wolfram-Legierungen mit einer Masse von etwa 100 Kilogramm.
Wie The Eurasian Times berichtet, erreichen die Gefechtsköpfe beim Aufprall Temperaturen von bis zu 7.000 Grad Celsius und lassen “alles im Einschlagsbereich zu Staub zerfallen”. Anders als Sprengköpfe erzeugen die kinetischen Geschosse unterirdische Schockwellen, die besonders wirksam gegen verbunkerte Strukturen sind.
Satellitenbilder zeigen Einschlagsmuster in nahezu perfekten 90-Grad-Winkeln – ein möglicher Hinweis auf gezielte Attacken gegen unterirdische Tunnel-Infrastrukturen.
Strategische Bedeutung: Die “konventionelle Atomwaffe”
Um die revolutionäre Bedeutung der Oreshnik zu verstehen, lohnt ein Blick auf herkömmliche Militärdoktrin: Nach Studien des US-Thinktanks Rand Corporation sind etwa 30 bis 50 ballistische Raketen nötig, um einen Luftwaffenstützpunkt außer Gefecht zu setzen – zusätzlich weitere 30 bis 50 Marschflugkörper für Hangars und Treibstofflager.
Bis zu drei Oreshnik-Raketen könnten theoretisch eine vergleichbare Wirkung erzielen. Mit jeweils 36 präzise lenkbaren Gefechtsköpfen haben sie Möglichkeiten, gleichzeitig Radaranlagen, Hangars, Startbahnen, Kommandozentralen, Munitionslager und Treibstoffdepots treffen. Was bisher 60 bis 100 konventionelle Raketen erforderte, leisten nun nur bis zu drei Waffen?
Diese Fähigkeit würde die Nato-Militärdoktrin vor fundamentale Probleme stellen. Die westliche Strategie basiert auf der Erlangung absoluter Luftüberlegenheit und setzt funktionsfähige Flugplätze voraus. Während taktische Nuklearwaffen mit wenigen Sprengköpfen einen Luftwaffenstützpunkt vernichten können, ziehen sie massive politische und völkerrechtliche Konsequenzen nach sich.
Die Oreshnik bietet nun eine konventionelle Alternative: Sie kann mit 36 präzisen Treffern ähnliche militärische Ergebnisse erzielen wie ein Nuklearschlag, aber ohne den nuklearen Tabubruch.
Warum die Oreshnik taktische Atomwaffen ersetzen kann
Um zu verstehen, weshalb die Oreshnik als Ersatz für taktische Nuklearwaffen funktioniert, muss man die Wirkungsmechanismen beider Waffensysteme vergleichen.
Eine taktische Nuklearwaffe mit zehn bis 20 Kilotonnen Sprengkraft, was grob der Hiroshima-Bombe entspricht, entfaltet bei einem Luftangriff eine effektive Zerstörungswirkung in einem Radius von knapp einem Kilometer um den Detonationsort.
Zur wirkungsvollen Lahmlegung einer typischen Luftwaffenbasis wären daher zwei bis drei solcher taktischen Sprengköpfe nötig.
Während Nuklearwaffen großflächige Zerstörung verursachen, ermöglicht die Oreschnik in der Einschätzung von Experten eine gezieltere Bekämpfung militärischer Ziele. 36 einzeln steuerbare Gefechtsköpfe können präzise alle kritischen Komponenten eines Ziels ausschalten, ohne die Umgebung zu verwüsten.
Bei einem Luftwaffenstützpunkt könnte die Oreschnik demnach dasselbe militärische Ziel erreichen wie zwei bis drei Nuklearwaffen. Ähnlich verhält es sich etwa bei einem Hafen: Statt einer Nuklearwaffe, die den gesamten Hafen und die umliegende Stadt vernichtet, kann die Oreschnik präzise Kräne, Docks, Treibstoffterminals, Munitionslager, Kommandozentralen und Schiffe einzeln treffen.
Das militärische Ergebnis ist identisch: Der Hafen ist militärisch außer Gefecht gesetzt. Politisch und völkerrechtlich sind die Konsequenzen jedoch völlig unterschiedlich.
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