Schweden: Die Kriminologin Stina Holmberg verteidigt das Sexualstrafrecht ihres Landes. Freitag-Autor Martin Leidenfrost weiß, warum man sich daran ein Beispiel nehmen sollte


Die schwedische Kriminologin Stina Holmberg

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Zum 1. Juli 2018, als Schweden jede Art von Sex ohne klar ausgedrücktes Einverständnis als Vergewaltigung zu werten begann, machten sich manche in Europa über das „Consent Law“ lustig. Besonders die Smartphone-App der iranischstämmigen Anwältin Baharak Vaziri, vermittels derer Sexpartner fortan ihr Einverständnis mit dem Geschlechtsakt dokumentieren konnten, war ein gefundenes Fressen. Andere Länder beschlossen dann ähnliche Gesetze, bekannt ist das spanische „Solo sí es sí“, eine EU-weite Durchsetzung der Maxime „Nur ja heißt ja“ scheiterte im Februar unter anderem an Deutschland. Vom Vorreiter Schweden hört man inzwischen nichts mehr. Im siebten Jahr der Gültigkeit des Gesetzes besuche ic

ich daher Stina Holmberg, eine Dozentin für Kriminalistik.In einer Ecke Stockholms, wo es mit den Retrobauten einer Volkshochschule und einer Olof Palme porträtseligen Parteizentrale nach „Volksheim“ duftet, finde ich den Rat für Verbrechensverhütung, abgekürzt „Brå“. Da diese Behörde mit ihrem Personal auch die Kriminalitätsstatistiken besorgt, ist sie in Schweden berühmt: neuerdings wegen ihrer Pressekonferenzen zu den Kriegen von Migrantenbanden. Stina Holmberg trägt federnde Turnschuhe, beißt herzhaft in einen Apfel, und da sie in ihrer Freizeit deutsche Kirchenlieder singt, kommen wir schnell darauf, dass sie im Deutschen wohl als „Frau Rat“ anzusprechen wäre. Erster Eindruck: Eine deutsche Beamtin wäre in diesem Alter schon pensioniert. Zweiter Eindruck: Ihr Naserümpfen, als ich mir Hafermilch der schwedischen Marke Oatly in den Espresso gieße. Dritter Eindruck: Am Gang griffbereite Fachliteratur auf Schwedisch und Englisch, darunter der Titel Feminist Criminology. Habe ich es mit einer Oldschool-Feministin zu tun?Im Sommer 2019 war Holmberg noch überrascht, dass Verurteilungen wegen Vergewaltigung sprunghaft angestiegen waren – von 190 im Jahr 2017 auf 333 im Jahr 2019. Im Herbst 2024 ist sie erstaunt, dass dies anhält. „Wegen MeToo ging es steil hinauf, seit 2021 ist es aber stabil.“ Gab es 2020 noch 455 Fälle von Strafverfolgung, waren es drei Jahre später 421. Nach wie vor führen „gut 90 Prozent der Anzeigen“ zu keinen in einen Prozess mündende Ermittlungen. „Vieles ist immer noch sehr schwer zu beweisen, oft steht Wort gegen Wort“, so Holmberg.„Jungs“ und „Mädels“Bei einer Umfrage, an der 50 von 238 Verteidigern in Vergewaltigungsprozessen teilnahmen, attestierten 48 Prozent dem Consent Law eine „viel schlechtere Rechtssicherheit“ und 68 Prozent „niedrigere Beweisanforderungen“. Frau Rat zieht aus ihrer Analyse der Rechtssprechung freilich einen anderen Schluss: „Die Richter verlangen viel.“ Jedenfalls sollten Opfer eine Vergewaltigung rasch melden, tunlichst bei ihrer Version des Geschehens bleiben und – auch wenn kein Papier verlangt wird – eine Traumatisierung belegen. Holmbergs Erhebung unter Richtern scheiterte, „weil nur wenige ihre Meinung sagen wollten“. Kopfzerbrechen bereitet ihr das – sonst nur in Norwegen – geltende Neudelikt „oaktsam väldtäkt“ (fahrlässige Vergewaltigung). Es werde selten angewendet, Holmberg empfiehlt es nicht weiter.Wir setzen uns an ihren Schreibtisch, auf dem ihre mit Bleistift geschriebene To-do-List daran erinnert, dass sie Counterparts in Kroatien kontaktieren will. Sie habe mit viel Aufwand Urteile durchforstet, Staatsanwälte angerufen und eine eigene Studie verfasst, um herauszufinden, wie viele „reine Consent Cases“ es eigentlich gibt, das heißt, Vergewaltigungen ohne physische Gewalt oder das Ausnutzen von Betäubung. Dies mache ein Drittel der Fälle wie auch der Anzeigen aus. „Der allgemeine Anstieg ist also klar darauf zurückzuführen.“ Noch 1995 hatten 90 Prozent aller Anzeigen in Schweden mit Gewalt zu tun. „Vergewaltigung ist etwas anderes geworden“, urteilt Holmberg.Sie liest mir aus ihrem Artikel über 18- bis 25-Jährige vor: „Der Anstieg der Anzeigen zeigt, dass Mädels die Unterstützung der Gesellschaft spüren.“ Ich frage nach, ob sie in diesen transkomplexen Zeiten wirklich einfach so „Jungs“ und „Mädels“ hinschreibt. Sie sagt ja. An der Pinnwand hinter ihr sind Fotos der Enkel zu sehen – der Junge ein Fußballer, das Mädchen eine Prinzessin. Die Großmutter meint: „Meine Enkel sollen in der Schule lernen, was die Gesellschaft heute über Sex sagt – dass man dafür ins Gefängnis gehen kann.“Das Consent Law ist in der Konsensgesellschaft Schweden akzeptiert, die Mitte-Rechts-Regierung „wollte feministisch erscheinen“ und erhöhte das Mindeststrafmaß Ende 2022 sogar von zwei auf drei Jahre. Das wirkt bei reinen Consent-Fällen schon etwas drakonisch. „Da waren wir dagegen.“ Die Möglichkeit von Verurteilungen aufgrund falscher Anschuldigungen sieht Holmberg hingegen „nicht als großes Problem“.Inzwischen haben rund zwanzig Länder ähnliche Gesetze beschlossen. „Doch hört man von Frau Vaziris App nichts mehr. Das war eine Karikatur“, so Holmberg. Die vielleicht beste Kennerin des neuen schwedischen Vergewaltigungsrechts meint, dass sich andere Staaten daran ein Beispiel nehmen sollten.Serie Europa TransitRegelmäßig berichtet Martin Leidenfrost über nahe und fernab gelegene Orte in Europa



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Von Veritatis

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