Eine Schar handverlesener DDR-Journalist:innen ist im November 1989 zu Besuch in der „Waldsiedlung“, bis dahin das abgeschottete Wohnquartier der DDR-Führung. Ob dort tatsächlich im Luxus gelebt wird, will das „darbende Volk“ wissen

Nicht nur die Mauer öffnet sich im Herbst 1989, auch das Tor zur „Waldsiedlung“ Wandlitz im Norden Berlins. Gewöhnlich darf die metallbewehrte Pforte nur passieren, wer in diesem abgeschotteten Wohnquartier zuhause ist, vorrangig Mitglieder und Kandidaten des SED-Politbüros. Am 23. November 1989 hält ein Wagen mit einem Fernsehteam des Jugendmagazins „Elf99“ direkt darauf zu. Es gibt keinen Durchbruch, man ist eingeladen, die Bleibe der Privilegierten in Augenschein zu nehmen und der Annahme nachzugehen, ob dort in schwelgerischem Luxus gelebt wird, den das darbende Volk draußen vor dem Tor neidvoll entbehrt.

Für das DDR-Fernsehen ist „Elf99“ erst ab dem 1. September 1989 auf Sendung. Der Auftrag lautet, eine vom Sozialismus

zialismus wegdriftende Jugend zurückzugewinnen, wofür spät, zu spät, aufgeboten wird, was machbar ist: modernste Produktionstechnik, einen eigenen Redaktions- und Studiotrakt auf dem Fernsehgelände Berlin-Adlershof, die besten, möglichst jungen Kader der Anstalt. Je mehr sich die Medienwende durchsetzt, desto unentbehrlicher werden die Macher von „Elf99“. Man ruft sie in Armeeeinheiten und Gefängnisse, um Feuer der Revolution zu löschen, bevor die zu lodern beginnen. Das verschafft Glaubwürdigkeit und bedient den Glauben, notfalls über Wasser gehen und rettende Ufer erklimmen zu können, jenseits einer allgegenwärtigen Vergangenheit.Placeholder image-2Ein erster Vorort-Termin in Wandlitz, den sich „Elf99“ Tage zuvor gönnen wollte, ist gescheitert. Nun jedoch – der Druck im aufgewühlten Land ist enorm – darf eine Schar von DDR-Journalisten einen Blick werfen und sich ein Bild machen. „Öfter mal nach Wandlitz“, nennt „Elf99“-Reporter Jan Carpentier die Exkursion und schildert vor laufender Kamera, was es zu erleben und empfinden gibt auf schneebedeckten, leicht schlüpfrigen Wegen durchs „Bonzenviertel“, das so alt ist, wie die Mauer nicht wurde – 29 Jahre.1960: Die SED-Führung zieht um1956 sitzt in Ostberlin der Schock über die Ungarn-Ereignisse tief, kommunistische Funktionäre wurden an Laternenmasten aufgehängt und mit Bajonett im Rachen zur Schau gestellt. Ein Jahr später reift der Entschluss, die DDR-Führung solle in Wandlitz Quartier nehmen, um besser geschützt zu sein. Am 31. März 1960 fällt der „Umzugsbeschluss“ des Politbüros, der für alle Betroffenen bindend ist. Der Kalte Krieg, die offene Grenze nach Westberlin ließen keine Wahl, so die Begründung.Placeholder image-1Als das „elf99“-Team und andere vorfahren, beschäftigt die „Waldsiedlung“ noch 651 Mitarbeiter. Von der Haushaltshilfe bis zum Personenschützer stehen sie ausnahmslos im Dienst des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Die Versorgung mit Genussmitteln, Südfrüchten und industriellen Konsumgütern für die Enklave im Wald liegt über DDR-Standard. Und das zu „verbraucherfreundlichen Preisen“, was die Gemüter erst recht in Wallung bringt. Nach dem Sturz Erich Honeckers am 18. Oktober beherrscht die DDR eine aufgeheizte, teils hysterische Stimmung des Volkszorns und der Abrechnung, angefacht durch Fälle von Amtsmissbrauch und Korruption bei Spitzenpolitikern wie lokalen Amtsträgern. Verdacht reiht sich an Verdacht. Wendefieber schlägt um in Wendewut. Staatsanwaltschaften, bis dato kaum durch Systemferne aufgefallen, ermitteln und erheben Anklagen, von denen sich viele als unbegründet erweisen. Bis zum 23. November sind 188 Anzeigen bei den Justizbehörden anhängig, sie gelten 66 Personen, die Staatsgelder verschwendet und Gesetze missachtet haben sollen. 300.000 von über zwei Millionen SED-Mitgliedern fühlen sich verraten und verkauft und sagen der Partei: Auf (Nimmer-)Wiedersehen.!—- Parallax text ends here —-!Ein kurzes Innehalten bewirkt der „Fall Johanna Töpfer“. Der Vizevorsitzenden des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) wird – medial orchestriert – vorgeworfen, mit Gewerkschaftsgeldern das feudale Interieur ihres Heimes bei Berlin bezahlt zu haben. Töpfer kann das bestreiten, sooft und soviel sie will – geglaubt wird ihr nicht. Erst recht nicht von Zeitungen und Sendern, die nunmehr Stimme des Volkes sind. Nachdem sich Töpfer im Januar 1990 das Leben genommen hat, ergeben die Ermittlungen – sie bezahlte sämtliche Extras ihres Anwesens selbst, hat also bestenfalls unverdient zu viel verdient.Wenn ein starres System, dem Stabilität alles und Flexibilität wenig bedeutet, ins Rutschen gerät, dann gründlich und unaufhaltsam. Die SED-Führung unter dem Honecker-Nachfolger Egon Krenz driftet binnen Wochen hoffnungslos in eine Defensive, die in akuten Machtverfall mündet, als die Westgrenze geflutet wird.Eine Kasten-Siedlung ohne CharmeIn der „Waldsiedlung“ nimmt an jenem Novembertag die Besichtigung ihren Lauf. Das geschieht mit entwaffnender Gründlichkeit, die des Verwaltungschefs inklusive, der sich „Genosse Schmidt“ nennt und durch „das Objekt“ führt. „Es besteht ein Interesse, dass Gerüchten der Boden entzogen wird, die in vielfältiger Weise existieren.“ Um Auskünfte ist „Genosse Schmidt“ nicht verlegen. Etwa auf die Frage seiner Gäste: „Können Sie uns mit ruhigen Gewissen versichern, dass Sie uns eine ‚Waldsiedlung‘ präsentieren werden, die bis zum letzten rostigen Nagel identisch ist mit der Siedlung, wie sie vor zehn Wochen existiert hat?“ Das „ruhige Gewissen“ schlägt sich nieder in einem „Ja“. Diese Bestimmtheit wechselt ins „Nein“, als um Bescheid über Noch-Bewohner des Areals ersucht wird. Dies verbiete sich aus Sicherheitsgründen, findet Herr Schmidt. Der Tross der Aufklärer zieht an Häusern vorbei, die an Siedlungsbauten der „Neuen Heimat“ aus den 1960er Jahren im Westen erinnern. Kein gutverdienender DDR-Handwerker oder -künstler, und das sind nicht wenige, würde sich solch spröden Charme ohne Scheid und Chic zumuten. Kästen wie diese können schwerlich Villen genannt werden.Placeholder image-3Schließlich geht es ins einstige Domizil des ehemaligen Politbüro-Mitglieds Herbert Häber. „Die schlichte Hütte steht leer“, vermeldet Carpentier. Folglich kann ungestört, observiert, registriert und fotografiert werden, was die „Hütte“ an Inventar so bietet: den Geschirrspüler von Miele (BRD), den Gefrierschank aus dem Kombinat Schwarza (DDR), die Schrankwand aus dem Möbelhaus Hellerau (DDR), das Fernsehgerät von Telefunken (BRD). Woher kommen die Sanitär-Armaturen, der Duschschlauch, der verchromte Schwenkhahn am Waschbecken? Wer noch kürzlich festhielt, wie Erich Honecker Botschafter zur Übergabe ihres Akkreditierungsschreibens empfing, hat auf Detektiv umgeschult und geht auf die Knie, um Firmenschilder abzulichten. Unter die Häber-Wanne kriechen kann man freilich nicht, sie ist eingefliest. Berichterstatter Carpentier hat inzwischen kalte Füße, was nicht nur am Schnee im Wandlitzer Wald liegt. „Ich glaube, ich kann für unser Team sprechen, wenn ich sage, wir fühlen uns immer mehr wie Spanner, wie Voyeure, in diesem Geisterhaus, das zur Besichtigung freigegeben wurde.“Verblendete Vergleiche zum antifaschistischen WiderstandUnd dann kommt es zu einer sonderbaren Begegnung, mit der nicht zu rechnen war. Ex-Politbüro-Mitglied Kurt Hager, bis vor vier Wochen noch oberster Kulturwart der DDR, und seine Frau tauchen als Spaziergänger auf. „Sie sind die ersten Bewohner der ‚Waldsiedlung‘, die man hier trifft“, geht „Elf99“ auf das Rentnerehepaar zu. „Sind Sie all die Jahre überzeugt davon gewesen, hier draußen wohnen zu müssen, weg von den Leuten, die Sie ja auch geführt haben?“ – „Natürlich waren wir nicht davon überzeugt, hier wohnen zu müssen, aber wir haben uns den Beschlüssen gebeugt.“ – „Ihr Sohn hat uns einen Brief geschrieben, in dem er darum gebeten hat, hier nicht den Rasen umzukehren“, wirbt der Reporter um Verständnis für seine heikle Mission.Placeholder image-4Was folgt, offenbart das Einschüchternde, zuweilen Erstickende, häufig Totschlagende der DDR-Debattenkultur: Kurt Hager vergleicht Wandlitz mit einem „Internierungslager“. Die habe er als Kommunist und Emigrant nach 1933 zur Genüge durchlaufen. „Das erste war das KZ Heuberg 1933 … 1939 war ich in zwei französischen Lagern, dann in zwei englischen in Liverpool und auf der Isle of Man.“ Der Rückgriff auf das antifaschistische Vermächtnis war stets zur Hand, um all jene ins moralische Abseits zu stellen, die weit vor 1989 diesen Nimbus der Unangreifbarkeit nicht mehr gelten ließen. Weder politische Willkür noch die Realitätsflucht des Politbüros vor dem inneren Knirschen einer Gesellschaft waren damit zu rechtfertigen. Auch kein Dasein hinter zwei Sperrkreisen wie in der „Waldsiedlung“.Der 77-jährige Hager scheint nicht zu merken, wie verstiegen und verblendet sein Vergleich anmutet, der ihn noch mehr beschädigt, als er das ohnehin schon ist. Die „Elf99“-Kamera beweist Instinkt, setzt sich in Bewegung, sucht Abstand. In knirschendem Schnee und Kies geht unter, was noch gesagt wird. Dass sich Hager, der später seine Aussage bereut und das offen kundtut, hier nicht um Kopf und Kragen redet, ist auch dem sensiblen Umgang mit diesem Moment geschuldet. Unter den Bäumen von Wandlitz hockt ein diesiges Licht, das bald in Dämmerung übergehen wird. Der Besuch rüstet zum Aufbruch.Foto (Aufmacher): Klaus Winkler/dpaFoto (Erich Honeckers Villa 1989): Wolfgang Kumm/dpaScreenshots: Deutscher Fernsehfunk (DFF)/DRA



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Von Veritatis

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