Ein Parteitag des Bündnis Sahra Wagenknecht entscheidet, ob die junge Partei in Thüringen eine Regierung mit CDU und SPD bilden soll. Welche Akzente hat das BSW im Koalitionsvertrag gesetzt? Und wie war die Stimmung der Delegierten?


Katja Wolf und Sahra Wagenknecht bei der BSW-Mitgliederversammlung in Ilmenau

Foto: Sascha Fromm/Funke Foto Services/Imago Images


Katja Wolf fühlt sich dieser Tage wieder an das Lied des sächsischen Liedermachers Gerhard Schöne erinnert. „Mit dem Gesicht zum Volke“, sang Schöne 1988 darin, „nicht mit den Füßen in ’ner Wolke“. Es war ein Hoch auf die Bürgernähe eines nicaraguanischen Politikers. „Eigentlich müssten wir dieses Lied heute rauf und runter spielen“, bemerkt Wolf in ihrer Rede. Anlass: die Mitgliederversammlung des Thüringer Landesverbandes des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) am 7. Dezember.

Für Wolf, die zusammen mit Steffen Schütz den hiesigen Landesverband führt, geht es an diesem Tag um viel. Der Parteitag wird heute über den Koalitionsvertrag abstimmen, den sie in den letzten Wochen mit CDU un

über den Koalitionsvertrag abstimmen, den sie in den letzten Wochen mit CDU und SPD maßgeblich mitverhandelt hat. Wolf hat folglich allen Grund, ihre Bürgernähe unter Beweis zu stellen. Wenn alles gut für sie läuft, bekleidet sie bald in Erfurt ein Ministeramt in einer Brombeer-Koalition. 101 der insgesamt 126 thüringischen BSW-Mitglieder sind am Samstagmorgen in die Festhalle Ilmenau gekommen, um über den ausgehandelten Vertrag abzustimmen. Wie werden sie votieren? Und mit welcher Politik will das BSW, im Falle eines positiven Votums, bald das Leben der Thüringer verbessern?Ralph Suikat: „Die Friedensfrage war unser Lackmustest“Die 15 Abgeordneten, die nach der Landtagswahl am 1. September für das BSW in den Landtag eingezogen sind, wollten sich auf die „Kernthemen des Alltags“ konzentrieren, sagt Wolf: auskömmliche Renten, ein funktionierender Staat, gute Schulen. Und natürlich: Frieden. „Das ist die Frage, die am Ende alles überspannt.“ Diese alles überspannende Frage stand auch im Mittelpunkt einer Auseinandersetzung im November. Parteivorsitzende Sahra Wagenknecht und andere Mitglieder waren mit der Präambel des ursprünglichen Sondierungspapiers nicht einverstanden. Darin hieß es: „CDU und SPD sehen sich in der Tradition von Westbindung und Ostpolitik. Das BSW steht für einen kompromisslosen Friedenskurs.“ Nicht genug, fand Wagenknecht.Auch die im ursprünglichen Papier formulierte Kritik an der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland war Wagenknecht und ihren Mitstreitern zu zaghaft. Besonders deutlich wurden der Bundesschatzmeister Ralph Suikat und die Parlamentarische Geschäftsführerin Jessica Tatti in einem Gastbeitrag auf t-online: „Katja Wolf und Steffen Schütz sind in Thüringen auf dem besten Weg, das BSW zu einer Partei zu machen, von der es nicht noch eine braucht.“ Zwei Drittel der Ostdeutschen seien gegen die US-Raketen auf deutschem Boden. „Ist es so abwegig, dass man als Landesregierung seine Wähler vertritt?“Nach diesen, teils öffentlich ausgetragenen, Konflikten verhandelte der BSW-Landesverband mit CDU und SPD nach – mit Erfolg. Jetzt taucht der Begriff „Frieden“ 28 Mal im 126-Seiten-langen Koalitionsvertrag auf. Auch die Stationierung von US-Raketen wird deutlich schärfer kritisiert. Ein Achtungserfolg für eine so junge Partei. Vor allem, wenn man bedenkt, dass das BSW mit den etablierten Parteien CDU und SPD verhandeln musste, die einen deutlich größeren Apparat im Rücken haben. Allerdings lässt sich schwer leugnen, dass in Erfurt weniger herausgeholt wurde als in Potsdam. Dort ist es dem BSW gelungen, folgenden Satz zur Ukraine in den Koalitionsvertrag zu verhandeln: „Der Krieg wird nicht durch weitere Waffenlieferungen beendet werden können.“ Im Thüringer Pendant heißt es nur, man sei zur Frage der Waffenlieferungen „unterschiedlicher Auffassung“.Trotzdem, die Stimmung in Ilmenau ist gut. Auf einem Tisch im Festsaal steht ein Badge-Maker, mit dem sich die Delegierten selber rote Buttons mit Friedenstaube basteln können. Ralph Suikat betritt die Bühne. „Die Friedensfrage war unser Lackmustest“, sagt der Bundesschatzmeister. „Billige Formelkompromisse“ seien „beinhart“ von den BSW-Verhandlern in Erfurt „abgewehrt“ worden. „Auf jeden Fall“ könne man diesem Vertrag nun zustimmen, so Suikat. Der „Krieg um Frieden“, den der Spiegel noch kürzlich im BSW ausmachte, scheint jedenfalls vorbei zu sein. Wenn es ihn denn jemals in dieser Schärfe gab.Sahra Wagenknecht: „Gut, dass der Kriegshasardeur Merz noch nicht Kanzler ist“Katja Wolf beklagt in Ilmenau, wir lebten in einer „Bismarck’schen Zeit der Militarisierung“. Das BSW hingegen wolle eine starke Stimme gegen eine immer stärkere Kriegslogik sein. „Wir sind nicht nur mit der Geschichte der amerikanischen Rosinenbomber groß geworden“, ruft die in Erfurt Geborene von der Bühne, „sondern auch mit der Verantwortung, die wir Russland gegenüber haben“. Natürlich sei Putin in der Ukraine „der Aggressor“. Die Interessen des östlichen Nachbarn müssten dennoch berücksichtigt werden. Besonders stolz ist Wolf auf einen Passus im Bildungskapitel des Koalitionsvertrags: Die Schule sei ein Ort für „Völkerverständigung und Frieden“ heißt es darin. Und weiter: „Der Unterricht darf keine Werbeplattform für eine berufliche Zukunft bei der Bundeswehr sein.“Um kurz vor elf Uhr betritt Sahra Wagenknecht unter tobendem Applaus die Festhalle. Auch sie spricht sich, nach den Nachjustierungen, nun eindeutig für den Koalitionsvertrag aus. Zwar habe Friedrich Merz (CDU) mit seiner „Ultimatum-Rede“ die Verhandlungen in Erfurt erheblich beeinträchtigt. „Solche Kriegshasardeure wie Merz, ein Glück, dass der noch nicht Bundeskanzler ist!“, ruft Wagenknecht den Delegierten zu. Dafür gibt es viel Applaus. Doch letztlich sei trotz der Merz’schen Störgeräusche ein „guter Kompromiss“ bei den Verhandlungen herausgekommen. Um die Wichtigkeit ihrer Kritik an den US-Mittelstreckenraketen zu untermauern, die ab 2026 in Deutschland stationiert werden sollen, erinnert die 55-Jährige an eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Sommer. In dieser sei der Oberst a.D. Wolfgang Richter zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich bei den Raketen nicht um Verteidigungs-, sondern um Angriffswaffen handele. „Wir werden uns an keiner Regierung beteiligen, die sich nicht kritisch zu dieser Stationierung positioniert“, so Wagenknecht. Es habe zwar immer geheißen, dass die Raketen in Wiesbaden und nicht in Thüringen aufgestellt werden. Aber das lässt die BSW-Chefin nicht gelten. „Na, schönen Dank auch!“ Als ob man in Erfurt weiter am Bürokratieabbau arbeiten könne, wenn die Raketen in Wiesbaden einen Atomkrieg ausgelöst haben. Richter habe analysiert, dass uns die Stationierung „ins Fadenkreuz russischer Atomraketen“ brächte. Wagenknecht ist fest entschlossen, sich dieser Gefahr entgegenzustellen.76 zu 26 Stimmen für den KoalitionsvertragNoch drei andere Punkte aus dem Koalitionsvertrag erwähnt Wagenknecht lobend. Erstens sei die verhandelte „Grundschule ohne Smartphone“ wichtig. Das Primat in Thüringer Grundschulen hätten fortan analoge Lernmittel. Zweitens sei der verhandelte Deutschtest im Vorschulalter relevant. „Da, wo die Ärmeren wohnen, gibt es Schulklassen, wo ein Drittel der Kinder kein Deutsch spricht.“ So sei kein Unterricht möglich. Last but not least: Dass Pipeline-Gas als „Brückentechnologie“ anerkannt wird, sei bedeutend für bezahlbare Energiepreise. Besonders um den letzten Punkt soll bei den Verhandlungen mit CDU und SPD heftig gerungen worden sein.Eine wichtige Forderung des BSW aus dem Wahlkampf sucht man vergebens im Koalitionsvertrag: die Einsetzung eines Corona-Untersuchungsausschusses. Allerdings wurde der entsprechende Antrag bereits Anfang Oktober von allen 15 BSW-Abgeordneten mit Unterstützung von vier CDUlern, darunter Ministerpräsidenten-Anwärter Mario Voigt, eingebracht. Die Sache ist also auf dem Weg. In Sachsen, wo die Sondierungen mit CDU und SPD scheiterten, sei Vergleichbares nicht möglich gewesen. „Da haben sie uns auflaufen lassen“, so Wagenknecht. In Thüringen wurde hingegen sogar ein „Amnestie-Gesetz“ erreicht: offene Bußgeldverfahren aus der Corona-Zeit sollen nicht weiterverfolgt werden. „Das hätte es ohne uns nie gegeben, da können wir auch ein bisschen stolz auf uns sein“, findet Wagenknecht.Nach einer wenig kontroversen Diskussion stimmen in Ilmenau 76 Delegierte für die Annahme des Koalitionsvertrags. 26 sind dagegen, zwei enthalten sich. Wenn jetzt noch ein bis zum 9. Dezember laufendes Mitgliedervotum der SPD positiv ausfällt, kann die Brombeer-Koalition kommen. Die CDU hat bereits auf einem kleinen Parteitag grünes Licht gegeben. Wenn alles glattgeht, wird Mario Voigt am 12. Dezember zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Hoffentlich mit dem Gesicht zum Volke.



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Von Veritatis

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