Apps und Handys machen süchtig und schaffen Isolation. Ein langer Blick auf einen Wandteppich kann helfen
Wie oft blicken Sie noch in den Himmel und nicht auf Ihr Smartphone, wenn Sie draußen sind? Wenn Sie Zug fahren, wie viele Leute interagieren mit ihren Mitmenschen, statt auf ihr Telefon zu starren? Ich will nicht urteilen. Ich bin genauso süchtig nach dem digitalen Dopamin-Kick wie unzählige andere. Aber in letzter Zeit, in der die Welt immer desillusionierter und gespaltener wird, scheint es wichtiger denn je, nach außen statt nach innen zu blicken – und dabei den Blick für die wertvollsten Dinge nicht zu verlieren.
Daran musste ich denken, als ich im Salon 94 in New York den Wandteppich Bed Rot der amerikanischen Künstlerin Qualeasha Wood betrachtete. Die Arbeit zeigt eine in sich zusammengesunkene, erschöpfte Frau mit strahlend weißen Augen,
weißen Augen, die wie von einem Display angeleuchtet wirken. Eingerahmt wird sie von zahlreichen Computerscreenshots mit Slogans, die für das Kulturjahr 2024 stehen („brat summer“ etwa), sich dabei aber irgendwie schon veraltet anfühlen, verloren im Tempo unserer vom Internet geprägten Welt. Die Frau wirkt erschöpft. Ich fühle mich erschöpft, während ich sie ansehe. Ihre Malaise kennen wir alle.In seiner neuen BBC-Radioserie, Appetite for Distraction, untersucht der frühere Tischtennisprofi und heutige Journalist Matthew Syed den Zustand unserer Aufmerksamkeitsspannen. Debatten über dieses Thema werden zwar schon seit Jahrtausenden geführt – im Mittelalter empörten sich Mönche schon über „das Buch“ als Technologie –, aber sie erscheinen akuter denn je. Studien ergaben, dass Menschen im Durchschnitt 40 Sekunden und weniger mit einzelnen Inhalten verbringen, die sie sich auf ihren Bildschirmen ansehen – 80 Prozent weniger als noch im Jahr 2004.Das eigentliche Problem sei dabei heute die unkontrollierte Ausbeutung durch die gigantischen Technologieunternehmen, so Syed. Mit ihren perfekt ausgeklügelten Algorithmen speichern und nutzen sie mehr von unseren Daten als je zuvor, und machen unser immer länger andauerndes Scrollen zu noch mehr Geld. Das fördert Suchtverhalten und verhindert, vor allem bei Kindern, die kognitive und mentale Entwicklung. Langsam, so scheint es, werden wir nicht nur unaufmerksamer, unkreativer und unverbindlicher sondern sind dabei vor allem weniger Mensch.Was nicht heißen soll, dass wir auf moderne digitale Technologien und ihre großartigen Potenziale verzichten sollten: globale Kommunikation, Bildung von Communitys, insbesondere für Subkulturen und Plattformen für (politische) Bewegungen. Oft geht es auch einfach um Freude, die schönen Dinge und Verbreitung von Wissen. Aber wir sollten uns der negativen Aspekte bewusst sein, die in den Designs der Apps tief verankert und programmiert sind, um uns an sie zu fesseln. Woods Wandteppich ist eine beunruhigende Vision dessen, was aus unserer Welt werden könnte – oder bereits geworden ist.Wie Werke wie „Bed Rot“ unsere Aufmerksamkeit zurückerobernEs ist bemerkenswert, dass Bed Rot deutlich länger meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, als mein Handy-Display es normalerweise könnte. Hier wird die Macht der Kunst bestätigt, Betrachter*innen zum Innehalten, Hinschauen und Nachdenken zu bewegen. Es ist viel schwieriger, sich von einem materiellen Objekt abzuwenden – so wie ein Gespräch in Person bedeutungsvoller ist als eines auf einem Bildschirm.Ich glaube sogar, dass Kunst dazu beitragen kann, die schädlichen Effekte des Scrollens auf unseren Smartphones zu kompensieren. Mehr denn je sehnen wir uns nach Kunst, die uns weltverändernde Perspektiven bietet. Kunst, die uns wieder an unsere Menschlichkeit glauben lässt. Die Arbeiten der Landartkünstlerin Nancy Holt zum Beispiel bringen uns die Natur und die Geheimnisse der Atmosphäre über uns wieder näher.Im Großen Becken in Utah befinden sich Holts Sun Tunnels: vier riesige Betonröhren, die hoch genug sind, um hindurchzugehen, und die sich in X-Formation gegenüberstehen. Tagsüber kann man durch die Tunnel die Weite der trockenen Wüstenlandschaft und den Himmel sehen. Wenn die Sonne scheint, fällt das Licht durch die Löcher in den Röhren, die in den Sternbildern Steinbock, Taube, Drache und Perseus arrangiert sind – es ist dann, als würde man auf Sternen laufen. Zweimal im Jahr, zur Sommer- und zur Wintersonnenwende, richtet sich die Sonne genau nach den Tunneln aus und das Licht strömt hindurch.Mit der Erde und dem Kosmos als Werkzeug unterstreicht die 2014 verstorbene Künstlerin die unermessliche Schönheit der Natur, indem sie ein Dispositiv zur Verfügung stellt, mit dem man diese Schönheit erfahren kann. Nancy Holts Werk unterstreicht, dass Land, Meer, Himmel und die menschliche Verbindung dort draußen in der Welt sind und um unsere Aufmerksamkeit wetteifern, jedoch ohne kapitalistische Gewinnorientierung.Oder wie die anglo-irische Schriftstellerin Iris Murdoch in einem Interview einmal sagte: „Die meiste Zeit sehen wir die große, weite, reale Welt gar nicht, weil wir von Obsessionen, Angst, Neid, Missgunst und Furcht geblendet sind. Wir schaffen uns eine kleine persönliche Welt, in der wir eingeschlossen bleiben. Große Kunst ist befreiend. Sie ermöglicht uns, das zu sehen und uns an dem zu erfreuen, was nicht wir selbst sind.“Kunst erinnert uns daran, von der winzigen Welt, die wir uns auf dem schwarzen Spiegel in unserer Hosentasche geschaffen haben, aufzublicken. Sie hilft, unseren Platz im Universum zu verstehen und in die Ferne zu blicken, statt in unser durch die Technik gefiltertes Selbst. Es ist Zeit, unsere Aufmerksamkeit zurückzuerobern und sie den Dingen zu widmen, die wir wirklich verdient haben und die wichtig sind.