Heinz Strunk hat sich mit seinem neuen Roman „Zauberberg 2“ an Thomas Mann versucht. Dabei erweist er sich erneut als Meister einer humorvollen Überzeichnung, die niemals platte Satire wird
Dann wollen wir das mal ohne Aufwand hinter uns bringen, denn ob Menschen ihre Probleme mitteilen oder nicht, ist letztlich egal
Foto: Jen Osborne/Laif
Der Literaturbetrieb liebt Jubiläen. Sie eignen sich nicht nur, um Biografien oder Prachtausgaben herauszugeben, sondern auch zur Vermarktung von Adaptionen aller Art. In diesem Jahr ist Thomas Manns Zauberberg der Jubilar – ein Roman, dessen Modernität gerade überall beschworen wird. An „Frische und Relevanz“, so wirbt etwa eine Ausstellung des Lübecker Buddenbrook-Hauses, habe die Geschichte über den Ingenieur Hans Castorp nichts verloren, dessen dreiwöchiger Besuch in einer Lungenheilanstalt in Davos unversehens zu einem siebenjährigen Aufenthalt wird. Die Themen der Erzählung – „Endlichkeit und Tod, Erotik und Begehren, gesellschaftliches Miteinander und Gewalt“ – seien nach wie vor „erschreckend
chreckend“ aktuell.Eine Variante dieser Aktualität kann man im neuen Roman von Heinz Strunk nachlesen, der mit seinen Erzählungen über männliche Durchschnittstypen und soziale Randfiguren zu einem der beliebtesten deutschen Schriftsteller avanciert ist. Mit Zauberberg 2 legt Strunk eine Art Remake der Vorlage unter veränderten Bedingungen vor. Sein Interesse an Mann ist dabei nicht neu. Bereits 2022 hatte er sich mit dem Roman Ein Sommer in Niendorf an die Novelle Tod in Venedig angelehnt – mit der Ironie, dass sich dort alles, was bei Mann Ästhetik, Askese und Schönheit ist, in Elend, Hässlichkeit und Ekel verwandelte.Auch der Zauberberg ist in Strunks Neuauflage auf ein in jeder Hinsicht profanes Niveau heruntergeschraubt worden. Der 36-jährige Protagonist Jonas Heidbrink quartiert sich angesichts einer seit der Pubertät andauernden Depression in ein privates Sanatorium in der Nähe von Stettin ein. Heidbrink ist Programmierer und hat dank einer Erfindung, die „ganz grob“ etwas mit Low Code zu tun hat, finanziell ausgesorgt. Im Sanatorium, auf dessen regenerierende Wirkung er von Beginn an wenig Hoffnung setzt, wird er Teil eines Klinikalltags, der von der Ideologie der Seelenheilung qua Kreativität geprägt ist: Musiktherapie, Bibliotherapie, Theatertherapie, Tanz- und Bewegungstherapie, Fototherapie.Während eine der wichtigsten musikalischen Referenzen im Original-Zauberberg Franz Schuberts Kunstlied Der Lindenbaum ist, wird die „Hitparade der Healing Music“ bei Strunk mit Lagerfeuerliedgut wie Sweet Home Alabama, Blowin’ in the Wind und vor allem von The River is Flowing angeführt. Diese Lieder singen, spielen und trommeln die Patienten auf „Vorschulinstrumenten“ in musiktherapeutischen Sitzungen und bei den sogenannten „Kulturabenden“.Verweisen die philosophischen Gespräche zwischen Manns Protagonisten auf Nietzsche oder Schopenhauer, so werfen die selbst ernannten Klinikphilosophen bei Strunk allenfalls mit „Kalenderweisheiten für die gehobenen Stände“ um sich: „Man kann sich nichts von der Seele reden. Ob Menschen ihre Probleme mitteilen oder für sich behalten, ist letztlich egal.“ Wer bei Strunk kein solches Reflexionsniveau anstrebt, sticht mit vulgären Sprüchen hervor: „Ich lass mich auf dem Bauch beerdigen, damit mich alle für immer am Arsch lecken können.“Zauberberg 2 geht allerdings gerade nicht darin auf, Manns Plot-Gerüst einfach nur auf eine trivialere Gegenwart zu übertragen. Die Vorlage bildet eher den Rahmen für ein Thema, das Strunk seit Langem interessiert und das er bereits in unterschiedlichen Texten bearbeitet hat: die Konfrontation zwischen dem scheinbar Normalen und dem Unnormalen – zwischen jenen, die ihr Leben im Griff haben, die sich glücklich, stabil und erfolgreich wähnen, und den Außenseitern und Verlierern, den Depressiven und Verrückten. Die Grenze zwischen diesen Polen erweist sich in Strunks Texten oftmals als instabil. Das gilt auch für das soziale Biotop der Privatklinik.Es fällt schwer zu sagen, ob es eher die psychischen Probleme der Patienten sind, die deren Heilungsprozess verhindern, oder die Methoden des medizinischen Personals: die Sitzungen bei der Therapeutin Svenja, die sich stundenlang Patientenbiografien erzählen lässt, in der Hoffnung, die Einheiten „ohne großen Aufwand hinter sich zu bringen“; die Gespräche mit dem Psychiater Dr. Reuter, der stets eine „konzentrierte Standardmiene“ aufsetzt, um seinem Gegenüber das Gefühl zu geben, „dass alles, was er äußert, wichtig und bedeutsam ist“; oder die Meditationstexte, die Musiktherapeutin Veronika im „Märchenerzählerinnenton“ zu „fernöstlichem Gesumme“ aufsagt.Hatte schon Thomas Mann ironisch auf die Tradition des Bildungsromans Bezug genommen, indem er die Entwicklungsgeschichte seines Protagonisten in eine Heilanstalt versetzte, so könnte man bei Strunk geradezu von einem Anti-Bildungsroman sprechen. Die Privatklinik ist ein Betrieb, der sich durch die monotone Wiederholung desselben Kreativitäts- und Therapieprogramms selbst aufrechterhält. Hatte Heidbrink zunächst geplant, nur einen Monat zu bleiben, so verlängert sich sein Aufenthalt nach Ablauf dieser Frist auf unbestimmte Zeit. Eine Diagnose liegt ebenso wenig vor wie ein echtes Therapieprogramm oder die Option auf einen „Fortschritt“. Am Ende muss er die Klinik als inzwischen ältester Patient unfreiwillig verlassen. Nachdem die Zahl der Patienten ständig zurückgegangen, das Personal abgebaut worden und das Gebäude verfallen ist, wird die Einrichtung dauerhaft geschlossen. Dass es für Heidbrink kein Leben „danach“ geben kann, ist evident.Wie alle Strunk-Romane lebt auch dieser Text von seinem protokollarischen Verhältnis zur Gegenwart. Das Vokabular der Seelenheilkunde wird ebenso präzise in Dialogform gebracht wie die Alltagsgespräche zwischen Menschen, die als Teilnehmer desselben Klinikalltags notgedrungen kommunizieren müssen und einander mit einer Mischung aus wechselseitiger Verachtung sowie dem Wunsch nach Anerkennung begegnen. Erneut erweist sich Strunk dabei als Meister einer humorvollen Überzeichnung, die niemals platte Satire wird. Die Klinik ist bei ihm kein Sonderraum für Freaks, sondern ein Ort, der den ganz normalen Irrsinn des Sozialen sichtbar macht.Zauberberg 2 Heinz Strunk Rowohlt 2024, 288 S., 25 €